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2. Kapitel

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Am nächsten Tag ging Mutter noch vor dem Gottesdienst zu Ole Henrik ins Krankenhaus. Und wie immer an diesen Sonntagen, an denen Vater Kirchendiener war, ging ich mit ihm eine Stunde früher als sonst in die Kirche.

„So“, sagte Vater.

Der Schnee begann zu schmelzen. Der Winter war eigentlich schon lange vorbei, das Eis auf dem Hockeyfeld weich und unzuverlässig. Der Schnee wurde gröber, sah eher aus wie Zucker. Ruß und Dreck formten gesprenkelte Muster auf dem Weiß. Die Sonntagsstiefel blieben stecken und an mehreren Stellen auf der Straße konnte man schon einen Flecken Asphalt sehen.

Ein Streichholz fiel zu Boden. Das Echo legte sich schwer auf meine Ohren. Das Echo in der Kirche. Ich schaute über die Stuhlreihen. Das Streichholz war ein schlaksiger Neger, der sich seinen dünnen, rabenschwarzen Nacken auf dem Steinfußboden gebrochen hatte. Der Kopf rollte fort. Vater sammelte den knochigen, toten Körper auf.

„So“, sagte er wieder. „So kannst du alle Kerzen mit einem einzigen Streichholz anzünden.“

Sieben Arme hielten jeweils eine Kerze. Zusammengebunden an den Ellbogen. Vater schlug die Bibel in der Mitte auf und ging um den Altar herum.

„Es hat eine Weile gedauert, bis ich das gelernt hatte“, sagte er. Setzte sich in die vorderste Stuhlreihe, der lange Körper sank zu mir herab. Er lehnte sich zurück. „Dazu war ziemlich viel Übung nötig.“

Er streckte mir zwei schrumplige Finger ins Gesicht.

„Siehst du?“, fragte er. Seine Brille rutschte auf der Nase.

Ich schaute seine Finger an. Die Nägel. Die Gelenke. „Narben“, sagte er. Ich wartete darauf, dass seine Brille weiter hinunterrutschte. Sah zwei kleine Spuren an seinen Fingerspitzen.

„Narben erzählen eine ganze Menge“, sagte er ernsthaft. „Alle Narben haben eine Geschichte. Siehst du meine?“

Ich nickte. Er betrachtete seine Finger.

„Das Streichholz war immer heruntergebrannt, bevor ich alle Kerzen angezündet hatte. Aber ich gab nicht auf. Oft schaffte ich es fast. Aber nur fast – das Streichholz brannte nach der sechsten Kerze ab und ich verbrannte mir die Fingerspitzen. Alles eine Frage der Technik. Der Kontrolle. Der richtigen Bewegungen.“

Er zündete in der Luft eine Kerze an mit Gesten wie ein mittelmäßiger Zauberer.

„Ich habe es einmal mit längeren Streichhölzern versucht. Mit einer anderen Sorte. Mit blauen Köpfen. Aber das war nicht erlaubt. Vater, also dein Großvater, hat mich getadelt. Nur die gewöhnlichen Nittedals-Hjelpe-Streichhölzer zählten.“

Er legte eine Streichholzschachtel zwischen uns. Eine ganz gewöhnliche Streichholzschachtel mit einem großen, dunklen Baum vor einem Sonnenuntergang darauf.

„Erst vor kurzer Zeit habe ich die Narben entdeckt. Ich habe mich ja damals oft verbrannt, habe aber nie darüber nachgedacht – bis vor kurzem, als ich mir morgens die Nägel schnitt. Die Narben waren immer da, aber ich habe sie nicht gesehen.“

„Hast du noch mehr Narben?“, fragte ich.

Er überlegte eine Weile.

„Nicht, dass ich wüsste“, antwortete er.

„Waren Großvater und du so wie wir jetzt in der Kirche?“, fragte ich.

„Ja, weißt du, ich hatte ja nur Schwestern, die sind dann mit meiner Mutter, mit Großmutter, gekommen, wenn der Gottesdienst anfing.“

„Und was ist mit Blutsbrüdern?“, fragte ich.

„Was?“, hakte Vater nach, das Gesicht auf eine Wand gerichtet.

„Ach, nichts“, sagte ich.

Vater lächelte und hängte einige Schildchen mit Zahlen untereinander an kleine Nägel in der gemauerten Wand. Große Schildchen für die Liednummern und kleine für die Strophen. Er verteilte die Gesangbücher und zündete die übrigen Kerzen an, lächelte freundlich und ordnete alles.

„Ole Henrik hat reichlich geblutet“, sagte ich leise.

Vater stapelte ein paar Stühle.

„Die sind unglaublich tüchtig in solchen Krankenhäusern“, sagte Vater. Er war zu spät gekommen, hatte all das Blut nicht gesehen. „Dein Bruder ist ein zäher Bursche. Er schafft es immer.“

Vater blieb stehen und schaute mich durch die dicken Brillengläser an.

„Das muss ziemlich wehgetan haben“, sagte ich und dachte an den glänzenden Blick, den Ole Henrik mir zugeworfen hatte. Ich sah den hölzernen Jesus an ein Kreuz genagelt über dem Altar hängen. Die Arme zur Seite ausgestreckt. Blut an den Händen. Die Dornenkrone wie ein gezacktes Stirnband um den Kopf. Schwarze Haare im Gesicht.

„Ein Unglück kann jedem zustoßen“, sagte Vater.

Ich hielt mich an den geflochtenen Kirchenstühlen fest. Die Stühle knarrten, wenn man sich bewegte. Langsam kamen die Leute herein. Mutter schlich sich zu mir heran und erzählte, dass Ole Henrik noch erschöpft, aber in guter Verfassung sei. Sie trug diesen riesigen Schal mit großen, grünen Blumen. Setzte sich weit hinten hin. Alles knarrte. Das Altersheim war geleert worden und die Kirche raffte das Leben an sich. Wir, die zur christlichen Sonntagsschule gehen sollten, wippten die Minuten, die wir beim Gottesdienst dabei waren, auf den Stühlen der ersten Reihe. Bereit in den Keller hinunterzustiefeln, wenn die Pfarrersfrau das Signal gab. Ich fühlte einen Ast auf der Schulter. Die spröde Hand des Alten in der Stuhlreihe hinter mir hatte sich aus dem Mantel geschoben und schlug auf meiner Schulter Wurzeln. Ein Hörapparat baumelte an seinem Ohr. Wie ein riesiger, batteriebetriebener Ohrring.

„Du wirst mal so groß wie dein Vater, mein Junge“, platzte es aus seinem Mund. Zwei andere Alte in der zweiten Reihe schliefen. „Ich habe erst nach der Konfirmation angefangen zu wachsen.“

Pfarrer Arne hieß uns willkommen. Der Kirchengesang wälzte sich mit zwei Tonnen Echo unter den Stühlen entlang. Ein Echo, das einen brechenden dünnen Negerhals, das herunterfallende Notenheft des Organisten und die leisen Worte ins Ohr des Nebenmannes auffing. Bevor die Predigt anfing, liefen wir an Frau Arnes Rockzipfel unter dem Schild „Wir gehen in die Sonntagsschule“ hinaus.

Im Keller zeichneten wir Brot und Fisch, Kain und Abel. Kain schlug Abel tot, Esau band sich Fell um die Arme, Jesus beruhigte den Sturm und ich ging in die Fünfte und sang wohl die letzte Strophe. Wir blätterten in den Heften, schielten ein bisschen zum Nachbarn und schaukelten eine halbe Stunde lang mit den Beinen. Die Sonntagsschulkarten wurden ausgeteilt. In diesem Jahr zeigten sie einen Baum, der mit Äpfeln gefüllt werden sollte, im letzten Jahr war es ein Netz gewesen, das mit Fischen gefüllt werden musste. Frau Arne klebte kleine Äpfel in unsere Bäume. Ein Apfel für jedes Erscheinen. Bei jedem fünften Apfel durften wir uns ein Kärtchen aussuchen. Ein Kärtchen mit einem Bild von Jesus mit Ring über dem Kopf, Sternen in den Augen und Lämmern im Arm, von Jesus beim Mittagessen mit den Jüngern oder von brennenden Johannisbeersträuchern. Es gab schöne Jesusse in bunten Farben. Sie sahen fast ein bisschen weibisch aus. Ich suchte mir an diesem Sonntag einen Jesus aus, der mit seinem Stab an eine Tür klopfte. Im Hintergrund schneite es dort in Israel – dachte ich, aber Frau Arne war ganz sicher, dass es keine Schneeflocken, sondern Sterne waren.

Wir warteten auf den absoluten Höhepunkt der Sonntagsschule. Wir warteten auf den Abschluss und „Wag zu widerstehn wie Daniel“. Wir sangen uns heiser über Daniel, den mutigen Daniel in der Löwengrube. Daniel war der Mutigste. Zusammen mit seinen Männern. Seinen Brüdern.

Stehe ein für ein heiliges Ziel,

zu Christus dich bekenne!

Steh in der Reihe fest wie Stahl

Und kämpfe wie Daniels Männer.

Wag zu widerstehn wie Daniel,

Hilfe dir vom Himmel kommt,

Setz dich ein für ein heilig Werk,

Sprich drüber, wie sich’s frommt.

Dann war es vorbei und wir taumelten in den Schnee hinaus. Sonntagvormittag. Ein bleischwerer Himmel platzte hinter den Hochhäusern auf. Wir waren durch den Behindertenausgang hinten aus der Kirche gekommen. Und das Unglaubliche geschah. Eine kleine Schneebö war vorbeigeweht, während wir unten in der Sonntagsschule saßen, und die allerletzte Schneeflocke landete nun sanft auf meinem Fausthandschuh, den ich ihr entgegenstreckte.

Der Himmel platzte in der Enggate. Der Schnee war so weiß und frisch, dass er fast ins Bläuliche überging. Wie die Seiten in dem kleinen Einführungsbuch der Sonntagsschule. Glänzend mit hellblauen Linien. Der Schnee bedeckte alles. Ich betrachtete meine Schneeflocke genau. Sah die gespreizten Äste. Genau wie die eines kleinen Baums. Alle Menschen sind verschieden, sagte die Pfarrersfrau immer, genau wie Schneeflocken. Keine Schneeflocke ist wie die andere. Kein Baum ist wie der andere. Die Luft war schwer. Ich hielt die absolut letzte Schneeflocke dieses Winters in der Hand. Es hatte auf das Kruzifix geschneit. Ich dachte an den Jesus auf dem Altar. Mit Blut an den Händen. Ich sah Ole Henrik in der Eishockeybude vor mir. Das Blut auf den Armen. Der Blick.

Wir liefen um die Kirche herum zum Haupteingang um auf unsere Eltern zu warten, die aus dem Gottesdienst kamen. Roger schleppte sich mit Arnors Sonntagsschulbeutel und einem dicken Tuschkasten ab. Ich blieb an der Kirchentreppe stehen.

Die Kirchentür ging auf und die Erwachsenen schoben sich wie eine träge Dachlawine heraus. Die Alten tasteten sich mit ihren Stöcken vor. Kinderwagen holperten die Treppenstufen herunter. Eltern grüßten und nickten sich zu. Pfarrer Arne stand wie ein schlechtes Beispiel im Türrahmen. Er gab allen die Hand. Schüttelte die alten Hände und tätschelte die jungen. Vater schlich sich mit einer Schaufel in der Hand vorbei. Er schob den Schnee fort, der die vereisten Steinplatten bedeckte. Träger alter Hüte und schlechter Hörapparate musterten Vater misstrauisch, bevor sie sich auf die frisch geräumten Wege wagten. Er streute nun Sand aus einem roten Eimer. Vater räumte pflichtbewusst auch die letzten Schritte zu einem wartenden Taxi. Ich blieb bei Arnor, seiner Großmutter und seinen Eltern stehen.

„Was habt ihr denn heute gemacht?“, fragte Arnors Mutter.

Arnor war etwas kleiner als ich und hatte immer blasse Haut. Sein Mund stand offen und seine Lippen glänzten. Die Ohren waren groß, abstehend und durchsichtig. Arnor blinzelte nie. Seine Arme waren hinter seinem Rücken verschwunden.

„Lass mal sehen“, sagte Arnors Mutter. Lächelte und zupfte ihn an der Schulter.

„Es ist nichts“, murmelte Arnor und zog die Hand aus dem Leim an seinem Rücken. Die Mutter drehte die weiße Tüte um. Sie erwartete ein Bild von Kindern zu sehen, die unter dem Stichwort „Wir gehen in die Sonntagsschule“ hintereinander herliefen. Arnors Mutter stieß Reifwolken aus der Nase. Sein Vater verbarg ein Lächeln in seinem Schal.

„Was ist das denn?“, fragte Arnors Mutter. Sie zog die andere Hand aus ihrer karierten Tracht hervor und deutete auf die Tüte.

„Das war Roger, der hat das gemacht“, flüsterte Arnor. Mit ein paar Tuschestrichen hatten die beiden Kinder vorn im Bild einen hässlichen Mittelscheitel bekommen, lange Haare an den Armen, Blasen im Schritt und teuflische Masken. „Kiss“ stand mit blitzenden S darunter. Großmutter Kongo starrte Arnor an, fünfzig abtrünnige Zulus im Blick. Unzählige Male hatte sie von dem halben Hundert afrikanischer Eingeborener erzählt, die am selben Tag vom rechten Glauben abgefallen waren. Großvater Kongo hatte früher als Missionar gearbeitet und acht Jahre gebraucht um eine kleine christliche Gemeinde im Missionsgebiet in Zululand zu gründen. An einem Nachmittag war ein alter Medizinmann aufgetaucht. Er hatte fünfzig getaufte Zulumänner überredet ihn auf eine Expedition zu begleiten, um den Geist irgendeines Vorfahren zu suchen. Das muss der Teufel in Menschengestalt gewesen sein, sagte Großmutter Kongo immer.

„Hast du das etwa gelernt?“, fragte Arnors Mutter. Ihre Tracht entfaltete sich in großen Karos.

„Wir haben gelernt, dass Gott alle Schneeflocken geschaffen hat“, antwortete Arnor. Seine Augen waren steingrau. Arnors Vater war damit beschäftigt, eins seiner Kinder zu hindern sich selbst ins Ohr zu beißen.

„Schneeflocken!“, schnaufte die Mutter. „Setz dich nicht wieder zu diesem Jungen.“

Die Familie Kongo, wie Arnor mit Nachnamen hieß, schlug den Heimweg ein. Auch Mutter und ich begannen unseren Aufstieg zum Sonntagsessen. Die Kongos bogen in die Saxildsgate ein.

„Wartet mal!“, rief jemand. Reidar kam in einer weißen Eisscholle neben Mutter und mir angeflogen. Sein Kopf stach aus seinem neuen Citroën hervor. Mutter bekam ein paar Schneeflocken auf die Wimpern. Die Scheibenwischer des Autos schoben die leichte Schneeschicht von der Windschutzscheibe fort.

„Ihr seid so schnell weggegangen“, sagte Reidar zu Mutter. Reidar war im Gemeinderat und wohnte allein in einem riesigen Haus unten in der Bøtgersgate.

„Ja“, sagte Mutter. Bürstete sich eine Schneeflocke vom Rock.

„Ole Henrik?“, quiekte er. „Geht’s ihm gut?“

Die Augen waren groß und weiß wie die Felgen seines Autos. Reidar rieb sich das Kinn und blies beim Ausatmen die Luft in die Wangen.

„Ja“, sagte Mutter. „Wir holen ihn heute Abend ab.“

Reidar schloss die Augen. Atmete auf. Er murmelte etwas vor sich hin. Fuhr sich mit der Hand über die starren Locken.

„Gott sei Dank, Gott sei Dank.“

Er sah Mutter an und ich hätte schwören können, dass in seinem Augenwinkel eine Träne hing.

„Ich wollte dich in vierzehn Tagen übers Wochenende in die Hütte einladen, sozusagen für die letzte Skifahrt in diesem Winter“, sagte Reidar.

Mutter erstarrte.

„Na, ich meine, euch alle zusammen“, fuhr er locker fort.

Mutter überlegte.

„Ich weiß nicht, ob das geht ...“

„Ach, natürlich geht das. Das ist auch gut für Ole Henrik, weißt du.“

Reidar schob den Arm aus dem Autofenster und kratzte Schnee vom Seitenspiegel ab. Vater holte uns ein und stellte sich neben das Auto.

„Ein schöner Gottesdienst war das. Ingrid hat gerade zugesagt, dass ihr in vierzehn Tagen mit in die Hütte kommt“, erklärte Reidar lachend, „die ganze Familie. Für Ole Henrik.“

Vater nickte.

„Ein schöner Gottesdienst“, erwiderte Vater und zog sich zurück.

„Dann ist das also abgemacht“, sagte Reidar. Mutter schien erleichtert. „Wir haben eine Verabredung!“, rief Reidar. Das Fenster glitt hoch und er bog in seine Straße ab.

„Zum Gottesdienst mit dem Auto“, murmelte Vater.

„Warum können wir uns nicht auch ’nen Citroën kaufen?“, warf ich ein.

„Französische Autos rosten“, sagte Vater.

Wir latschten in den Resten von einem Millimeter Neuschnee den Wergelandsvei hinauf. Ich lief etwas voraus. Mutter und Vater gingen eingehakt Arm in Arm. Sonst nie, nur von der Kirche. Vater ging eigentlich mit der Hand in der Tasche, aber so, dass Mutter ihren Arm um seinen legen konnte. So gingen die beiden die Straße hinauf, sie ein wenig zu ihm geneigt, mit nichts anderem in Händen als Vater. Als würde ein Besuch in der Kirche sie an etwas erinnern, was sie einst einander versprochen hatten.

Der Schnee knirschte und ich summte den Schluss von Daniels Männern. Alle Schneeflocken waren verschieden. Sie fielen vom Himmel herab und legten sich weiß auf die ganze Welt. Es schneite unter dem Himmel, als Jesus an die Tür pochte. Da war ich mir ganz sicher.

Einschnitte

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