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3. Kapitel

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„Hier kommt der Champion!“, schrie Reidar. Er trug einen eng anliegenden Skianzug und hatte Skier mit einer modernen Bindung wie die Skisportler im Fernsehen. Er schoss davon, stieß die Beine wie ein Profi zur Seite aus. Die Sonne brannte und wir stakten in zwei Reihen vorwärts.

„Was für ein Wetter“, sagte Mutter matt.

Vater lief in Kniebundhosen und altmodischer Winterschirmmütze mit langen, langsamen Schritten. Er war fast so schnell wie Reidar, aber es sah aus, als stünde er auf den Skiern still. Mutter lief ruhig. Machte ab und zu eine Pause. Dann drehte Reidar sich um und lief zu ihr zurück. Lief mit ihr zusammen, bis sie Ole Henrik und mich erreicht hatten, die auf sie warteten. So ging es die ganze Zeit. Immer ruckartig in Schüben vorwärts. Nur Vater lief gleichmäßig ohne anzuhalten. Machte ab und zu mal einen Schlenker.

„Es ist gut, dass die Jungs mal ein bisschen Ski laufen können“, sagte Reidar.

„Ja.“ Mutter nickte und schälte eine Apfelsine. Der Saft rann über ihre Finger.

„Ole Henrik kann eine ganze Menge ertragen. Erinnerst du dich noch daran, als er sein Bein in die Speichen kriegte? Er hat überhaupt nicht geweint. Hat ganz still dagesessen, bis wir im Krankenhaus waren“, erinnerte sich Reidar.

Mutter blinzelte in das scharfe Licht. Ihr Mund war ganz schmal, als wünschte sie, dass er gar nicht da wäre.

„Hast du keine Sonnenbrille?“, fragte Reidar mich.

„Nein“, antwortete ich und überlegte, ob er jetzt total übergeschnappt war.

„Wie schade“, sagte er. Mutter sah mich bittend an.

„Los, lasst uns einen Sprunghügel bauen!“, brüllte Reidar.

Wir fanden einen kleinen Abhang. Ole Henrik und ich schnallten unsere Skier ab und bauten zusammen mit Reidar einen guten Absprung. Wir schoben Schnee zusammen und schwitzten in der Wärme. Die Sonne brannte vom Himmel und stach in unseren Augen. Wir aßen einige Schokoladenriegel, tranken Kakao mit Haut und machten mit der Schanze weiter.

Als wir anfangen wollten zu springen, schnallte Vater seine Skier an und verschwand mit elegantem Doppelschub in der Sonne. Er wollte nach Schneehühnern Ausschau halten. Reidar meinte, dass der Lodenstoff von Vaters Hosen sicher wahnsinnig kratze. Schließlich kletterten wir den Hügel hinauf. Fuhren los und landeten. Sprangen und fielen hin. Mutter hatte sich hingesetzt und schaute zu. Klatschte und verteilte Noten. Bat Ole Henrik vorsichtig zu sein. Reidar war in seinem Element. Er stellte alle möglichen Sportler von Jesse Owens bis Karl Schnabel dar. Mutter lachte. Wir fielen auf die Nase. Tauchten mit dem Kopf in den Schnee. Bogen Skistöcke und Beine. Reidar wollte, dass Mutter auch mal sprang. Sie wollte nicht. Reidar kündigte die beste Skispringerin der Welt an, schnallte sich die Skier ab und ging los um sie von der Tribüne zu holen.

„Ich weiß, dass du das kannst, Ingrid“, sagte Reidar und näherte sich ihr mit ausgestreckten Armen.

„Nun hör auf mit dem Quatsch“, erwiderte sie.

„Ich weiß, dass du das kannst“, wiederholte Reidar. Zog Mutter am Arm.

Zuerst wehrte sie sich. Ole Henrik und ich saßen auf dem Absprunghügel und schauten zu. Reidar begann mit Schnee nach ihr zu werfen. Sie warf mit Schnee zurück. Die beiden liefen in der Landegrube herum. Lachten und kämpften miteinander.

„Nun komm schon!“, rief Reidar. Er hatte ein Bein von Mutter zu fassen bekommen, sodass sie nach hinten fiel. Es war ganz still. Reidar beugte sich herab, wir reckten unsere Hälse. Dann hörten wir Mutter ein Kriegsgeheul ausstoßen und Reidar fiel auf die Seite. Es war ein wilder Kampf.

Sie hörten auf. Das Licht ritzte sich in meine Augenlider, sodass ich die Sonne sehen konnte, selbst wenn ich die Augen schloss. Vater stand neben der Landegrube und schaute auf Mutter und Reidar. Sie bürsteten sich den Schnee ab und suchten nach Wolken.

„Keiner soll dich zwingen zu springen“, sagte Reidar leise und ging zu Ole Henrik und mir.

Mutter sagte nichts. Sie holte mehr Schokolade heraus und sah keinen von uns an.

Wir sprangen, bis es im Absprunghügel keine Elastizität und in unseren Beinen keine Federung mehr gab. Dann liefen wir in einer weiten Schleife zur Hütte zurück. Ich hatte Sandpapier unter den Augenlidern.

Mutter sorgte für das Mittagessen. Reidar hackte Holz und inspizierte die Skier. Er hatte seinen Skianzug ausgezogen und trug jetzt eine dicke Thermohose im gleichen Muster.

Ich schlief mit einem abgegriffenen alten Mickymaus-Heft im Schoß auf dem Sofa ein.

Ich wachte auf. Öffnete die Augen. Es knirschte. Ich schlug die Augen noch einmal auf. Und noch einmal. Stand auf und stieß gegen die Hüttenwand. Stieß mit dem Kopf direkt ans Holz. Fiel nach hinten um. Alles war weiß, als hätte ich ein Laken über dem Kopf. Ich fasste mir an die Augen. Sie waren offen und ich war blind. Mutter rief Reidar. Ich konnte nur zwischen weiß und noch weißer unterscheiden. Das Einzige, was mir blieb, waren die Geräusche – und ein Engel kam zu mir. Das Weißeste von allem.

„Er kann nicht gucken“, sagte Ole Henrik.

„Was?“, schrie Mutter auf.

„Er ist schneeblind“, sagte Reidar. Ich spürte ihn neben mir. „Es brennt, aber das geht vorbei.“

Meine Augenlider waren schwer wie Steine und rau wie Sandpapier. Die Farben kamen langsam zurück. Fischklöße wurden zu Frikadellen und der Engel zu Ole Henrik. Reidar schüttelte den Kopf, bekam aber nicht vollkommen seine Farbe zurück.

Ole Henrik und Reidar waren mitten in einem Duell auf Leben und Tod. Sie spielten „Mensch ärgere dich nicht“ und starrten einander tief in die Augen.

„Dieser Junge“, sagte Reidar. Er schüttelte den Kopf, dass ihm die braunen Locken in die Stirn fielen.

Ole Henrik hatte sich die schwarzen Haare nach hinten gekämmt. Seine Stirn war hoch und die Wangen eingefallen. Ole Henrik hatte das Pflaster abgemacht. Auf seinem Arm konnte ich die Narbe von der Eishockeybude sehen. Sie sah aus wie ein roter, gezackter Blitz an einem Himmel aus weißer Haut. Kleine Schorfstücke blubberten an der Oberfläche und die Stiche waren Schatten einer Himmelsleiter.

Ole Henrik saß da, ein Puzzleteil in der Hand. Ich strich mir über die Augenlider.

„Reib nicht“, sagte Reidar freundlich.

„Ein Unglück kann jedem zustoßen“, sagte Vater.

„Dein Bruder, der hat’s im Kopf“, sagte Reidar zu mir.

Ole Henrik schaute auf das Spiel. Draußen hatte der Mond einen Heiligenschein bekommen.

„Tausend Teile“, fuhr Reidar fort und wies auf das Puzzlespiel, das an der Wand hing. „Aus Venedig. Ich habe insgesamt zweimal Osterferien und einmal Winterferien gebraucht um es fertig zu kriegen. Venezia“, sagte er feierlich, wie in Schreibschrift.

„Venedig“, sagte Ole Henrik.

„Venedig, ja.“ Reidar lächelte. Die Buchstaben hingen immer noch zusammen. „Straßen aus Wasser. Die Brücken. – Wollen wir jetzt den Eiffelturm zusammenpuzzeln. Ihr und ich? Ja?“

Er schüttelte Ole Henrik und bekam vor lauter Eifer hektische Flecken im ganzen Gesicht. Ich versuchte dort oben um den Mond herum Vater zu entdecken. Aber sein Kopf stieß gegen ein Gewehr, das unter der Decke hing.

„Eintausendfünfhundert Teile. Ich hab’s hier liegen“, sagte Reidar.

Reidar und Ole Henrik kippten alle Teile auf den Stubentisch und ich hielt mir die Augen zu.

„Wir müssen mit etwas anfangen, was relativ einfach ist, mit dem Turm selbst oder den Touristen davor“, erklärte Reidar. „Dann machen wir den Himmel zum Schluss.“

Er rieb sich die Hände. Ich nahm ein Teil hoch. Es war natürlich weiß. Ole Henrik und Reidar suchten Teile mit dem Turm drauf. Ich betrachtete mein Teilchen vom Himmel. Eines von eintausendfünfhundert. Der Himmel über Frankreich, der Eiffelturm und Softeis. Das Teilchen hatte gleichmäßige, runde Ränder. Gewellt wie eine Qualle. Es war schön zu wissen, dass dieses eine Teilchen mit eintausendvierhundertundneunundneunzig anderen zusammenpasste.

„Reib dir nicht die Augen“, sagte Reidar zu mir. „Es ist besser, was in den Fingern zu haben.“ Er suchte unter den Teilchen.

Ole Henrik fand immer neue, die passten. Vater kramte herum. Mutter las eine Frauenzeitschrift aus Vorkriegszeiten. Die Kerzen brannten herunter und ich schlief mit dem Kopf in ihrem Schoß ein, mit Sand im Blick und einem Teilchen in der Hand.

Am nächsten Morgen gab es den Fernsehgottesdienst. Vater zündete sieben Kerzen nebeneinander an, als die Glocken läuteten. Er trug den Anzug, den er bei allen Gottesdiensten trug. Der Organist legte los. Gefolgt von der Gemeinde. Vater stimmte ein, viel lauter als Reidar. Stufe für Stufe kletterte der Pfarrer auf die Kanzel. Er mühte sich mit dem Gewicht des schwarzen Ornats ab. Als der Gesang verstummte, öffnete er die Bibel. Blätterte in ihr.

„Es steht geschrieben im zweiten Brief des Paulus an die Korinther. Fünftes Kapitel. Vers vierzehn bis einundzwanzig.“

Wir standen auf.

„Denn die Liebe Christi dringet in uns, da wir dafür halten, dass, wenn einer für alle gestorben ist, so sind sie alle gestorben. Und er ist darum für alle gestorben, damit die, die da leben, hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist.“

Der junge Pfarrer stotterte stundenlang mit grauer Zunge vor sich hin. Meine Gedanken flogen davon. Ich sah Tausende von Schneeflocken vor mir aus dem Himmel fallen. Ich probierte sie. Alle waren unterschiedlich. Ich dachte an Jesus. Er sah immer so jung aus. Ich überlegte, wie er nur so jung hatte sterben können. Ole Henrik saß da und strich sich über die Narbe an seinem Arm. Ich weiß nicht, ob er dem Pfarrer zuhörte oder wie ich träumte. Er saß mit geschlossenen Augen da und strich sich über den Arm.

Vater sammelte die Gesangbücher ein und stellte den Fernseher aus. Ole Henrik und Reidar hingen bereits wieder über dem Eiffelturm. Wühlten in den Teilen.

„Wirklich schön, so eine ganze Familie zu haben“, sagte Reidar. „Ich fühle mich fast wie ein Onkel.“

„Onkel ist bestimmt in Ordnung“, sagte Ole Henrik.

Reidar holte einen rotgrünen geflochtenen Weihnachtskorb hervor. Ein wenig angestaubt. Oft benutzt. Aus altem, glänzendem Papier geflochten. Noch blanker als die Seiten in der Bibel.

„Den hier“, sagte Reidar, „den habe ich von eurer Mutter gekriegt. Vor langer, langer Zeit.“

Vater verschwand durch die Tür. Ich fasste das glatte Papier an.

„Das muss aber schon sehr, sehr lange her sein“, sagte ich, denn solches Papier hatte ich noch nie gesehen.

„Vor eurer Geburt. Lange davor“, sagte Reidar. „Ich kenne eure Mutter ja schon seit unserer Jugend. Sie war schön, oh Mann. Und dieses Weihnachtskörbchen habe ich an einem ersten Sonntag im Advent geschenkt bekommen.“

Vor den Fenstern fuhr Vater mit dem vertrauten Doppelstockschub vorbei. Im Kirchendieneranzug.

Der Eiffelturm erhob sich auf dem Tisch. Wir puzzelten um die Wette. Die Teilchen fügten sich fein ineinander. Der Himmel wurde blau gemustert in Paris und schwarz kariert im Gebirge.

„Paris“, sagte Reidar in leisen, sorgfältigen Schnörkeln. „Paris!“

Das eine Bein des Eiffelturms, ein wenig Fußweg, eine Wolke und drei Touristen mit Fotoapparat fehlten noch.

„Paris. Champs-Élysées. Die Stadt der Liebe. Frühling in Paris.“

Reidar fand einen Wolkenfetzen, fügte ihn ein und setzte sich darauf.

„Mit seiner Liebsten gemeinsam durch den Triumphbogen gehen. Vom Eiffelturm hinuntergucken.“

„Und Citroën fahren“, sagte ich.

„Ja“, sagte Reidar auf seinem Wolkenfetzen am Himmel über Paris. „Mit der Liebsten im Citroën die ganze Champs-Élysées hinauffahren.“

„Wieso bist du eigentlich nicht verheiratet?“, fragte ich.

Ein dunkles Teilchen landete in Reidars Gesicht. Er schaute zu Mutter hinüber, als würde er sie viel besser kennen, als wir auch nur ahnten. Sie stand an der Küchenanrichte mit dem Rücken zu uns. Summte eine Melodie vor sich hin. Reidar strich über das glänzende Papier und bekam Wind in die Augen.

„Lasst uns mal weiterpuzzeln, damit wir fertig werden“, sagte er.

Es wurde draußen schon fast dunkel, als wir den letzten, oder um genau zu sein, den vorletzten Puzzlestein einfügten. Reidar und ich krochen unter den Tisch. Beide auf allen vieren. Mitten in dem großen Bild war ein kleines, graues Loch. Ein Fetzen der weißen Wolke hinter dem Eiffelturm war weg. Ein Teilchen von eintausendfünfhundert fehlte.

Reidar suchte unter den Flickenteppichen. Er leerte den Mülleimer. Mutter stand vor der Küchenanrichte, mit herunterhängenden Armen. Wir fanden es nicht. Suchten überall. Kratzten mit den Nägeln über die Bodendielen, pusteten alten Staub unter den Kommoden auf, zählten die Seiten aller Bücher. Mutter hatte fertig gepackt und Vater hatte die restlichen Vorräte hinausgetragen. Er saß mit den Zehen am Ofen.

„Wir müssen wohl langsam los“, sagte Mutter. „Die Jungs müssen morgen zur Schule.“

Die Hütte badete in weißem Licht aus einem Himmel, der die Sonne aus seinem Griff verlor, sie war hinter eine Bergspitze gerutscht.

„Ich habe es gefunden!“, rief Reidar schließlich. Er stand mitten in der Stube. Sah eigentlich gar nicht froh aus. Seine Locken hingen wie verbrannte Kartoffelringe herunter. Die Bartstoppeln in seinem Gesicht sahen aus wie Zeichenstifte.

Ole Henrik stand irgendwo zwischen Reidar und Paris. Vater ging vom Ofen weg. Ich sah einen Schatten von Schnee auf seinem Kopf. Reidar hielt einen Skistiefel in der Hand. Frisch geputzt, mit roten Streifen. Altes Modell. Es war Vaters Skistiefel. In der anderen Hand hielt er das Puzzleteilchen. Sollte zwischen Reidars Zeigefinger und Daumen trocknen.

„Ich habe es an deinem Skistiefel gefunden, Frank“, sagte Reidar zu Papa. „Unter der Sohle.“

Puzzleteilchen und Gesangbücher sausten durch die Luft. Das letzte Teilchen passte zu den anderen, aber wir passten nicht in die Hütte. Wir schnallten uns die Skier unter und stapften zum Parkplatz. Der Abend war noch dunkler als der, an dem wir angekommen waren. Die Luft war milder und der eine oder andere Schneefladen rutschte von den kleinen Bäumen vor uns auf die Loipe. Es war Quatsch, noch Winter spielen zu wollen, das hätte ich wissen sollen.

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