Читать книгу Einschnitte - Harald Rosenløw Eeg - Страница 6

4. Kapitel

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Roger sollte schlagen. Er hatte die beiden ersten Schläge verhauen. Auf der anderen Seite standen vier Mann in den Startlöchern und mussten rüber. Roger konzentrierte sich. Ich war draußen und hing am Zaun rum. Er schlug den Schläger auf die Erde, bevor er Schwung holte.

Der Schnee zog sich zurück und Schlagball löste Eishockey ab. Roger schlug mehrere Wohnviertel weit, wenn er gut traf, während Arnor lieber trickste und dann wie ein Verrückter rannte. Wenn wir bei Roger in der Nähe spielten, war manchmal auch seine Schwester dabei. Sie ging in die Neunte und war auf den Namen Carolina Henriette getauft, hörte aber nur auf ‚Car‘. Sie war lang und dünn, hatte kurze Haare und dicke, braune Sommersprossen. Direkt über dem Auge hatte sie einen dunklen Leberfleck, der sich bewegte, wenn sie lächelte. Ihre Arme hielt sie meistens vor der Brust verschränkt. Die Augenbrauen saßen dicht beieinander, als hätte sie immer ganz viele Geheimnisse zu verbergen. Sie war unglaublich sicher mit den Händen. Wenn du Pech hattest und eine Pflaume schlugst, saß der Ball wie festgeklebt in ihrer Hand. Dann ging’s direkt ins Aus. Klein Jonas wog das wieder auf. Er wurde immer als Letzter gewählt, denn er war eine leichte Beute. Keiner lief langsamer und kein Rücken war leichter zu treffen als der von Klein Jonas.

„Okay“, sagte Roger und Jarle warf den Ball in die Luft. Roger schwang das Holz, so fest er konnte, und landete den Treffer des Frühlings. Er traf den Ball mit der Schlägerspitze und vier Mann liefen bereits von der anderen Seite los. Roger wollte auch laufen, nachdem er den Schläger losgelassen hatte. Der Schläger sauste wie ein Bumerang durch die Luft und ich sah Frau Josefsen, der Nachbarin, direkt in die Augen, als sie in ihrer Küche den rotierenden Ballschläger auf ihr Fenster zukommen sah. Die Läufer hielten an und alle schauten in die Luft. Rogers Schwester stand da wie ein Pfahl. Die Farbe wich aus Frau Josefsens Gesicht und der Ballschläger traf drei Millimeter neben der Fensterscheibe auf die Hauswand.

Wir schwangen uns auf unsere Räder, bevor Herr Josefsen die Tür öffnen und seine Stimme erheben konnte. Wie die Weltmeister traten wir in die Pedale und überlegten uns, dass wir den Schläger wohl abschreiben konnten.

„Das sieht mir ähnlich“, keuchte Roger. „Habt ihr den Treffer gesehen? Und habt ihr auch die Alte gesehen?“

Wir stellten unsere Räder im Wald von Frodeåsen ab. Pirschten zwischen den Bäumen hindurch. Wir wollten uns zur Tønsberger Kirmes schleichen.

„Ich bin da mit jemandem verabredet“, sagte Carolina Henriette. „Ich komme mit euch und klettere über den Zaun.“

„Mit wem denn?“, fragte Roger.

Sie sah ihren jüngeren Bruder an, vorwurfsvoll und resigniert zugleich.

Wir gingen den Geräuschen im Wald entgegen. Rutschten eine Böschung hinunter und kamen an einer verlassenen Stelle, weit vom Eingangstor und den Wächtern entfernt, an den Zaun. Konnten drinnen die Karussells sehen. Das Popcorn riechen. Aber der Zaun war reichlich hoch und oben sah es nach Stacheldraht aus.

„Das wird kaum gehen“, sagte Arnor. „Wir alle da rüber?“

„Wir versuchen es“, sagte Roger. „Wer macht den Anfang?“

Keiner drängelte.

„Okay“, sagte Carolina Henriette. Warf sich in die Zaunmaschen. Wir streckten unsere Arme hoch, packten ihre Schuhsohlen und schoben Henriette, so gut wir konnten, hinauf. Sie mühte sich eine Weile ab. Kämpfte wie ein Fisch im Netz. Dann schob sie sich hinüber und landete im Heidekraut auf der anderen Seite.

„Gut, dass ich Hochsprung trainiert habe“, sagte sie lächelnd. Der Leberfleck verschwand fast in ihrem Haaransatz. „Der Nächste ...“

Wir sahen einander an. Es begann zu nieseln. Arnor zupfte ein wenig an den Zaunmaschen.

„Es kostet doch nur ’nen Zehner“, sagte Jarle, „und ich gehe sowieso mit meinen Eltern am Wochenende rein. Ich glaube, ich lasse es.“

Carolina Henriette zuckte mit den Schultern.

„Die Kirmes ist doch bloß Scheiße“, meinte Roger resigniert, „nur blöde Musik.“

„Na, dann haue ich ab“, sagte Carolina Henriette auf der anderen Seite. „Ich treffe mich mit Leuten aus dem Indianerdorf, und wenn ihr euch sowieso nicht traut ...“

Wir sahen sie den Abhang hinunterlaufen und zwischen den Karussells und Buden verschwinden. „Wollt ihr noch ’ne Runde?“, dröhnte es in gebrochenem Schwedisch aus einem Lautsprecher und hundert Mann im Looping schrien: „Ja!“

„Mit wem trifft sie sich denn?“, fragte ich Roger.

„Keine Ahnung“, antwortete er. Ich versuchte Carolina Henriette noch einmal zu entdecken.

„Guckt mal“, piepste Klein Jonas. Unten am Fuß des Abhangs stand Henriette vor einem Typen. Er war lang und zerzaust wie ein Weihnachtsbaum. Fransen an den Ärmeln und Federn im Haar.

„Wer ist das denn?“, flüsterte ich.

„Weiß ich nicht“, entgegnete Roger. „Kommt, wir hauen ab.“

An diesem Abend kam ich früher als sonst nach Hause. Es war ganz still im Haus. Mutter und Vater waren ausgegangen. Milde Luft zog durch die Räume. Ich blieb lange ganz still mitten im Wohnzimmer stehen. Spürte in allen meinen Gliedern Muskelkater. Es kribbelte in den Fingerspitzen. Ich schlich mich die Treppe hinauf. Schaute bei Ole Henrik hinein um sicher zu sein, dass er nicht da war.

Er zuckte zusammen. Starrte finster zu mir hinauf. Er saß vor seinem Bett auf dem Fußboden mit einem Bild im Schoß. Ole Henrik stand auf. Seine Haare waren so lang, dass er sie hinters Ohr schieben konnte. Sein Blick pikste wie Stecknadeln.

„Was machst du denn da?“, fragte ich schließlich.

Er öffnete den Mund. Schloss ihn wieder. Er setzte sich auf die Bettkante und gab mir das Bild. Es war ein vergilbtes, altes Foto von Mutter und Vater. Sie hatte noch mehr Locken und sein Gesicht war noch glatter.

„Was ist das?“

„Siehst du das nicht?“

„Mutter und Vater.“

„Genau.“

Er musterte mich mit Millimeterblick. Strich sich mit einer Hand über den Kopf. Ich verstand gar nichts.

„Ich möchte wissen, wer von beiden die schlechten Karten hat“, sagte er nachdenklich und schaute das Foto an.

„Wieso schlechte Karten?“

„Oft ist ein Teil in einer Beziehung schlechter dran als der andere“, erklärte Ole Henrik ganz selbstverständlich. „Einer wäre gestorben, ausgerastet oder total verrückt, wenn nicht der andere da wäre.“

Er legte das Bild in eine kleine weiße Schachtel.

„Sie sehen so anders aus. Ich möchte wissen, wie sie sich kennen gelernt haben.“

Aber es gibt Dinge, die man nie erfährt.

Ich konnte die Geräusche von der Straße hören. Der Nachbar war dabei, den Rasen zu mähen.

„Ich möchte wissen, wie man sich trifft, wie man sich wieder verliert. Wie Eltern zu Eltern und Kinder zu Kindern werden.“

„Ich weiß, wie das geht“, sagte ich.

„Ich habe gehört, wie Mutter und Vater miteinander geschlafen haben“, sagte er leise.

„Bist du verrückt!“

„Nein.“

„Das war in einer Nacht, in der ich nicht schlafen konnte. Meine Zunge tat so weh, jedes Mal wenn ich schlucken musste. Da haben sie es gemacht. Sie hatten die Tür nicht geschlossen. Im Wohnzimmer haben sie es gemacht.“

„Was?“

„Sie haben es im Wohnzimmer gemacht.“

„Wieso im Wohnzimmer?“, fragte ich.

Ole Henrik zuckte mit den Schultern.

„Und wie hat sich das angehört?“

„Ich glaube, das ist ziemlich wichtig, was da passiert ... genau im Augenblick der Empfängnis. So hörte sich das an.“

„Was da passiert?“

„Ich möchte wissen, wann sie einander verlieren“, sagte er ohne mir zuzuhören.

Ole Henriks Narbe hatte eine andere Farbe angenommen. Sie war eine schwarze Grindschlange, die sich den Arm hinaufschlängelte. Ich mochte sie nicht. Das Blut war getrocknet und gestorben.

„Wie geht es deinem Arm?“, fragte ich.

Ole Henrik strich sich Sterne durch das Haar. Den Kopf hielt er ein wenig schräg.

„Es sieht nicht so gut aus“, sagte er, „aber eine Narbe bedeutet wohl, dass man lebt.“

Mutter erzählte es eines Abends. Ihr Gesicht war blass und die Augen nass. Sie sprach mit leiser, ernster Stimme. Sie mussten mit Ole Henrik zu einer Untersuchung nach Oslo und ich sollte mir keine Sorgen machen. Die Ärzte hatten da was entdeckt, als sie ihm nach dem Unfall in der Eishockeybude Blut übertragen hatten. Mutter ließ die ganze Zeit eine Hand auf meiner liegen. Als ob ich mir wehgetan hätte. Mein Junge, sagte sie zu sich selbst und ich wusste nicht, ob sie mich oder Ole Henrik meinte. Mehr sagte sie nicht und ich fragte auch nicht.

Ich traf Ole Henrik im Badezimmer, als ich mir die Zähne putzen wollte. Er lächelte nur. Mit schmalen Augen. Und mir fielen dünne Linien auf, die von den Augen über seine Schläfen liefen. Als hätte er sich mit einer Sonnenbrille auf der Nase gesonnt.

„Gute Nacht, Viktor“, sagte er.

„Gute Nacht“, sagte ich, „bis bald?“

Er nickte.

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