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Kapitel 2: Die See, 15 Jahre später
ОглавлениеEsther und Dave bekamen in der Folgezeit in Abständen von etwa zwei Jahren noch vier Geschwister, erst drei Schwestern und dann noch einen Bruder. Esther und die Vier ähnelten alle ihrer Mutter. Nur Dave schickte sich an, auszusehen wie sein Onkel/Vater.
Diese Ähnlichkeit war aber nur äußerlich. Dem Gemüt nach, hätten die beiden unterschiedlicher nicht sein können. Dave hatte ein ausgesprochen sonniges Gemüt; er lachte viel und war stets zu Scherzen und Albernheiten aufgelegt. Der Schalk saß ihm im Nacken, wie der Volksmund zu sagen pflegt. Er lernte erstaunlich schnell und zwar nicht nur theoretisches Wissen, sondern auch manuelle Fertigkeiten. Er konnte schon im Alter von 10 Monaten wie ein Wiesel laufen und mit einem Jahr gebrauchte er selbstständig beim Essen den Löffel.
Mit fünf Jahren erstaunte er alle mit seinem phänomenalen Gedächtnis sowie mit seinem Zeichentalent. Unter der Anleitung seiner Mutter, hatte er sich außerdem mehr oder weniger selbst das Lesen und das Flötenspielen beigebracht. Mit 10 schenkte er seiner Mutter zum Geburtstag Kohlezeichnungen mit den Porträts aller ihrer 6 Kinder. Die Zeichnungen gaben ihre Modelle erstaunlich ähnlich wieder.
Angesichts dieses Talents, haderte sein Vater mit seinen puritanischen Grundsätzen, nämlich stets eifrig und freudlos zu arbeiten und gottgefällig (wie Calvin es verstand) zu leben. Jeglicher Frohsinn und Zurschaustellung von Fertigkeiten waren ihm ein Gräuel.
Zwar konnte er Dave gute Manieren und ein jederzeit ehrerbietiges Benehmen nicht absprechen, dessen Herumalbern, dessen ausgelassenes Lachen und sein Flötenspiel waren ihm jedoch ein Dorn im Auge. Dave musste zur Strafe wiederholt viele Stunden allein in seiner Dachkammer verbringen.
Sarah verfolgte die Anordnungen ihres Mannes mit ausdruckslosem Gesicht, das nicht verriet, was sie dachte. Allerdings besuchte sie stets heimlich ihren Sohn in der Kammer und brachte ihm Milch und Kuchen. Sie verlor dabei selten ein Wort, zeigte ihm aber, indem sie ihm liebevoll über den Kopf strich, dass sie die Erziehungsmethoden ihres Ehemanns missbilligte. Dave liebte seine Mutter!
Der Aufenthalt in der Kammer machte Dave wenig aus. Die Bibelinterpretationen, die sein Vater ihm auferlegte, erledigte er stets im Handumdrehen; dann schmökerte er in Büchern, die ihm sein Schullehrer zur Verfügung stellte. Er las alle Reisebeschreibungen über den amerikanischen Kontinent mit großer Begeisterung. Vor allem aber faszinierte ihn die Astronomie. Er prägte sich anhand von Abbildungen und durch vergleichende nächtliche Beobachtungen aus der Fensterluke seiner Dachkammer den Sternenhimmel Stück für Stück ein und fand sich bald darin erstaunlich gut zurecht.
Als er älter wurde hielt er sich am liebsten im Hafen auf. Die wogende See und der Trubel um einlaufende und auslaufende Schiffe elektrisierten ihn. Er beschloss, auch einmal zur See zu fahren. Zwischenzeitlich verdiente er sich etwas Geld, indem er Leute porträtierte, meist Seeleute oder ihre Liebchen.
Er lernte im Hafen einen alten, sehnigen japanischen Kneipenwirt mit Namen Haragutshi kennen und freundete sich mit ihm an. Für ihre Verständigung benutzten sie zwar mitunter Hände und Füße, das tat aber ihrer Freundschaft keinen Abbruch. Der Japaner erzählte ihm wehmütig von seiner Heimat Japan und dass er in seinem früheren Leben einmal Samurai gewesen sei. Neugierig geworden, wollte Dave mehr darüber wissen. Der Japaner, unfähig das Wesen dieser Krieger näher zu beschreiben, zeigte ihm seine zwei Rasiermesser scharfen Samurai-Schwerter, den kunstvoll gefertigten, Tod bringenden Samurai-Bogen sowie einige Kniffe des Bujikan. Dave war Feuer und Flamme. Die nächsten Wochen, wann immer sie Zeit fanden, trainierte er Dave in dieser waffenlosen Kampftechnik der früheren Samurais und Ninjas. Einige Zeit später hatte Dave Gelegenheit, das Erlernte anzuwenden. Als ihn ein zwei Köpfe größerer angetrunkener Seemann anrempelte und ihn als Bastard beschimpfte, zertrümmerte ihm Dave mit einem blitzschnell und gezielt ausgeführten Handkannten-Schlag das Nasenbein und machte ihn dadurch kampfunfähig. Der alte Japaner war stolz auf seinen Schüler. Dieser Vorfall sprach sich im Hafen schnell herum. Die im Hafen herumlungernden Lümmel und Rabauken machten ab da stets einen großen Bogen um Dave.
*
Inzwischen war Dave 15 Jahre alt geworden. Sein Vater rang mit einer Entscheidung. Er musste sich eingestehen, dass er in Norfolk Dave nicht mehr weiter fördern konnte. Er war sich sicher, dass dieser schon frühzeitig die Anforderungen an ein Studium erfüllte. Er lud zwei ältere Kollegen aus dem Umland zu sich ein, um ihre Meinung darüber einzuholen. Vor ihnen musste Dave verschiedenste Stellen aus dem Alten und Neuen Testament zitieren und anschließend mit eigenen Worten interpretieren. Die Kollegen gaben dem Vater recht. Gemeinsam setzten sie einen Brief an den Rektor der Universität Yale auf, mit der Bitte, Dave möglichst bald das Studium zu ermöglichen.
Dave war von dieser Entwicklung gar nicht angetan. Er überlegte fieberhaft, wie er seinem Schicksal entkommen konnte. Dann trat ein Ereignis ein, das seinen Entschluss beschleunigte.
Schon von Kindesbeinen an waren Dave und seine Schwester Esther ein Herz und eine Seele. Sie spielten zusammen, lachten und alberten miteinander und trösteten sich gegenseitig, wenn dem anderen ein Missgeschick passierte. Als sie älter wurden, stellte sich etwas ein, das sie sich nicht erklären konnten. Dave fiel auf, dass sie sich beide körperlich mehr und mehr veränderten. Das faszinierte ihn, übrigens auch sie. Wenn sie allein zusammen waren, knisterte es geradezu. Ja Dave träumte zuweilen sogar von ihr. Es waren wilde erotische Träume.
Eines Nachts öffnete sich leise die Tür seiner Kammer und Esther trat herein. Sie hatte nur ein Nachthemd an, das sie aber augenblicklich abstreifte. Der Mond schien durch die Dachluke und er konnte sie deutlich sehen. Er bemerkte, dass sie, bar ihrer sonstigen Kleider, aufreizende, jugendhaft weibliche Formen aufwies und ihre Achselhöhlen und die Scham schon zart behaart waren. Sein Mund fühlte sich klebrig an. Sein Herz pochte. Er brachte kein Wort heraus und fühlte sich plötzlich völlig willenlos.
Ester schlüpfte wie selbstverständlich zu ihm ins Bett. Sie zerrte ihn aus seinem Nachthemd, streichelte ihn und griff wie zufällig etwas ungeschickt aber behutsam an sein Geschlecht. Es wurde prall wie nie zuvor. Sie drängelte sich unter ihn und führte vorsichtig sein pochendes Glied bei sich ein. Ihre Vagina war weich und feucht. Als er in sie eindrang, stöhnte sie kurz vor Überraschung und Schmerz auf, dann jedoch hob sie ihm ihren Unterleib voll zitternder Ekstase rhythmisch entgegen. Er passte sich ihren Bewegungen an, bis beide, in einem wilden Orgasmus aneinandergepresst, erschöpft verharrten. Sie lächelte selig und küsste ihn zärtlich auf den Mund.
Jetzt erst schaltete sich sein Gehirn wieder ein. Er machte sich klar, was er, was sie beide gerade getan hatten. Ihm fielen spontan die entsprechenden Bibelstellen ein, die von Blutschande handelten. Auch überlegte er das praktische Problem, wie er es anstellen musste, das blutige Bettlaken loszuwerden.
Esther schien das alles nicht zu berühren. Sie streifte sich das Nachthemd über und tänzelte, beschwingt mit der Hüfte wackelnd, aus der Kammer. Am nächsten Morgen erschien sie gut gelaunt und mit sich zufrieden zum Frühstück. Er wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen.
Die nächsten beiden Nächte wiederholte sich das Spiel und zwar bewusster und dadurch noch wesentlich intensiver. Dave schwankte zwischen seiner körperlichen Sehnsucht und seinem schlechten Gewissen.
An diesem Morgen kam er zu einem Entschluss. Er war sich sicher, dass man ihre unheilige Liebe über kurz oder lang aufdecken würde, und den daraus resultierenden Skandal mochte er sich nicht vorstellen.
Er schwänzte die Schule und begab sich in die Stadt. Er erfuhr, dass im Hafen ein Klipper lag, der am nächsten Morgen auslaufen wollte. Nach dem Abendessen zog er sich alles an Kleidung an was er besaß, steckte sein Taschengeld ein, packte alles, was er meinte, gebrauchen zu können, darunter auch etwas Proviant, in einen Sack und verließ heimlich das elterliche Haus. In seiner Kammer hinterließ er folgenden Brief an seine Mutter:
„Liebe Mutter,
es tut mir leid, dass ich Dir das antue. Hoffentlich verzeihst Du mir!
Vaters Wunsch, mich nach Yale zu schicken, um dort Theologie zu studieren, kann ich nicht erfüllen. Ich werde niemals ein solcher Theologe wie er. Ich kann nicht glauben, dass unser Leben allein aus Arbeiten und Beten bestehen soll und unser Gott zornig wird, wenn wir mal lachen und „unnütze“ Dinge tun.
Ich will, solange ich jung bin, die tosende See und die unendliche Weite unseres Kontinents kennen lernen. Sucht mich nicht! Ich komme schon zurecht! Ich schreibe Euch sobald ich kann!
Viele Grüße an Vater und meine Geschwister
Dave“
Er ging im Laufschritt zum Hafen. Dort stieg er frech in einen Kutter ein, der die halb besoffene Besatzung des Klippers Savannah an Bord brachte. Die Kutterbesatzung glaubte, er gehöre zur Besatzung des Klippers und umgekehrt. Keiner kümmerte sich um ihn. Es gelang ihm mühelos, unbemerkt an Bord des Klippers zu kommen, wo er sich im Laderaum hinter mehreren Waren-Ballen versteckte.
Als es begann, hell zu werden, hörte er die Ankerkette rasseln, Segelsetz-Kommandos ertönten, und das Schiff setzte sich in Bewegung. Eine ganze Zeit später, als er sicher war, dass eine Umkehr nicht mehr in Frage kam, krabbelte er aus seinem Versteckt hervor.
Der Bootsmann schleppte ihn sogleich zum Kapitän, der von der Mannschaft nur der Red Beart genannt wurde. Dieser schaute den blinden Passagier verblüfft aber angesichts seines angenehmen Äußeren interessiert an.
„Von zu Hause weggelaufen? Hast wohl was angestellt? Wie heißt du?“
Dave fuhr der Schalk in den Nacken. Er deutete den wohlwollenden Blick richtig und platzte fröhlich heraus:
„Ich heiße Tom Blacksmith. Mein Vater wollte, dass ich meine Tante heirate. Dazu hatte ich keine Lust.“
Der Skipper und der Bootsmann sahen sich an, dann mussten sie ob dieser Unverfrorenheit herzlich lachen. Red Beart erinnerte sich, dass er mit 15 auf ähnliche Art Schiffsjunge geworden war.
„Also gut, Schiffsjunge Tom Blacksmith, willkommen an Bord! Der Bootsmann soll dir deine Koje zeigen und der Smutje dir etwas zu beißen geben, dann meldest du dich wieder bei mir. Meinst du übrigens, Blacksmith klinge glaubwürdiger? Also, wennschon falsch, dennschon falsch! Du heißt ab jetzt Tom Smith, und damit basta!“
*
Im Hause Andrews wurde Daves Abschiedsbrief unterschiedlich aufgenommen.
Sarah versetzte er einen Stich; sie glaubte, ihr Herz würde aufhören zu schlagen. Tränen traten ihr ungehemmt in die Augen. Nach dem ersten Schock ruhiger geworden, musste sie sich aber eingestehen, dass sie seinen Weggang erahnt hatte. „Hoffentlich ergeht es dir gut, mein lieber Sohn“, stammelte sie immer wieder vor sich hin.
Joshua fühlte sich in seinen Stolz verletzt. Hatte er nicht das Beste für seinen Sohn gewollt? Er schalt ihn, ein undankbarer, verbohrter Mensch zu sein. Er solle mal sehen, wie es ihm, dem unreifen Knaben in der Fremde ergehen wird. Schließlich kam seine Mutter ja auch reumütig in den Schutz der Familie zurück.
Esther durfte ihre Gefühle als verlassene Geliebte nicht nach außen zeigen. Sie täuschte Migräne vor. Allein auf ihrem Zimmer musste sie sich allerdings eine Mitschuld an seiner „Flucht“ eingestehen. Sie weinte größtenteils aus gekränkter Eitelkeit.
Die jüngeren Geschwister merkten Daves Weggang erst richtig, als ihnen seine Fröhlichkeit, seine Albernheiten und Späße fehlten. Ihr Haus war leerer geworden.
*
Kapitän Red Beart hieß in Wirklichkeit William (Bill) McIntosh, war 38 Jahre alt, schottischer Abstammung, hatte eine untersetzte Figur, Hände so groß wie Bratpfannen und trug lange offene Haare und einen elegant gestutzten roten Bart. Als Tom alias Dave wieder vor ihm stand, saß er hinter seinem Schreibtisch, hatte Seekarten und Seemannsbesteck vor sich und einen Zirkel in der Hand.
„Erzähl mal von dir. Wie alt bist du? Was hast du gelernt? Kannst du lesen, schreiben, rechnen? Etwas Handwerkliches? Deinen Händen nach zu urteilen, hast du dir noch nie die Finger schmutzig gemacht!“
Dave merkte, dass es nun mit der Alberei vorbei war.
„Ich bin 15 Jahre alt.“
„Erst 15, der Größe nach zu urteilen, siehst du aus wie 17,“ wunderte sich der Skipper.
„Ich habe Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt. Ich kann zeichnen und Flöte spielen.“
„So, rechnen kannst du?“ – Der Skipper blickte kurz auf das Papier, auf dem Entfernungen und Zeiten ihrer Fahrt standen, und stellte Dave eine der Additionsaufgaben, die er eben selbst gelöst hatte. Er erwartete, dass dieser sich allein die vierstelligen Zahlen nicht werde merken können, geschweige denn fähig war, die Aufgabe im Kopf zu lösen. Als Dave ihm fast augenblicklich das Ergebnis nannte, war er sprachlos. Er begann zu ahnen, dass er es hier mit einem rohen Diamanten zu tun hatte.
„Aber jetzt Spaß beiseite! Warum bist von zu Hause abgehauen?“
Dave musste, so unter Druck gesetzt, mit der Wahrheit herauszurücken. Außerdem gefiel ihm der Kapitän und dessen Art zunehmend gut, so dass er hoffen konnte, Verständnis zu finden.
„Mein Vater ist ein streng puritanischer Pastor. Er wollte mich nach Yale schicken, wo ich wie er Theologie studieren sollte. Ich mag nicht, mein Leben so freudlos wie er verbringen.“
Red Beart gefiel der Junge immer besser. „Hm!“ kommentierte er nur!
„Du sagtest vorhin, du könntest Flöte spielen. Hast du sie dabei?“
Dave musste zu seiner Schlafkoje laufen, um die Flöte zu holen.
„Spiel mal was vor,“ forderte der Skipper ihn auf.
Dave spielte eine Melodie, die er im Hafen aufgeschnappt hatte. Der Skipper holte seinerseits eine Geige hervor und wiederholte Daves Melodie, dann spielten beide im Duett, wobei sie sich gegenseitig darin überboten, die Grundmelodie auszuschmücken.
„Ich kann dir hier an Bord kein Zuckerschlecken versprechen. Du musst arbeiten wie die anderen 40 Mann auch, aber auf dein Rechentalent und dein Flötespielen, komme ich noch zurück. Melde dich beim Bootsmann mit einem schönen Gruß von mir und lass dir von ihm die einzelnen Stationen des Schiffs zeigen und erklären und dir von ihm einen Posten zuteilen“
Aus der Tatsache, dass die Unterredung beim Skipper so lange gedauert hatte und beide zusammen Musik gemacht hatten, zog der Bootsmann die richtigen Schlüsse. Er führte Tom ohne innere Begeisterung, weil er schließlich noch anderes zu hatte, auf dem Schiff herum. Er teilte ihn vorerst dem Bordzimmermann zu.
*
Die Savannah war ein schnittiges, schnelles Segelschiff mit drei Masten. Sie hatte Tabak geladen und wollte diesen nach Bristol in England verfrachten. Sie segelte mit raumem Wind der Stärke 5 nach Nordwesten. Tom alias Dave stand vorne am Bug und sah hinaus auf die See. Soweit er blicken konnte, nur Wasser. Der Landstrich im Westen ließ sich nur erahnen. Das Schiff schnitt mühelos in die etwa 5 m hohen, schaumbedeckten Wellen und schien sie zu überholen. Er atmete tief die salzige Luft ein und fühlte sich frei.
Die erste Nacht hielt er es in der schwankenden Koje nicht aus. Er zog sich das Ölzeug über, das ihm der Skipper zur Verfügung gestellt hatte, und balancierte an Deck. Er traf dort den Skipper und den Steuermann an, die beide mit einem eigenartigen Gerät vor Augen, angestrengt in den sternklaren Himmel starrten. Das Gerät hatte eine Skala, die beide ablasen, um danach die abgelesenen Ergebnisse miteinander zu vergleichen. Sie nickten, als ihre Ergebnisse übereinstimmten. Tom sah sie mit neugierigen Augen an, so dass beide lächeln mussten.
„Was wir hier haben, ist ein Sextant. Damit kann man Winkel messen,“ - klärte der Skipper ihn auf. Tom verstand gar nichts. Er überlegte fieberhaft, welchen Winkel man wohl messen könnte und wozu.
„Wir brauchen die Messung, um unsere Position zu bestimmen. Ohne Seekarten und ohne unsere genaue Position zu kennen, sind wir auf dem Meer verloren.“
Tom begann vor Aufregung zu schwitzen. Darüber, wie man sich mitten auf dem Meer zurechtfindet, hatte er bisher noch nicht nachgedacht. Er wagte nicht danach zu fragen und zog sich stattdessen kleinlaut in seine Koje zurück. Die beiden Seemänner sahen ihm, sich gegenseitig mit den Augen zuzwinkernd, nach.
*
In den folgenden Tagen lernte Tom nicht nur jeden Winkel des Schiffs sondern auch die Schiffs-Mannschaft kennen. Einige der Matrosen waren mit 17, 18, 19 Jahren nicht viel älter als er selbst. Es waren aber auch ehrwürdige Seebären darunter, die gut seine Väter hätten sein können. Da er sich, seiner Natur entsprechend, stets natürlich, höflich und gut gelaunt gab, nahm man ihn ausnahmslos freundschaftlich auf.
Über Mangel an Beschäftigung konnte er nicht klagen. Müßiggang gehörte auf einem Schiff zu den Fremdwörtern. Es ging immer irgendetwas zu Bruch oder in der Schiffshaut taten sich Leckstellen auf. Er lernte schnell, kräftig zuzupacken und die verschiedenen Werkzeuge des Zimmermanns zu gebrauchen. Er half ferner dem Segelmacher bei der Segelreparatur, lernte die Seemannsknoten, lernte die Taue zu spleißen, ging dem Smutje zur Hand, musste das Deck schrubben und so weiter und so weiter. Er bekam Schwielen an den Händen und eine frische rötlichbraune Gesichtsfarbe. Jede freie Minute verbrachte er damit, seine Bujikan-Kampftechnik weiter zu trainieren.
Die viele Arbeit, die neuen Eindrücke ließen Tom keine Zeit, an seine Familie zu denken. Legte er sich in die Koje, schlief er in der Regel sofort ein und schlief einen traumlosen Schlaf. Wenn er an zu Hause dachte, dann an seine Mutter. An seine Schwester zu denken und an die leidenschaftlichen Umarmungen mit ihr, verbot er sich. Das schlechte Gewissen wegen dieses Inzestes hatte er sich mittlerweile ausgeredet. Er erinnerte sich an die Bibelstelle, wo Lots Töchter sich von ihrem Vater schwängern ließen, ohne dass dieses Tun Gott missfallen hätte. Überhaupt hatte sich bei ihm schon lange der Verdacht festgesetzt, dass das Gerede vom Zorn Gottes in Wirklichkeit eine Erfindung herrschsüchtiger Priester war, um die Gläubigen unter ihre Fuchtel zu zwingen.
Die Savannah segelte von Leuchtfeuer zu Leuchtfeuer die Nordamerikanische Küste entlang bis sie St. John’s auf Neufundland passiert hatte, um hier entlang des 50sten Breitengrades auf West-Kurs einzuschwenken. Für die rund 1600 Seemeilen brauchte sie 5 Tage.
Sonntags war auch auf dem Schiff Ruhetag. Es standen nur die Arbeiten an, um das Schiff in Fahrt zu halten. Die Freiwachen hatten Zeit, zum Beispiel ihre Klamotten auf Vordermann zu bringen, Briefe zu schreiben oder schreiben zu lassen, Karten zu spielen oder gemeinsam zu singen und zu Tanzen. Der Skipper legte Wert darauf, die Leute bei Laune zu halten und so spielten er auf der Geige, Tom auf der Flöte, dazu kam noch ein Banjo-Spieler, zum eigenen Vergnügen und zum Vergnügen der Besatzung regelmäßig auf.
Auf der Fahrt nach Westen fuhren sie zunächst in eine Nebelwand. Sie konnten ihre Position nur durch Koppel-Navigation bestimmen. Sie holten die meisten ihrer Segel ein und verlangsamten so die Fahrt. Kurz darauf gerieten sie in einen heftigen Sturm. Bis zu 10 m hohe Wellen türmten sich auf. Kurs zu halten war unter diesen Umständen nicht möglich; sie mussten mit gerefften Segeln den Sturm ablaufen. Als sie wieder Sonnenstands-Messungen vornehmen konnten, stellten sie fest, dass sie ein Stückweit von ihrem direkten Kurs abgekommen waren. Doch der vorwiegend aus West wehende Wind und der Golfstrom halfen ihnen, Bristol nach insgesamt 20 Tagen zu erreichen.
*
Was Seeleute an fremden Häfen interessiert, ist immer das Gleiche: Kneipen und Bordelle. Tom, der sich aus Alkohol nichts machte, insbesondere, wenn er exzessiv getrunken wurde, und auch mit Bordellen nichts anzufangen wusste, zog es vor, auf dem Schiff zu bleiben. Die mitgebrachte Fracht wurde gelöscht, der Laderaum gesäubert und gelüftet. Das dauerte seine Zeit. Dann brachten Frachtboote neue Ladung herbei. Sie luden 500 Gewehre samt Munition und unzählige Ballen englischen Tuches in den Bauch des Schiffes. Dazu wurde frischer Proviant und Frischwasser übernommen.
Einen Tag bevor sie wieder ablegten, gaben der Kapitän und der zur Schiffsbesatzung gehörende Kaufmann ein Dinner für die englischen Kaufmannskollegen. Der Smutje und seine zwei Gehilfen zauberten ein mehrgängiges, köstliches Mahl herbei. Dazu floss reichlich Rotwein. Tom in seinen besten Kleidern, durfte servieren. Dank seiner angenehmen Manieren machte er einen guten Eindruck.
Als er diese Nacht in seine Koje stieg, voll der köstlichen Reste des Mahles und des Weines, hatte er zum ersten Mal, seit er von Zuhause weggelaufen war, wieder einen erotischen Traum. Er erwachte davon und entdeckte, dass offenbar sein Glied einen weißen, glitschigen Schleim ausgeschieden hatte. Er war davon verunsichert und beunruhigt. Beim Auswaschen beobachtete ihn ein älterer Seemann. „Na, jetzt bist du ja ein richtiger Mann,“ kommentierte er trocken.
*
Der vorherrschenden Windrichtung folgend, segelten sie zunächst nach Süden. Sie ankerten vor Lissabon, wo sie 10000 Flaschen Portwein zuluden, sowie in Puerto de la Cruz auf Teneriffa, wo sie noch mal 5000 Flaschen Malvasia-Wein dazu Frischwasser bunkerten. Vom Passatwind beflügelt, legten sie 11 Tage später in Charleston in South Carolina an.
Nachfolgend unternahmen sie noch viermal hintereinander die Reise nach Bristol und zurück, wobei sie in Lissabon nicht mehr anlegten. Auf der Hinfahrt hatten sie Baumwolle, auf der Rückfahrt Waffen geladen.
Tom wurde schon auf der zweiten dieser Reisen zum Steuermanns-Maat, auf der vierten dann zum 2. Steuermann ernannt. Er hatte eifrig und erfolgreich alles rund um die Seemannschaft, die Wettereinschätzung und um die Navigation, die Sicht-, die Koppel-, die terrestrische und die astronomische Navigation, gelernt. Besonders in die astronomische Navigation kniete er sich rein. Sie wurde sein Steckenpferd.
Er schoss in den zwei Jahren zu einer stattlichen Größe von über 1,80 m auf; ein hagerer aber sehniger Schlacks mit jungem, stets freundlichen Gesicht. In den Häfen schloss er sich der Mannschaft, auch schon mal dem Kapitän an und besuchte die üblichen Etablissements. Die dortigen Frauen und Mädchen waren von seiner Männlichkeit sehr angetan.
Immer, wenn sie in Charleston ihr Schiff entluden und beluden, schrieb er Briefe an seine Mutter. In ihren Antworten konnte er ihre Erleichterung darüber, dass es ihm so gut ging, spüren. Sie schrieb viel über das Leben in Norfolk, die Familie und alles, was sie bewegte. Er hatte den Eindruck, sie schütte ihm ihr Herz aus, ihm, ihrem noch so jungen Sohn. Er bekam eine Ahnung, wie geistig vereinsamt sie sein musste, an der Seite ihres ach so strengen puritanischen Ehemanns.