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Kapitel 3: Krieg 1861
ОглавлениеIm Winter 1860/61 traten nacheinander 11 Südstaaten aus der Amerikanischen Union aus. Am 12.April 1861 begann der Sezessionskrieg. Die Savannah war kurz vor Kriegsbeginn ausgelaufen, um weitere Waffen aus England herbeizuschaffen. Als sie bei ihrer Rückkehr gegen Abend in Charleston in den Hafen einfahren wollte, entdeckte der Ausguck, dass ein nordamerikanisches Kriegsschiff vor der Einfahrt kreuzte. Im Vertrauen auf die eigene Schnelligkeit und das schwindende Tageslicht versuchte der Kapitän, trotzdem in den Hafen zu gelangen. Das Kriegsschiff eröffnete sofort das Feuer. Die Savannah wurde getroffen, der vordere Mast und fast alle Segel wurden zerfetzt. Es gelang ihr gerade noch, sich in den Hafen unter den Schutz der Abwehrbatterien zu retten. Die Ladung blieb zum Glück unbeschädigt; ein Treffer der mitgeführten Munition hätte verheerende Folgen gehabt.
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Die Reparatur zog sich hin, ohnehin wäre ein Auslaufen unter diesen Bedingungen zu riskant gewesen.
Um die Wartezeit zu verkürzen, meldeten sich vor allem die Südstaatler unter den Seeleuten zum Dienst in der Armee. Tom schloss sich ihnen aus Kameradschaft an. Zusammen mit anderen Freiwilligen landeten sie in einem Ausbildungscamp. Für die Musterrolle gab Tom seinen richtigen Namen an.
In der Meinung, bei dem vorliegenden Konflikt werde es sich nur um eine Episode handeln, sagten sich Dave alias Tom und sein Kapitän Bill McIntosh „Auf Wiedersehen“. Sie ahnten nicht, dass es sich um einen Abschied für immer handeln würde. Dave sollte sein Zuhause in den unendlichen Weiten des Kontinents finden, Bill dagegen den Atlantik gegen den Pazifik austauschen und fortan zwischen San Franzisco und Alaska hin und her schippern.
Die Freiwilligen wurden körperlich hart trainiert und lernten vor allem Schießen und den Bajonett-Kampf. Wieder machte sich Daves Begabung bezahlt; er avancierte schnell zu einem Meisterschützen und dank seiner Bujikan-Kenntnisse auch zu einem veritablen Bajonett-Fechter. Das sorgte über die Ausbildungskompanie hinaus für Gesprächsstoff. Der Hauptmann einer Spezialkompanie wurde auf ihn aufmerksam. Es handelte sich um eine Kompanie für Aufklärung und Sabotage. Dave, geschmeichelt von dem Interesse an seiner Person, entschloss sich, dabei mitzumachen.
Der Hauptmann hieß Robin Delarosas, mochte knapp 40 Jahre alt sein, hatte ein offenes Gesicht sowie einen schlanken, durchtrainierten Körper. Er war der zweite Sohn eines reichen Texaners, hatte spanisches Blut in den Adern, und wie ein spanischer Kavalier trat er auch auf. Er strahlte stets eine stoische Gelassenheit aus und schien kein Problem wirklich ernst zu nehmen. Später stellte sich heraus, dass er verwegen und unerschrocken sein konnte.
Wieder begann für Dave eine Ausbildungszeit, die diesmal länger dauern sollte. Er musste vor allem Reiten lernen. Ein Halbindianer, der Militär-Scout, führte sie ferner tagelang durchs Gelände und bildete sie aus, im Spurenlesen, Spuren vermeiden bzw. verwischen, sich im Gelände zu orientieren sowie unsichtbar zu machen. Ein Sprengmeister unterrichtete sie im Gebrauch von Sprengladungen und im Umgang mit Landminen. Schließlich wurde verlangt, sich glaubhaft verstellen sowie sich notfalls in eine andere Person verwandeln zu können. Letzteres fiel den meisten Probanden sehr schwer. Nicht aber Dave. Als geborener Komödiant gelang es ihm mühelos, eine andere Person zu sein. Dank seiner Musikalität konnte er dabei auch Dialekte täuschend echt nachahmen.
Übrigens sollte der Scout noch eine bedeutende Rolle in Daves Leben spielen.
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Der sogenannte Amerikanische Sezessionskrieg zwischen den Nordstaaten (Union) und den Südstaaten (Konföderation) sollte etwas über 4 Jahre dauern. Die Union setzte dabei insgesamt rund 2,8 Millionen, die Konföderation rund 1,1 Millionen Soldaten ein. Auf beiden Seiten zusammen gab es rund eine halbe Million Tote und fast gleichviele Kriegsinvaliden. Der Krieg ersteckte sich über ein Gebiet von rund 1,5 Millionen Quadratkilometern. Die Hauptlast des Krieges trugen die Bundesstaaten Maryland, Virginia, Nord Virginia und Tennessee.
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Die Schar, der Dave angehörte, bestand aus dem Hauptmann Robin Delarosas, dem Leutnant Andrew Bell, dem Scout, Jonny Jones, ihm und 21 Mann. Sie waren bewaffnet mit den neuartigen, Henry-Repetier-Gewehren und mit Colt-Revolvern. Dazu gehörte ein Bajonett mit flacher Klinge. Dieses konnte man sowohl auf das Gewehr aufstecken als auch als Messer gebrauchen. Sie sollten von ihren Gegnern den Spitznamen Ghosts bekommen, weil sie überall unverhofft wie ein Geist auftauchten und auch wieder verschwanden.
Ihr erster Einsatz sollte in Missouri sein, in dem zwar ein Unionsanhänger als Gouverneur residierte, die Bevölkerung jedoch politisch gespalten war. Ihr Bahntransport stoppte allerdings schon in Tennessee, weil inzwischen Missouri in die Konföderation eingegliedert worden war.
Sie wurden General A.S. Johnston zugeteilt. Dessen Truppen marschierten in Kentucky ein, das sich zwar als neutral erklärt hatte, das aber als Truppen-Aufmarschgebiet zu interessant war, um es zu verschonen.
Ihre Aufgabe war die Feindaufklärung und sie verbrachten die meiste Zeit im Sattel. Dave griff Anfang 1862 zum ersten Mal aktiv in den Krieg ein. Er und ein Korporal waren auf dem Rückweg von einem Melderitt, als sie von einer fünfköpfigen feindlichen Patrouille überrascht wurden. Reiter und Pferde hatten ihr Tagespensum schon mehr als geleistet und die Flucht drohte ihre Reserven zu erschöpfen. An ein Entkommen war nicht zu denken. Die Verfolger kamen immer näher. Als sie quasi mit dem letzten Atemzug den Rand eines kleinen Wäldchens erreichten, sprangen sie deshalb ab und eröffneten das Feuer. Dave schoss schnell hintereinander sein Henry-Gewehr viermal ab und traf vier Gegner tödlich. Der Korporal benötigte drei Schüsse, um den fünften Mann zu erledigen. Mit fünf Beutepferden am Lasso erreichten sie schließlich ihre Truppe.
Wochen später sollte es wieder um Pferde gehen. Sie durchstreiften gerade ein hügeliges Gelände, als sie eine Schwadron Yankee-Kavallerie entdeckten. Der Tag neigte sich schon zu Ende und die Kavalleristen schickten sich an zu rasten. Sie sattelten ihre Pferde ab und ließen sie unter Bewachung in einer Talsohle grasen. Die Männer gruppierten sich um etliche Lagerfeuer. Offensichtlich waren sie den ganzen Tag geritten und jetzt müde, denn der sonst übliche Lagerlärm war eher gedämpft und verstummte auch bald.
Hauptmann Delarosas beschloss, die Pferde der Kavalleristen zu rauben beziehungsweise auseinander zu treiben. Die Pferde grasten, wie gesagt, in einer Talsohle zwischen dem Lager und den Wachen. Es galt also, erst die Wachen geräuschlos mundtot zu machen, dann mit zwei Reitergruppen die Pferde in die Zange zu nehmen und vom Lager wegzutreiben. Sie beobachteten, wie zwei Wächter im Talkessel auf und ab patrouillierten; sie trafen sich in der Mitte, dann ging der eine nach rechts, der andere nach links und so immer fort. Der Scout vermutete, es könnte noch ein dritter Wächter da sein, der womöglich in der Nähe des Treffpunkts schlief.
Sie rückten deshalb zu dritt aus, der Hauptmann, der Scout und Dave. Sie schlichen fächerförmig auf die Wachen zu, Dave in der Mitte. Der Hauptmann benutzte sein Wurfmesser, der Scout sein Bajonett. Dave wäre fast über den schlafenden Wächter gestolpert. Der erwachte erschrocken. Aber ehe er schreien konnte, hatte Dave ihn mit einem Handkantenschlag an die Schlagader wieder in die Welt der Träume geschickt. Die Kavalleristen mussten nun ihren Weg zu Fuß fortsetzen.
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Dave zählte nun 18 Lenze. Er maß 1,85 m, hatte eine athletische, durchtrainierte Figur und ein sympathisches Gesicht, das von braunen, schelmisch blickenden Augen dominiert und von üppigen, hellbraunen, welligen Locken umrahmt wurde. Seinen Dienst erledigte er überlegt, bedächtig und konzentriert. Legte man diese Attribute zugrunde, konnte man ihn für schon wesentlich älter halten, was allerdings durch seine ausgesprochene Fröhlichkeit und sein Sinn für Späße und Klamauk relativiert wurde. Er war sowohl mit dem Gewehr als auch mit dem Revolver ein Meisterschütze. Auch das Messer als Waffe handhabte er meisterlich. Hinzu kamen seine katzenhaften Bewegungen und Reflexe. Kein Zweifel, sein ehemaliger japanischer Lehrer hätte ihn sofort in den Rang eines Samurai erhoben.
Was er bisher von dem Krieg gesehen hatte, erfüllte ihn mit Entsetzen. Darüber konnten ihm auch die ausgedehnten Ritte durch das unendlich weite, unberührte, abwechslungsreiche, schöne Land, die seine Einheit unternehmen musste, nicht hinweghelfen. Er hatte sich mit ihrem Scout, Jonny Jones, angefreundet, obwohl dieser sein Vater hätte sein können. Jonny teilte mit ihm die Begeisterung für die Wälder, die Prärie und vor allem den Sternenhimmel.
Jonny war ein Halbindianer. Von seiner Apachen-Mutter hatte er jedoch rein äußerlich nur das schwarze, kräftige Haar und den etwas dunkleren Teint geerbt. Die sich inzwischen in seinem Haar ausbreitenden grauen Strähnchen und die infolge des Aufenthalts im Freien ohnehin frische Gesichtsfarbe ließen ihn aber wie einen jener weißen Waldläufer und Trapper aussehen. Man musste schon um seine Herkunft wissen, um an ihm indianische Züge zu erkennen.
Jonny wuchs bis zu seinem 15. Lebensjahr im Südwesten von Texas bei den Apachen auf. Er lernte dort vor allem Jagen und Kämpfen. Da Texas damals eine mexikanische Provinz war, lernte er neben seiner Muttersprache zunächst einige Brocken Spanisch, erst später die Sprache seines Vaters Englisch, eigentlich Texanisch. Alle Versuche mexikanischer Missionare, ihn zum Christen zu machen, schlugen fehl. Er glaubte immer noch an „Manitu“, den großen Geist des Universums. Wenn er neben Dave auf der endlosen Prärie unterwegs war, brachte er diesem zunächst seine Muttersprache dann sein gebrochenes Spanisch bei, um ihm schließlich auch von Manitu zu erzählen. Bei dem puritanisch-christlich indoktrinierten Dave lösten diese Erzählungen Gedanken aus, wie sie sein Gehirn schon immer vergeblich gesucht aber nie gefunden hatte.
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Ihre Einheit überfiel jetzt vorwiegend feindliche Nachschub-Verbände, verlegte in gegnerischen Aufmarschgebieten Minen, sprengte weit im Norden Gleise sowie Eisenbahnen in die Luft. Ihr größter Coup war der Überfall auf ein Gefangenenlager in Ohio. Sie töteten die Wachmannschaft, befreiten über tausend gefangene Kammeraden und machten das Lager dem Erdboden gleich. Leider hatten sie dabei auch eigene Verluste zu beklagen; acht Mann darunter der Leutnant. Dave wurde ersatzweise zu seinem Nachfolger ernannt.
Hatten die Armeen der Konföderierten, trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit bisher im Krieg die Initiative inne, änderte sich das nach der Niederlage von General R. E. Lee bei Gettysburg. Der Norden warf nun seine zahlenmäßige personelle und ausrüstungstechnische Überlegenheit ohne Rücksicht auf eigene Verluste erfolgreich in die Waagschale. Die Jäger wurden nun zu Gejagten.
Daves Einheit operierte in West Virginia und versuchte den Nachschub der Unionstruppen zu stören. Beim Versuch eines Überfalls auf einen Bahnhof gerieten sie zum ersten Mal in einen Hinterhalt. Sie mussten fliehen, was die Pferde hergaben. Um den Verfolgern zu entgehen, verabredeten sie einen Treffpunkt und versuchten anschließend, einzeln zu entkommen. Dave schüttelte seine Verfolger ab und gelangte bei seiner Flucht über die Grenze nach Pennsylvania.
Es wurde schon dunkel, als Dave auf einer ausgedehnten Waldlichtung eine kleine Farm entdeckte. Er näherte sich vorsichtig. Als er auf den Hof ritt, trat eine Frau aus der Eingangstür. Sie mochte Ende 30 sein, trug eine graue Kleidung und ein Graues Häubchen auf dem Kopf. ‚Typisch Quäkerin‘ kam es Dave in den Sinn. Sie schaute ihn misstrauisch an, erst recht seiner Uniform wegen. „Ich bin auf der Flucht“, sagte Dave einer inneren Eingebung folgend. Ihr Gesichtsausdruck entspannte sich. „Wir sind vor Gott alle gleich,“ sagte sie ein wenig salbungsvoll. „Wir Quäker kennen keine Feinde“, fügte sie hinzu.
Sie rief etwas ins Haus hinein und es erschienen zwei junge Frauen. Sie sahen der Älteren ziemlich ähnlich, mochten 19 und 18 sein und trugen ebenfalls graue Kleider, allerdings andersfarbige Häubchen. ‚Ihre unverheirateten Töchter‘, fuhr es Dave durch den Kopf. Die Mutter gab den Töchtern Anweisung, Daves Pferd zu versorgen und bat ihn, ins Haus zu treten. Dave folgte erleichtert.
Die Frauen waren gerade dabei, zu Abend zu essen. Ein karges Mahl! Die Mutter wies die jüngere Tochter an, Fleisch herbeizuschaffen, wohl um den Gast etwas Kräftiges aufzutischen. Sie benahmen sich ihm gegenüber ausgesprochen reserviert. Jede hielt den Blick gesengt, kein neugieriges und unnützes Wort. Das Mahl verlief hauptsächlich still und schweigend, so, als ob sie sich bei Gott entschuldigten, dass sie etwas von seinen Vorräten verzehrten.
Sie wiesen ihm einen Schlafplatz in der Scheune neben seinem Pferd an. Dave war mehr als müde. Er hatte sich gerade auf einem Bündel Heu bequem gemacht, als die Scheunentür leise aufging. Dave reagierte sofort und griff nach seinem Colt. Eine Frau im Nachthemd und gelöstem Haar näherte sich zögernd. Ihren Bewegungen nach musste es sich um die Mutter handeln. Dave mochte das gar nicht glauben, denn gerade sie hatte sich besonders prüde gegeben. Ohne ein Wort zu sagen, lege sie sich zu ihm. Sie zitterte vor Erregung und Begierde. Bei Dave wurden Erinnerungen wach, doch, sexuell ausgehungert wie er war, dachte er nicht weiter drüber nach. Angesichts ihres ungestümen Begehrens und seiner eigenen Erregung vergaß er glatt die raffinierten, von Prostituierten erlernten Praktiken. Er ließ sich einfach von seinen Gefühlen treiben. Die Frau, die unter ihm lag, entpuppte sich als heißer Vulkan. Sie bewegte sich ekstatisch und stöhnte so laut, dass Dave fürchtete, das Scheunendach käme herunter. Nach dem dritten Liebesakt fiel er ermattet in den Schlaf.
Es sollte ein kurzer Schlaf werden. Er wurde wieder geweckt. Die Frau, die jetzt neben ihm lag, roch jünger und fühlte sich jünger an. Später begehrte auch noch ihre jüngere Schwester seine Männlichkeit. Zum Glück waren die Töchter leichter zufrieden zu stellen, als ihre Mutter.
Als Dave aufwachte, stand die Sonne schon voll am Himmel. Das Frühstück verlief so schweigend wie das gestrige Abendessen. Keine der Frauen sah ihm ins Gesicht. Sie taten so, als ob in der Nacht nichts geschehen wäre. Allerdings, später fand er seinen Proviantbeutel prall gefüllt vor. Obenauf lagen drei Rosen.
Dave taumelte auf sein Pferd. Er hatte Schwierigkeiten, wach zu bleiben und war froh, am Treffpunkt seine Kameraden wiederzusehen. Er traf als Letzter ein. Über seine nächtlichen Erlebnisse sagte er kein Wort.
*
Sie hielten Kriegsrat ab. Für eine Fortführung des Kampfes fehlte ihnen genügend Gewehr-Munition. Sprengstoff und Spreng-Minen hatten sie gar keine mehr. Angesichts dieser Tatsachen entschloss sich der Hauptmann schweren Herzens, die Gruppe aufzulösen. Die meisten Männer wollten sich in ihre Heimatstaaten Virginia, Nord und Süd Carolina durchschlagen, die Texaner, nämlich der Hauptmann und der Scout, zog es nach Texas. Den beiden schloss sich Dave an. Der Trupp durchquerte noch zusammen den Staat Ohio, an der Grenze zu Kentucky trennten sich ihre Wege. Dave gab den Kollegen ein Bündel Briefe an seine Mutter mit.
Robin, Jonny und Dave folgten dem Ohio Fluss an dessen nördlichem Ufer flussabwärts. Sie gingen vorsichtig vor. Bevor sie einen Landstrich unter die Hufe nahmen, sondierten sie zunächst die Lage ausgiebig durch das Fernglas. An der Grenze zu Indiana schlugen sie die westliche Richtung ein. Sie überquerten den Wabash bei Vincennes. Hier in Illinois steuerten sie St. Louis an.
Indiana und Illinois waren vom Krieg unberührte, wenig besiedelte Unions-Staaten. Sie genossen die friedliche, fruchtbare Landschaft. Direkt hinter Vincennes stießen sie auf einen mittelgroßen Planwagen. Er gehörte einem reisenden Händler. Der Mann mochte knapp 50 sein und machte trotz seines jovialen Gesichts einen resoluten, wehrhaften Eindruck. Er wurde von seinen beiden erwachsenen Söhnen, die beide aussahen wie der Vater, begleitet. Jeder der Drei hatte ein schussbereites Gewehr zur Hand und beäugte misstrauisch die heruntergekommenen Soldaten in Süduniformen. Erst als Robin ihnen mit der Offenheit eines texanischen Aristokraten erklärte, für sie sei der Krieg vorbei und sie seien auf dem Weg nach Texas, sicherten diese ihre Gewehre und entspannten sich.
Beide Seiten kamen nach einer gemeinsamen Mahlzeit und einem kräftigen Schluck Whiskey überein, zusammen zu reisen. Der Händler führte vor allem Ausrüstung für Büffeljäger. Das bot den Südstaatlern die Gelegenheit, ihre Uniformen los zu werden und sich in Jäger zu verwandeln. Der Händler nahm ihre drei Henry-Gewehre samt Bajonett, das Kavallerie-Pferde-Zaumzeug und das, was er von den Uniformen noch für wiederverkaufsfähig hielt, in Zahlung. Sie erstanden zwei Bison-Büchsen samt Munition, zwei Bowie-Messer, drei komplette Kleider-Ausrüstungen sowie Pferde-Zaumzeuge, wie Bisonjäger sie trugen beziehungsweise führten. Nur seinen Offiziers-Kavalleriesäbel, seinen Kompass und sein Fernglas behielt Robin. Sie bezahlten den Händler mit Beute-Dollars. Beide Seiten waren mit dem Geschäft zufrieden.
Sie trennten sich, als sie St. Louis erreichten.
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Dave sah zum ersten Mal den Mississippi. Er bekam vor Staunen den Mund nicht zu. Welch ein Ungetüm von einem Fluss! Zwar kannte er ihn schon aus den Büchern, die er als Junge gelesen hatte, doch die Wirklichkeit übertraf seine kindliche Phantasie bei weitem. Zumal die Breite hinter dem Zufluss des Missouri noch beträchtlich zunahm. Und dann das Schauspiel, das beide Flüsse nach dem Zusammenschluss boten! Sie flossen zwar im selben Bett, doch kilometerweit nebeneinander her, wie man aus den verschiedenen Farben ihrer Wasser ersehen konnte. Als Dave mit der Fähre übersetzte, erinnerte ihn das an seine erste Ausfahrt vom Hafen Norfolk hinaus auf den Atlantik.
In den Straßen von St. Louis stolperten Dave und seine Begleiter fast als erstes über eine Gruppe von Soldaten der Südstaaten-Armee aus Texas. Zwei von ihnen erkannten Robin von der gemeinsamen Dienstzeit. Sie berichteten ihm, dass im Staate Missouri der Sezessionskrieg in einen Bandenkrieg umgeschlagen sei. St. Louis werde von einer Bande ehemaliger Unions-Soldaten terrorisiert.
Robin, Jonny und Dave beschlossen im Vertrauen auf ihre Verkleidung einzeln die Lage zu erkunden. Dave war am erfolgreichsten. Er hatte beobachtet, wie die Bande einem Konkurrenten einen Denkzettel verpasste und hatte auch die beiden Anführer zu Gesicht bekommen. Er versuchte, ihr Aussehen verbal zu beschreiben, hatte dann aber eine bessere Idee. Er ließ sich Papier geben, holte ein Stück Zeichenkohle aus der Tasche und skizzierte im Handumdrehen deren Gesichter auf. Seine Zuschauer beobachteten ihn verblüfft. Am meisten verblüfft war Robin. „Sind das die Anführer?“ stieß er heraus. „Ich kenne die Beiden, das sind Major S. W. Wallis und Sergeant Edgar Stone. Wir haben zusammen gedient. Nicht wahr, Sergeant Stone ist ein vierschrötiger Riese?“
Ganz genau,“ meinte Dave. „Und das Gesicht sieht zum Fürchten aus, so, wie ich es gezeichnet habe.“
Robin dachte eine ganze Weile angestrengt nach. „Deine Zeichnungen bringen mich auf eine Idee,“ sagte er endlich. „Traust du dir zu je vier gleiche Fahndungsplakate von den Beiden anzufertigen? Sie müssten darauf jünger aussehen, als sie jetzt sind, und Yankee-Uniformen tragen. Das Kopfgeld tot oder lebendig können wir ziemlich hoch ansetzen, sagen wir 1000 Dollar für den Major und 300 Dollar für den Sergeanten. Als Herausgeber der Fahndung erlauben wir uns die US-Armee anzugeben. Die Plakate hängen wir dann nachts an vier stark frequentierten Plätzen in der Stadt auf. Ich würde mich wundern, wenn sich die beiden nicht Hals über Kopf aus dem Staube machten.“
Dave brauchte einen Tag, um die Plakate anzufertigen. Sie schlugen ein wie eine Bombe. Trauben von Menschen umsäumten sie. Sicherlich überlegte jeder einzelne, wie er sich das Geld verdienen konnte. Die Frage, woher die Plakate so plötzlich stammten, stellte sich keiner. Wie später zu erfahren war, überlegten selbst einzelne Mitglieder der Bande, ihre Anführer auszuliefern. Diese jedoch flüchteten noch am frühen Vormittag aus der Stadt Richtung Westen.
Am Rande sei erwähnt, dass just diese Bande unter ihren neuen Anführern Frank und Jesse James traurige Berühmtheit erlangen sollte.
Die Texaner zog es nach Hause. Robin kam auf die Idee, ihre Reisekasse aufzubessern und zwar mit Kartenspielen. Er hatte einen stark frequentierten Saloon entdeckt, in dem Poker gespielt wurde. Er war ein ausgezeichneter Poker-Spieler und kannte fast alle Falschspielertricks.
Robin, Jonny und Dave gingen in ihrer Büffeljäger-Kluft einzeln in den Saloon, so, als ob sie sich nicht kennen würden. Jonny und Dave postierten sich so, dass sie den Pokertisch aus der Ferne gut überblicken konnten. An einer Seite des gut belegten Tisches saß ein offensichtlicher Profi-Spieler, der die Karten mit flinken Bewegungen austeilte. Auch sonst machte er einen flinken Eindruck. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regungen.
Robin hatte sich eine Woche lang nicht rasiert. Der struppige Bart machte ihn älter. Außerdem hatte er mit Whiskey gegurgelt und sich damit eingerieben. Er mimte den Biedermann, der schon mal am Lagerfeuer bei kleinen Einsätzen Poker gespielt hatte. Er ergatterte mit einem Whiskey-Glas in der Hand einen freien Platz am Tisch schräg gegenüber dem Kartengeber. Beim Sich-Setzen fiel ihm ungeschickt sein ganzes Geld auf den Tisch, das er hastig wieder einsammelte und einsteckte. Dave sah, wie der Profi-Spieler kurz aufblickte und Robin dabei musterte.
Sie spielten um bescheidene Einsätze. Robin gewann und verlor. Offensichtlich in Whiskey-Laune forderte er höhere Einsätze. Die Zahl der Spieler reduzierte sich schließlich auf vier. Während das Gesicht des Profis weiterhin ausdruckslos blieb, konnte man an Robins alkoholseligem Gesicht scheinbar genau sehen, ob er ein gutes oder ein schlechtes Blatt hatte. Es lag jetzt ein riesen Pot auf dem Tisch. Die anderen beiden Mitspieler waren schon ausgestiegen. Der Profi brachte Robin geschickt dazu, sein ganzes Geld zu setzen. Doch bevor beide ihre Karten aufdeckten, blitzte Robins Wurfmesser und blieb zwischen Mittel- und Ringfinger der linken Hand des Profis in der Tischplatte stecken. Als der Spieler instinktiv die Hand wegzog, sah man, dass er darunter zwei Karten versteckt hatte. „Zwei Asse, wenn ich mich nicht irre,“ sagte Robin. Von einem Augenblick auf den nächsten war er stocknüchtern. Der Spieler zog blitzschnell eine kleine Pistole aus dem Ärmel. Aber Dave war mit seinem Colt schneller. Er traf den Falschspieler mitten in die Stirn.
Der Barkeeper versuchte, als erster zu reagieren und sein Schrotgewehr zu fassen. Aber als Jonny mit dem Revolver auf ihn zielte, hob er erbleichend beide Hände. Jonny schnappte sich die Flinte, nahm sie in die Rechte und den Colt in die Linke und richtete beide Waffen auf die Bar-Gäste. Diese erstarrten. Robin zog gelassen sein Wurfmesser aus dem Holz und zeigte den Gästen die beiden versteckten Karten. Es handelte sich tatsächlich um Asse. Dann raffte er einen Großteil des Geldes vom Spieltisch zusammen, stopfte es in die Taschen und zog seinerseits den Revolver. Geordnet verließen die drei den Saloon.
Die ganze Aktion hatte nicht mehr als drei Minuten gedauert. In einer Seitengasse warteten schon die anderen Texaner mit den Pferden. Eine viertel Stunde später waren sie aus der Stadt und schlugen den Weg nach Süden, Richtung Arkansas, Louisiana, Texas ein.
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Unterwegs erreichte sie die Nachricht, dass die Nord- Virginia-Armee der Konföderierten unter General Lee kapituliert habe, im Süden der Krieg aber noch weiterginge. Sie gaben den Pferden die Sporen und erreichten Texas noch rechtzeitig.
Jonny und Dave als Nichtkavalleristen wurden für die Feindaufklärung eingesetzt. Robin stellte ihnen dafür sein Fernglas und seinen Kompass zur Verfügung. Er selbst bekam das Kommando über eine Reiterschwadron.
Jonny und Dave beobachteten mit dem Fernglas wie die feindlichen Reiterarmeen aufeinandertrafen. Sie erkannten, dass Robin mit seiner Schwadron die Angriffsspitze bildete. Revolverschüsse krachten, dann übernahmen die Säbel die Arbeit.
Ihre Tapferkeit nützte den Südstaatlern nichts; sie wurden von der Masse der Unionsreiter erdrückt beziehungsweise auseinandergetrieben. Gegen Abend war die Schlacht entschieden.
Jonny und Dave näherten sich vorsichtig der Stelle, wo sie Robin zuletzt gesehen hatten. Das Feld war mit Leichen und Verwundeten übersät. Sie entdeckten zuerst Robins totes Pferd, dann ihn selbst. Fünf Schüsse hatten ihn aus nächster Nähe in Brust und Bauch getroffen. Er lebte kaum noch. „Bringt mich zu meinem Vater,“ hauchte er ihnen noch zu, dann starb er.