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KAPITEL 1 Das Kind von der Straße
ОглавлениеDas Mädchen mit den braunen Haaren und dem schmutzigen Overall war keine fünfzehn Jahre alt. Sie hatte mit der Welt gebrochen. Dass sie sich hier am Friedhof herumtrieb, war kein Zufall. Wer keine Angst vor Friedhöfen hat, kann diese Orte der Ruhe und Andacht zum Verweilen und Nachdenken entdecken. Die Bäume und Sträucher der Grabanlagen, die geschmückten Steine sind tatsächlich ein Anstoß zur inneren Einkehr. Der Friedhof lag in dem Wiener Außenbezirk Ober St. Veit. Den gibt es wirklich und er gilt als die älteste Spur menschlichen Lebens, nachdem Zeugnisse einer paläolithischen Siedlung hier gefunden wurden. Heinrich II. verschenkte es an die Bamberger Dombrüder, ehe es 1529 und 1683 von den Türken verwüstet wurde. Im Jahr 1762 verkaufte Kardinal Migazzi die Herrschaft St. Veit an Maria Theresia und diese ließ eine Straßenverbindung nach Schönbrunn anlegen, welche seit 1894 »Hietzinger Hauptstraße« heißt. Über diese oder das Wiental erreicht man die Straßen, in denen Albrecht wohnte und den Friedhof. Hat man das Wien-Tal verlassen und folgt den ansteigenden Gassen zum Roten Berg, ist es nicht mehr weit. Am Rande des Lainzer Tiergartens liegt die Gedenkstätte, wo auch Egon Schiele und Gustav Klimt ihre letzte Ruhe gefunden haben. Hier wurde auch der gleichnamige Hollywood-Film über das Leben von Gustav Klimt gedreht, mit John Malkovich in der Hauptrolle. Der Blick über die Stadt Wien und die ruhige Verkehrslage machten diesen Friedhof ganz sicher zu einem besonders inspirierenden Ort. Das Mädchen suchte auf dem Friedhof aber keine Inspiration. Sie war keiner Sekte oder Jugendbewegung zugehörig, die Gothic-Elemente verehrte und hatte kein starkes Verhältnis zu Gott. Sie hasste Gott mit der gleichen Abscheu, mit der sie sich selbst hasste. Auf dem Friedhof strich sie nur an wärmeren Tagen herum, wenn sie die Schule schwänzte. Die Wiener Einkaufsstraßen oder die Innenstadt waren dafür kein guter Ort, weil Massen von geschäftigen Menschen mit Aktentaschen und Einkaufstaschen wie eine Walze jede Ruhe hinwegfegten. Das Mädchen hatte sich im westlichsten Bezirk von Wien und im Wienerwald herumgetrieben, als sie vor einem Platzregen flüchten musste und sich nach erfolglosen Versuchen in Hausfluren in einer der Grüfte versteckte. Sich in den Kellern und Gängen von bewohnten Häusern herumzutreiben, war mit großem Stress verbunden, weil ständig Hausparteien kamen und gingen und man praktisch jederzeit mit großem Geschrei hinauskomplimentiert werden konnte. Die wenigen Nächte, die sie in bewohnten Häusern verbracht hatte, waren schlaflos gewesen, weil ständig irgendwo eine Tür anschlug oder der Lift sich bewegte. Das Flüstern der alten Kastanienbäume am Friedhof, das in manchen Nächten klang, als würden die Menschen, die hier ruhen, von ihrem Leben erzählen, machte ihr keine Angst. Das Mädchen mochte den Friedhof, weil sie in einer Stimmung war, die diesem Flair sehr nahe kam. Viele Habseligkeiten hatte sie nicht bei sich und ihre Kleidung war nicht so schmutzig, wie man es sich bei Land- oder Stadtstreichern vorstellte. Das lag daran, dass sie nicht auf der Straße lebte, sondern bei der Jugendfürsorge gemeldet war und dort betreut wurde. Die finsteren Zeiten, wo man Kinder in dunklen Heimen mit strengkatholischen Schwestern einsperrte, sind vorbei. Der letzte Versuch, gefährdete Kinder in ein sozialpädagogisches Heimkonzept zu integrieren, war in den 70er Jahren die »Stadt des Kindes«, ebenfalls im Westen von Wien. Damals galt die offene Struktur der Jugendbetreuung mit zahlreichen Sportangeboten als enormer Fortschritt, der sich letztlich aber nicht durchsetze. Die Kinder, die dort aufgewachsen sind, sind heute erwachsen. Albrecht hatte einen Schulfreund gehabt, der als Sport-Betreuer in diesen Einrichtungen arbeitete und später sollte das Mädchen auch große Bedeutung gewinnen. Die Gebäude der Kinderstadt wurden mittlerweile abgerissen und in Wohnungen umgewandelt. Das Schwimmbad, die Bibliothek und die Theaterbühne blieben den neuen Bewohnern erhalten. Der Trend der Jugendwohlfahrt ging danach zu anonymen, betreuten Wohngemeinschaften und flexiblen Versuchen, auch Ausreißern immer wieder habhaft zu werden, um sie zumindest mit Streetworkern zu versorgen. Die Auswirkungen der antiautoritären Erziehung, die sowieso eine junge Generation geschaffen hat, die sich wenig sagen lassen will, hat die Betreuung verändert. So war das Mädchen beim Jugendamt und in einer Wohngemeinschaft gemeldet, in der es Pflichten gab und auch die Schulbildung kontrolliert wurde. Dass sie zeitweise ausriss und für einige Tage verschwand, konnte aber nicht verhindert werden. Der Tag, als das Mädchen auf Albrecht traf, war der erste warme Frühlingstag nach einem bitterkalten, aber schneearmen Winter. Die ersten Strahlen der Sonne tauchten die Bäume und Grabsteine in ein orangefarbenes Licht, wie es nur im Frühling oder im Herbst zu bestaunen ist. Es war das erste Mal im neuen Jahr, dass sie auf den Friedhof kam. Schon am Weg von der U-Bahn durch die Gassen hinauf sah sie, dass die Menschen auf den Straßen die Winterjacken abgelegt hatten und hungrig nach Licht das neue Jahr begrüßten. Das Mädchen war froh, dass die Temperatur sommerlich wurde und sie mehr an der frischen Luft unternehmen konnte. Richtige Schwierigkeiten gab es nur, wenn sie die Schulleistungen nicht erbrachte, aber sie war nicht dumm und schaffte es mit wenig Mühe, die Aufgaben nachzubringen und abzuarbeiten. Größere Probleme hatte sie damit, anderen Menschen zu begegnen. Sie war zu einer Einzelgängerin geworden. Für ihre Jugend war ihr kein dunkler Ort dieser Stadt unbekannt. Sie kannte die Plätze der Drogensüchtigen und die Lokale, in denen die Prostituierten auf ihre Freier warteten. Sie hatte gesehen, wie Drogentote nach einem goldenen Schuss in Särge geladen wurden und sich die Gehirnmasse eines Opfers der Russenmafia in einer Seitengasse der Wiener Innenstadt verteilt hatte. Wie in allen großen Städten auf der Welt gibt es auch in Wien eine Seite, die nicht in den prächtigen Reiseführern angepriesen wird. Aber wie langweilig wäre eine Stadt, die nur mit sich schunkelnden Heurigengästen oder barocken Perücken im Schönbrunner Stil identifiziert werden würde. Schließlich hat auch nicht jeder Australier ein Känguru im Garten. Der Übergang von ihrem einst behüteten Leben und dem Leben auf der Straße ging so fließend, dass sie keinen Unterschied bemerkte. Das Mädchen hatte Bekannte in allen Gruppierungen, obwohl sie sich nirgends dazugehörig fühlte. Später würde sie sagen können, dass es zwei Dinge gab, die ihr Leben gerettet hatten: dass sie keine Drogen konsumierte. Sie wusste, was mit den Menschen passierte, die ihnen verfielen. Und ihr Leben veränderte sich, weil sie Albrecht begegnete.