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Rom


»Diese Stadt erzählt in einer Nacht so viele Geschichten, dass ein Buch sie sicher nicht festhalten könnte.«

Vicollo del Gallo ist eine kleine Gasse, die vom Campo de’ Fiori aus zu erreichen ist. Eine von Millionen Gassen in der schönsten Stadt der Welt – Rom! Tausende Winkel und Gassen, Brunnen und Piazze, geheime Orte, die wohl nur der Vatikan kennt, und dieses wunderbare Chaos der von Menschen überfüllten Straßen. Menschen, die das Leben zelebrieren, die trotz des Lärms im Gehen essen und telefonieren, sich lauthals streiten und diskutieren oder sich Liebesbekenntnisse zurufen. Dazwischen die Carabinieri mit ihren schönen Uniformen.

David erwachte und befand sich inmitten einer pulsierenden Stadt, die er so sehr liebte. Wie sein Herz, das wieder zu schlagen begann, um das Leben dieser Stadt aufzusaugen, wie ein Schwamm, um die Leere in sich selbst wieder zu füllen.

Sobald die Sonne untergegangen ist, füllen sich die Piazze, Restaurants und Cafés in Rom mit Menschen: Blumenhändler, Zeitungsverkäufer, Straßenmusiker, Bettler, Händler, die gefälschte Waren verkaufen, Taschendiebe, Damen, die gern nachts ihr Geld verdienen, und viele junge Menschen, die sich hier treffen, um die Nacht zum Tage zu machen.

Diese Stadt erzählt in einer Nacht so viele Geschichten, dass ein Buch sie sicher nicht festhalten könnte. Ach, was für eine wundervolle und verrückte Stadt das war!

Davids Wohnung war klein und lag im zweiten Stock eines Hauses in der Vicollo del Gallo 3, die sich hinter der Piazza Campo de’ Fiori befand und sich zwischen die Rückgebäude zweier Palazzi quetschte, die das Vergnügen hatten, nach vorn hinaus direkt auf den schönsten Platz Roms schauen zu können.

Davids Haus war so klein und schmal, dass es aussah, als würde es sich hinter den zwei Palazzi verstecken wollen. Es war außerdem so schmal, dass man das Gefühl hatte, sich selbst schmal machen zu müssen, um durch die Haustür zu passen. Laura würde sagen, es sähe aus wie ein Puppenhaus.

Die kleine Gasse war so eng, dass er, wenn er das Fenster seines Wohnzimmers aufmachte, dort, wo sein Schreibtisch stand, fast in der Küche der alten Dame von gegenüber saß. Signora Mazzini war eine sehr freundliche alte Dame. Sie begrüßte David zweimal am Tag. Morgens mit einem Kaffee und einem Croissant in der Hand und abends mit einem »Salute« oder »Chin Chin« und einem Glas, gefüllt mit Rotwein. Von Anonymität einer Großstadt konnte hier in der Gasse der Antiquitätenhändler nicht die Rede sein. Sie war eher wie ein offenes Buch. Gefüllt mit Geschichten und Schicksalen von Menschen, offenen Geheimnissen, Verschwörungstheorien und von großen Helden der alten Geschichte Roms.

David war so fasziniert von den Geschichten der einfachen Leute dieser Stadt. Würde man all diesen Geschichten eine Farbe geben oder einen Ton, so würde es eine Symphonie sein, die man jeden Tag aufs Neue hören würde. Manche bezeichneten diese Geschichten der »kleinen« Menschen eher als unbedeutend oder trivial. Nicht so David. Für ihn waren es die wahren Helden der so chaotischen und alten Stadt.

So wie die Geschichten der Familie Mazzini, oder von der wunderbaren Laura, von Signore Martinelli oder Schwester Camilla. Auch wenn es ganz einfache Leute waren, so war ihr alltägliches Leben alles andere als trivial oder unbedeutend. Jedenfalls für David, denn jedes Leben hatte seinen Beitrag, hatte in dem Dasein von uns allen seine Berechtigung. Ob man sich nun begegnete oder nicht, wir waren alle miteinander verbunden.

Es sei so viel gesagt, es war für ihn unmöglich, sich den Geschichten und Dramen, die sich in der Familie gegenüber abspielten, zu entziehen. Er saß ja mehr oder weniger mit ihnen am Küchentisch, wenn er an seinem Schreibtisch saß und Geschichten schrieb. Der Zufall wollte es, dass er Laura begegnete, auf Signor Martinelli und auf Schwester Camilla traf. Und da es ja keine Zufälle gibt, war es eine Geschichte, die vorherbestimmt war. Denn Zufälle sind eine Anordnung von Gesetzmäßigkeiten des Universums. Das nur so am Rande.

Die alte Dame von gegenüber trug jeden Tag schwarze Kleidung, was vermuten ließ, dass ihr Mann vor nicht allzu langer Zeit verstorben war. Dann gab es da noch Franco, ihren Sohn, Antiquitätenhändler und Restaurator, seine Frau Viola, genannt Violetta. Und deren Tochter Delia, die mit fünf Jahren die Pasta der Oma verschlang wie Pulcinella aus der »Commedia dell’arte«. Eine gewisse Ähnlichkeit war nicht von der Hand zu weisen, was sicher die Gene des Vaters Franco zu verantworten hatten. Violetta und Franco wussten sicherlich nicht, dass sie ihrer Tochter den Namen der Geliebten Tibulls gegeben hatten. Doch es gibt in diesem Universum seltsame Gesetzmäßigkeiten, die manchmal schwer zu erklären sind. Sie haben aber durchaus ihre Bedeutung und Berechtigung. Das Universum zu verstehen, ist sicher ein unmögliches Unterfangen. Das heißt aber nicht, dass unser Leben deswegen nicht irgendwann erfüllt vom Glück endet. Denn es will, dass wir glücklich sind und ihm Vertrauen schenken, da alles, was im Universum passiert, aus Licht, Energie und Liebe entsteht.

Das Fenster auf die enge Gasse hielt David tagsüber geschlossen. So war es schön kühl in der Hitze dieses Sommers, die an manchen Tagen unerträglich war. Wenn er nicht an seinem Schreibtisch saß, lag David auf dem Bett gegenüber und folgte seinen Gedanken oder hörte dem Treiben der Stadt zu. Manchmal schlief er auch ein und träumte meist von Vergangenem, das zu verstehen er hergekommen war. Weit weg von allem. Weg von einem Leben, das er nicht führen wollte. Ein Leben, das für ihn nicht mehr lebenswert war.

Wenn er morgens aufwachte, war sein kleines Zimmer in der Vicollo del Gallo 3 erfüllt vom Geruch aus Signora Mazzinis Küche oder der frisch gewaschenen Wäsche, die sie an die Wäscheleine vor dem Küchenfester ihrer Wohnung hängte. Am liebsten hatte David den Geruch des frisch gemahlenen Kaffees am Morgen, den sie traditionell in der sechskantigen Kaffeemaschine zubereitete. Zunächst hörte er das Zischen, bevor der Geruch vom frischen Kaffee zu ihm herüberschwebte. Es zauberte ihm ein Grinsen ins verschlafene Gesicht und flüsterte ihm ins Ohr, dass es Zeit sei, aufzustehen und sich an die Arbeit zu machen.

Das neue Leben

So wie an diesem Morgen. Obwohl es für ihn keinen Grund gab aufzustehen, war er es gewohnt, seine morgendlichen Rituale zu haben. Auch hier in Rom hatte er sie nicht vernachlässigt. Sie gaben ihm immer einen gewissen Halt, besonders an jenen Tagen, als ihn alle vergessen hatten und er allein einen Weg einschlug, den niemand mit ihm teilen wollte. Ein Leben, das ehrlich und gut war. Rituale waren für David sehr wichtig, um sich nicht zu verlieren in den vielen offenen Fragen, die er sich jetzt zu stellen hatte. Ein Tag konnte viele Fragen beantworten und voller guter Momente sein, die sein neues Leben bereicherten und ihn dahin führten, wo das Glück auf ihn wartete. Er dachte über seinen Traum nach, blieb noch einen kurzen Moment auf dem Bett liegen und beobachtete das Licht, das durch die Lamellen der Fensterläden drang und Schatten an die Wände der kleinen Wohnung zauberte.

Wenn man die Schatten länger beobachtete, so erzählten sie Geschichten. ›So wie die Schatten meines Zimmers sich verändern, so wird sich auch mein Leben verändern‹, dachte er. Manchmal sah er sein Leben in den Schatten an der Decke über seinem Bett an ihm vorbeiziehen. Wechselte er aber die Perspektive, so veränderte sich auch das Bild. Das Bild seines Lebens also. Das Bewusstsein veränderte sich! Es ist alles im Wandel. Das wusste David und sah aufmerksam hin. Es war unübersehbar. Seine Sinne waren nicht mehr betäubt. Jetzt waren sie klar und deutlich. Nahmen alles wahr, was um ihn herum passierte. Das Leben war auf einmal viel bunter und schöner, voller Geheimnisse und neuer Abenteuer.

David war nach Rom gekommen, weil er an diesem Ort schon einmal sehr glücklich war. Hier sollte der Wandel seines Lebens beginnen – in Rom. Jetzt war er auch bereit, die Veränderungen zuzulassen. Es war an der Zeit, die Dinge nicht mehr einfach nur passieren und sich mit in den Abgrund ziehen zu lassen, sondern die Schönheit seines Lebens zu erkennen und Teil des Wandels zu werden, und mit der Schönheit aufzusteigen in ein anderes Dasein, ohne Zweifel und Angst, dem zu begegnen, was nun auf ihn wartete.

Den Strom des Lebens musste man fließen lassen. Dazu gehörte aber sehr viel Mut, denn man musste sich neu kennenlernen. Die letzten Jahre waren schwer zu ertragen gewesen und brachten ihn an den Rand der Verzweiflung. Er glaubte nicht mehr an das Gute im Leben. Hatte den Glauben an sich verloren und fühlte sich das erste Mal in seinem Leben einsam, nicht verstanden, ausgegrenzt. Ein Gefühl, das er vorher nicht kannte. Niemand hatte bemerkt, dass er eine Wandlung durchmachte. Dass ihm seine Kraft entzogen wurde, durch Intrigen und Lügen und ein Leben, das nicht lebenswert war. Ein Leben, das nach außen immer perfekt aussehen musste. Sein Leben hatte er bisher mit Menschen teilen müssen, die vor sich selbst davonliefen. David hatte das in ihren Gesichtern erkannt. Diese Zerrissenheit und die Angst, sich selbst zuzugeben, dass sie nicht erkennen wollten, dass sie vor dem Leben davonliefen. Die ihre Entscheidungen in ihrem Leben nur durch Angst trafen. Die sich klammerten an Menschen, Alkohol, Gier und Geld. Doch hinter den Kulissen war alles kaputt und falsch.

Keiner verstand Davids Entscheidung. Keiner konnte verstehen, dass ihn dieses Leben kaputt machte. Am Tag der Entscheidung musste er sich für einen Neuanfang oder für den Tod entscheiden. Er entschied sich für das Leben. Und das war richtig so. Aber von diesem Tag an war er allein. Er stand auf, ging zum Schreibtisch und fing an zu schreiben.

Heute Nacht wachte ich auf und der letzte Satz meines Traumes blieb mir in Erinnerung: Dort, wo Liebe ist, wirst du auch das Glück finden! Seitdem ich wieder hier bin, ist mir so vieles klar geworden und ich fange an, mich wieder zu spüren.

Vieles, was da draußen als Wahrheit gilt, ist für mich nicht die, die ich in mir trage. Die Wahrheit, die ich in mir trage, kann nicht die sein, die ich da draußen sehe. Vieles da draußen ist mir die letzten Jahre entgangen. Ich muss meine Perspektive ändern. Von innen nach außen. Begreife ich die Wahrheit in mir, so werde ich die Wahrheit auch im Außen finden, das weiß ich jetzt.

Ich kann das alles spüren. Alle diese Dinge, die mich umgeben, ändern jetzt meine Perspektive und geben den Schatten meines Lebens ein neues Licht, so wie die an der Decke meines Zimmers. Das, was ich in meinem bisherigen Leben verstanden habe, ist, dass die großen Dinge in den kleinen verborgen liegen. Das bedeutet, wenn ich das Kleine verstehe, begreife ich auch das große Ganze. Vielleicht werde ich hier in dieser alten Stadt die Einfachheit des Lebens und des Glücks begreifen und dieses vielleicht sogar finden.

Ich träume von einem Schmetterling. Er ist weiß und schön. Immer wieder träume ich von ihm. Was will er mir sagen? Ich kann ihn noch nicht verstehen. In meinem Traum folge ich ihm.

Ich habe das Gefühl, dass der Schmetterling zwischen den Zeiten hin und her fliegt. Er bringt mich an seltsame Orte, die ich noch nicht kenne. Ich begegne Menschen, die mir fremd sind. Er fliegt mit mir durch verschiedene Zeiten und Dimensionen und manchmal, da begegne ich mir sogar selbst. Ich habe das Gefühl, dass wir in verschiedenen Dimensionen gleichzeitig existieren können. Ich durchschreite die anderen Dimensionen wie ein Tänzer, durch Raum und Zeit. Manchmal begegne ich ihm auch, wenn ich durch die Straßen und Gassen Roms laufe. Er tänzelt um mich herum, als würde er mir etwas zurufen. Seltsam. Schön!

Wenn die Sterne den Himmel freigaben, die Sonne über dem Horizont der großen Stadt über den Dächern auftauchte und die Stille der Nacht dem bunten Treiben weichen musste, die Luft erfüllt war von dem frisch gebackenen Brot der Bäckereien, dem Geruch vom Espresso der kleinen Kaffeebars, das Quietschen der Fensterläden und das Klappern der Rollos der Geschäfte, die Motorinis, die durch die Straßen und Gassen fahren, die Stadt erweckten, begann ein neuer Tag für die Menschen in Rom.

Ein Tag wie jeder andere? Nein! Ein besonderer Tag wie jeder, der aufs Neue beginnt. So ein Tag wie dieser kann das Leben jedes Menschen verändern. Er ist ein ganz normaler Samstagmorgen. Doch jeder Tag, der uns geschenkt wird, ist ein besonderer Tag. Wenn wir genau hinsehen, dann erkennen wir die Schönheit und die Kraft, die das Leben uns schenkt. Und das jeden Tag. Dass das Leben nicht leicht ist, weiß jeder. Doch viel kräftiger ist das Wunder, das jeden Tag passiert.

David war dankbar für jeden Tag, der ihm geschenkt wurde. Er war hierhergekommen, um sein Leben neu zu beginnen. Zu begreifen, was passiert war. Er hatte sich entschlossen, weiterzuleben, dieses Leben nicht zu verlassen.

Er kehrte an diesen Ort zurück, wo das Glück seine Seele gestreift hatte und ihm zeigte, wie wundervoll das Leben sein kann. Oft hatte er sich in den letzten Jahren hierhergeträumt, in den Nächten voller Schmerz und Hoffnungslosigkeit. Für einen Moment konnte er dann alles vergessen und fühlte so etwas wie Glück.

Er genoss das Leben jetzt hier, so wie an diesem Samstagmorgen. Signora Mazzini hängte die Wäsche auf, wie sie es immer samstags tat. Dann machte sie das Frühstück. Die sechseckige Kaffeemaschine stand schon auf dem Herd und zischte und pfiff. Das Geräusch, das David von gegenüber so gut kannte. Der Duft von Signora Mazzinis frischem Kaffee stieg in seine Nase. Das Leben war so einfach und schön.

Glücklich über die Erkenntnisse, die er aus seinem Traum der letzten Nacht noch in seinem Bewusstsein hatte, machte er sich auf den Weg zur Piazza. Dort wollte er sich ein Frühstück holen und sein Gesicht in die Sonne strecken, bevor der Tag so heiß würde, dass man sich wieder in die kühlen Räume zurückzog. Wer konnte, fuhr natürlich ans Meer und verbrachte den Tag damit, in die Wellen zu springen. David hingegen wollte an seinem Buch weiterschreiben und zog es vor, sich nach dem Frühstück wieder an den Schreibtisch zu setzen.

Das Kaffeehaus an der Ecke, zwischen der Piazza Campo de’ Fiori und der Vicollo del Gallo, hatte sich kaum verändert. Obwohl es jetzt schon zwölf Jahre her war, dass David das letzte Mal hier gewesen war, sah es noch genauso aus wie früher und vermittelte ihm das Gefühl, als wäre kaum Zeit vergangen.

Wie schön wäre es, wenn alle diese vergangenen Jahre nicht existierten. Wenn er nicht fortgegangen wäre, diese Stadt nicht verlassen hätte. Was wäre dann wohl aus seinem Leben geworden? Er dachte lange darüber nach, während er in der Sonne saß und das Treiben auf der Piazza beobachtete. Eines war klar, sein Leben wäre völlig anders verlaufen. Vielleicht wäre ihm vieles erspart geblieben. Aber wer wusste das schon. David machte sich ein paar Notizen zu diesen Gedanken.

Die Leichtigkeit und das Glück, das ich damals hier empfand, war so unbeschwert und schön, wie es wohl nur selten Menschen wie mir begegnet.

Dabei beobachtete er, wie sich ein älterer Herr an einen Nebentisch setzte. Er war groß und sah aus wie aus einem italienischen Film der 1960er-Jahre. Er war sehr gut gekleidet und trug in der einen Hand eine Zeitung und einen Blumenstrauß. In der anderen Hand hielt er einen Gehstock, mit dem er sein rechtes Bein entlastete. Das Sonderbare war nicht das aristokratische Erscheinungsbild dieses Herrn, sondern dass er zu jemandem sprach, der gar nicht da war. Zumindest hatte David diesen Eindruck. Er konnte sich auch irren, doch er fand es sonderbar. Vielleicht rief er auch nur nach der Bedienung. Die junge Frau, die heute Morgen Dienst hatte, unterhielt sich allerdings gerade mit einem anderen Gast. Als sie ihn jedoch bemerkte, unterbrach sie sofort das Gespräch und begrüßte ihn mit »Buongiorno, Signor Martinelli!«

David kannte diesen Namen. Ja, er war diesem Mann schon einmal begegnet. Er konnte sich allerdings nicht mehr erinnern, wo. Signor Martinelli war sehr freundlich und machte der jungen Frau wohl auch ein paar Komplimente oder schenkte ihr ein paar schöne und aufmerksame Worte, die ihr Gesicht erhellten. Der aristokratische Mann war vom Leben gezeichnet. David konnte seinen Schmerz spüren. Er konnte sich das nicht erklären, aber spürte deutlich, dass der Mann litt. Ein Gefühl, das David sehr gut kannte.

Die junge Dame nahm die Bestellung auf, ließ den Mann mit seiner Zeitung und den Blumen allein und verschwand im Kaffeehaus an der Ecke. Je mehr David darüber nachdachte, woher er diesen Mann kannte, desto mehr Bilder tauchten in seinem Kopf auf, die er schon vergessen hatte. Wie ein Buch, das man im Regal wiederentdeckt und durchblättert.

Es war eine Eigenart des menschlichen Daseins, dass viele Momente in einem Leben, besonders die in der Kindheit, schnell vergessen werden. Andere wiederum sind so präsent, als wären sie erst gestern gewesen – Zeit. David schrieb in sein Notizbuch:

Die Zeit

Der Zeitgeist ist mir oft nicht zeitgeistreich genug, da die Zeit doch relativ ist. Ob die Zeit reicht für das, was wir vorhaben, in der Zeit, die uns geschenkt wird, hat damit zu tun, was wir mit der begrenzten Zeit im Bewusstsein tun. Wenn wir wissen, dass die Zeit nicht zeitlos ist, dann ist die Zeit viel wertvoller für den Augenblick. Dann schärft sich das Bewusstsein – für den Augenblick. Augenblicklich erkennen wir dann, wie wunderschön das Leben sein kann. Zeitnah ist es ratsam zu begreifen, dass rastlos die Zeit an uns vorbeizieht. Es ist Zeit, neue Wege zu gehen.

Zurzeit ist für mich der Moment das Wichtigste. Denn meine Zeit ist jetzt. Der Augenblick. Das Hier und Jetzt. Für mich ist die Zeit zu vergeben, die Zeit der Dankbarkeit. Zeit für mich, einen Weg zu gehen, den ich noch nicht kenne. Es wurde Zeit! Mein Blick ist nicht auf Vergangenes gerichtet. Die Zeit ist schon verloren, schon geschehen. Im Bewusstsein gilt es, den Augenblick zu erfassen in seiner Ganzheit. Das erfordert viel Zeit. Sollte es wahr sein, dass die Gegenwart nur die Zeit von drei Sekunden andauert, dann muss ich mich beeilen. Andere Länder leben zwar versetzt in der Zeit, dennoch ist deren Zeit dieselbe. Auch das macht uns »gleich«. So viele Hinweise zeigt uns das Leben und es wird Zeit zu begreifen, dass wir alle eins sind. Eins mit der Zeit!

Ist es nicht Zeit, sich zu begegnen? Ein neuer Zeitgeist ist doch schon zu spüren. Der Wandel ist zu erkennen. Ein neues Bewusstsein gibt uns die Chance, sich die Zeit zu nehmen und aufeinander zuzugehen. Also warum nicht sich die Zeit nehmen, auf Menschen zuzugehen. Es besteht kein Grund, Angst zu haben. Die Angst der Menschen heutzutage entsteht nur dadurch, dass sie allein gelassen werden. Würde man jeden mit Respekt behandeln, wenn das Bewusstsein allgegenwärtig wäre, dass wir alle Menschen sind, die nur begrenzte Zeit geschenkt bekommen haben? So sollten wir die Zeit miteinander nutzen, um die Dinge für die, die noch mehr Zeit haben, zu ändern. Sodass man sich an ihnen erfreuen kann. Ohne Angst vor Unterdrückung. Ohne ihre Menschenrechte zu verletzen. Ohne die Grausamkeiten der Vergangenheit (Zeitzeugen gibt es genug, die uns warnen) wieder aufkommen zu lassen. Wir sollten ihnen die Einsamkeit, die Angst, die Hilflosigkeit durch Achtsamkeit und Liebe nehmen. Zeit heißt Zukunft. Starke Worte. Sie sagen aber alles, was nötig sein sollte, um zu begreifen, dass der Augenblick sehr viel bewegen kann.

Es gibt Zeiten, da fällt es mir schwer, die Augen zu schließen und mir Ruhe zu gönnen. So viel geht mir durch den Kopf. Gedanken kreisen und was bleibt, sind oft Sorgen. Mir ist klar, dass ich mir die Zeit nehmen muss, um das zu sagen, was ich fühle und denke. Es ist nicht die Zeit der Stille. Es ist die Zeit des Austausches. Nehmt euch Zeit, in euch zu gehen, und nehmt euch die Zeit der Begegnung mit euch selbst und mit anderen.

David schaute auf die Uhr und stellte fest, dass es Zeit für ihn war, weiter an seinem Buch zu schreiben und sich an seinen Schreibtisch zu setzen. Er bezahlte das Frühstück und warf noch mal einen Blick auf Signor Martinelli, der in seine Zeitung vertieft war.

Als David wieder vor seinem Haus ankam, blieb er stehen und betrachtete, wie sich dieses kleine Häuschen zwischen die Rückgebäude der zwei Palazzi quetschte. Majestätisch und stolz standen sie da. Die Menschen, die über die Piazza liefen, blieben oft vor ihnen stehen und bewunderten sie, machten Fotos und hörten sich ihre Geschichten an. Viele Staatsmänner und Diktatoren hatten sie bewohnt. Sie hatten Kriege überlebt und auf die Geschichte der Welt großen Einfluss gehabt. Sein kleines Häuschen hingegen hatte mit all dem wohl nichts zu tun. Es sah eher so aus, als würde es sich verstecken wollen, als hätte es hier nichts zu suchen. Nun stand es da und passte da eigentlich nicht hin, in der kleinen Gasse der alten Antiquitätenhändler. Einige Maler hatten sich hier angesiedelt. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Die Gasse war so klein, dass selbst die Vespas kaum durchfahren konnten. Die kleinen Läden, die aussahen, als würden sie sich hier verstecken, hatten nur zwei kleinen Häusern Platz gemacht: dem der Familie Mazzini und dem kleinen Häuschen gegenüber, in dem David wohnte.

Er legte sich aufs Bett, ließ für einen Moment die Augen zufallen und genoss diesen Augenblick. ›Ich bin in Rom, dem Ort, der mich schon einmal so glücklich gemacht hat, was ich nie vergessen kann‹, dachte er. Jeder Augenblick, jeder Moment war ihm im Gedächtnis geblieben. Selbst nach all der Zeit. Hier war er glücklich und sicher. ›Hier ist das richtige Leben.‹ Hierher hatte er sich immer geträumt, in den Nächten der Qual und der Angst. Hier sollte es sein, hier wollte er sein neues Leben beginnen. Ein Gefühl von Freiheit überkam ihn. Hier war es gut. ›Ich bin zurück.‹ Er atmete tief aus und schlief ein.

Als er wieder aufwachte, schaute er zur Decke seines Zimmers. Da waren sie wieder, die Schatten. Er kannte sie nur allzu gut. Vor vielen Jahren hatte er genauso dagelegen. Doch das Gefühl von damals war anders. Auch lag er damals nicht allein. Jetzt war es wieder so, als würden die Schatten an der Decke ihm Zeichen geben. Figuren bildeten sich und verformten sich nach einem Moment. Damals hatten sie Stunden an die Decke gestarrt und Figuren erfunden, ihnen Namen gegeben. Geschichten erfunden und viel gelacht. Liebe gemacht und waren glücklich, frei und das Leben war leicht. Wie der Flug eines Schmetterlings.

Jetzt fühlte sich sein Körper schwer an und die Knochen taten ihm weh. Doch das Gefühl der Zufriedenheit spürte er tief in sich. Er schloss die Augen und lauschte dem Treiben der Stadt. Ein buntes Treiben. ›Wo buntes Leben ist, dort findest du auch Sinnlichkeit. Hier ist genau der richtige Ort, um mein Leben neu anzufangen‹, dachte er.

Einmal hatte David die Liebe gespürt. Eine Liebe, die unbeschreiblich war, so groß, so lebendig und schön, dass sie unendlich schien. Keine Worte gab es, diese Liebe zu beschreiben. Sie war so unglaublich schön, dass er sich jeden Moment neu in sie verlieben konnte. Nicht nur die äußere, nein, es war auch die innere Schönheit, die es wohl kein zweites Mal auf dieser Welt gab. Es war Halt und Fallen zugleich. Sie waren auch heute noch bestimmt füreinander, doch die Unruhe der Unstetigkeit und die Ungeduld, die dem ein Ende gesetzt hatte, waren sehr schmerzhaft. Er konnte sie jedoch noch spüren. Ein Spiel zwischen Wagen, Hoffen, Aufgeben und Angst. Unerheblich, aber doch präsent und real. Leider. Wo mag sie wohl gerade sein und wie fühlt sie sich in den Armen eines anderen Mannes? Selbst wenn sie mit einem anderen Mann zusammen war, wusste er, dass er derjenige war, der ihre Einzigartigkeit spüren konnte. ›Jedes noch so kleine Gefühl und jede noch so kleine Hoffnung ist in mir‹, sagte sich David.

Er hasste sich dafür, keine Kraft gehabt zu haben, zu ihr zu rennen und sie in den Arm zu nehmen. Auch jetzt noch hielt ihn etwas zurück, das er sich nicht erklären konnte. Vielleicht war sie noch nicht so weit und würde aus dieser so zarten Liebe eine zerstörerische Wut entwickeln. War das der Grund für diese Konsequenz oder lag es an seinem Zögern? Er wusste es nicht. Sie hinterließ ihm Sätze auf seinem Telefon, die David vor Schmerz in die Knie zwangen, nach vielen Worten der Glückseligkeit. Wie wahr und schön, dass alles zu passen schien. Wir beide sind noch nicht so weit, obwohl wir schon da sind, wo keiner sein kann, denn diese Liebe ist füreinander bestimmt! Das fühlte David ganz tief in seinem Innersten. Das Leben wäre um einiges schöner mit ihr und ein verlorenes, ohne ihr je begegnet zu sein.

Er war hier in Rom, um das alles hinter sich zu lassen und seinem Leben eine neue Chance zu geben. Die Einfachheit und das Wesentliche ist das Einzige, was im Leben wirklich zählt. Das Gefühlte »Ich habe alles, was ich brauche, in mir im Herzen und in meiner Seele« ist das Ziel. Keine Abhängigkeit mehr in Davids Leben, von nichts und niemandem. Aber bis dorthin war es noch ein langer Weg, das wusste er.

Es gab Tage in Davids Leben, da regnete es Nägel vom Himmel. Vergeblich hatte er versucht, seine Wunden zu lecken. Doch seine Wunden waren so groß, dass nur die Liebe sie heilen könnte. Deswegen war er nach Rom gekommen. Hier, wo er schon einmal glücklich war. Hier wollte er ein neues Leben mit Menschen leben, die ihm guttaten. Wie viele unzählige Stunden hatte er schon mit Menschen verbracht, die keine wirklichen Freunde waren. Die alles von ihm nahmen. Seine Energie, sein Geld, sein Vertrauen. Menschen, die ihn schwach gemacht hatten. ›Ich bin ihnen nicht böse‹, dachte David. ›Man kann ihnen eigentlich wirklich nicht böse sein, denn sie suchten nur Halt und Bestätigung. Und für einen Moment gibst du ihnen das auch. Menschen, die nie glücklich oder zufrieden sein werden. Die Gier nach mehr hat sie im Griff.‹

Vielleicht war ihm auch nicht bewusst, dass unmerklich das Geheimnis der Dualität des Universums ihn hierhergeschickt hatte. Denn Rom, Ewige Stadt, hatte seinen Namen einem Dichter zu verdanken. Eine ziemlich tragische Geschichte. Sein Name war Tibull. Man weiß nicht viel über ihn, denn die Schriften, die man über diesen Mann, der aus einer alten und sehr wohlhabenden Ritterfamilie stammte, sind zufällig auf mysteriöse Weise verloren gegangen. Eines dieser kleinen Geheimnisse Roms. Was man aber weiß, ist, das Tibull um 18/19 vor Christus noch sehr jung gestorben sein muss. Es gab noch einen Nachruf des Dichters Domitius Marsus. Tibull sehnte sich nach einem ruhigen und friedlichen Leben mit seiner geliebten Delia.

Im Jahr 31 vor Christus muss es wohl gewesen sein, als sein Freund Markus Valerius Messallas Tibull aufforderte, ihn in den Feldzug nach Aquitanien zu begleiten. Zunächst lehnte er ab, aber dann folgte er seinem besten Freund. Tibull wurde auf der Reise krank. Sie ließen ihn auf der Insel Korfu zurück. Enttäuscht schaffte er es bis nach Hause zurück. Doch dann erwartete ihn ein ganz anderes Leben als das, was er sich erträumt hatte. Seine geliebte Delia hatte sich für einen Mann entschieden, der noch viel reicher war als er. Dieser Traum blieb ein Traum und was dann passierte, war noch schlimmer. Man vermutete, dass Tibull nach dem römischen Bürgerkrieg enteignet worden war. Das Letzte, was man von ihm hörte, war, dass er als armer Mann den Trost im Alkohol suchte. Mehr weiß man nicht über Tibull. Dieser Mann gab dieser Stadt ihren Ehrennamen – Rom, die Ewige Stadt!

Das sind Wunden, die kaum zu heilen sind. Davids Leben war vergleichbar mit dem Leben Tibulls, erklärbar mit der Synchronisation des Universums, die zeigte, dass wir alle miteinander verbunden sind. Nicht nur im Hier und Jetzt. Nein, auch in anderen Dimensionen, zur selben Zeit. Deswegen sollte man jeden, dem man begegnet, gut behandeln, denn jeder ist ein Teil von dir. Wer weiß, wenn du ihn wiedertriffst, was er dir dann bedeuten wird? David konnte den Baum der Verbundenheit sehen, als sein Herz aufhörte zu schlagen. Die Energie, das Licht war geflossen und hatte sich verändert. Das Universum schaffte neues Leben und nahm wieder welches. Wie eine Welle. Doch nichts verschwand für immer.

So wie das Lied, das der Junge auf seiner Gitarre im Hof der Entzugsanstalt spielte. Es war der einzige Moment, in dem die Stimmen und die Schreie nicht mehr zu hören waren. Ja, es war eine Zeit, die er nie vergessen würde. Bilder, die sich in seinen Kopf eingebrannt hatten. Bilder von körperlichem und seelischem Schmerz, von Ängsten und dem Gefühl, versagt zu haben. David wollte alles richtig machen und konnte diesen Schmerz nur betäuben, um durchzuhalten. Weitermachen, weitermachen und bloß nicht aufgeben. So lange, bis sein Körper nicht mehr wollte. Alles auf eine Karte. Männer weinen nicht, hatte er von seinem Vater gelernt. Ein Mann war stark und zeigte Rückgrat. Sein Vater lebte ihm eine Welt vor, die es nicht gab. Sicher, weil er keine Gefühle zeigen konnte. Wie gern würde er jetzt mit ihm sprechen. Jetzt, wo sein Leben neu begann. Diesen Wunsch trug er schon sein ganzes Leben mit sich herum. Vielleicht würde es eines Tages so weit sein, dass sein Vater dazu bereit wäre. David wusste es nicht. Doch die Zeit wartete nicht darauf und er hatte es schon aufgegeben, hatte kapituliert, ein wartender Sohn zu sein, der immer wieder abgewiesen wurde.

David würde das Lied immer im Gedächtnis bleiben. Es blieb für immer, so schön, so melancholisch. Es handelte von Einsamkeit und Liebe, von Vertrauen und von Schreien, die man nicht hört. Tränen waren ihm heruntergelaufen, als er dem einsamen Sänger von seinem kleinen Fenster aus zusah. Er saß da, ganz allein, mit einer Zigarette im Mund und sang dieses Lied. Immer das gleiche Lied, jeden Tag zur selben Stunde. Unverbesserlich.

Nachts waren dann wieder die körperlichen Schmerzen gekommen und der Körper krümmte sich wie unter Strom. Er konnte seine Hände nicht kontrollieren und sein Kopf schien zu explodieren. Es waren die Momente, wo er aufgeben und sein Leben beenden wollte. Die Schmerzen waren unerträglich, aber einer von ihnen da draußen vor den Mauern wollte er auch nicht mehr sein. Mit leeren Mägen und starren Blicken. Die Hände in den Taschen, weil das Zittern nicht aufhören wollte. Der Gedanke, der nur noch an der Flasche klebt, wie das Etikett. Arme, verlorene Seelen, die wir alle vergessen haben – sie sind unter uns. Viele Menschen, denen keiner helfen will. Unter all diesen schönen und glücklichen Menschen, die keine Sorgen haben und schnelle Autos fahren, die in großen und warmen Häusern wohnen. Die sich selbst nicht eingestehen wollen, dass sie vielleicht auch einer von uns sind. Von uns vergessenen Alkoholikern. Der Alkohol ist der Teufel. Er ist immer da, wenn es dir schlecht geht, und verspricht dir, dass alles gut wird, wenn du bei ihm bleibst. Für einen Moment hält er sein Versprechen. Doch er nimmt sich dabei deine Seele, ohne dass du es merkst. Wenn er dich dann kontrolliert, lässt er dich fallen und sucht sich ein neues Opfer.

David wusste damals, wenn er dieses kleine sechs mal zwei Meter große Universum in der Anstalt verlassen wird, dass dann der große Kampf erst anfängt. Dort war er sicher. Doch wenn sich das Tor für ihn öffnen würde, mit dem Koffer in der Hand, die ersten Schritte nach draußen wagend, dann begann ein anderes und sehr einsames Leben.

›Du musstest ein neues Leben beginnen und dich von allem trennen, was dich wieder in die dunklen Gänge der Anstalt bringen könnte. Doch die Versuchung und die Verlockung sind überall. Der Teufel lauert und wartet auf seine nächste Chance. Du läufst in einer Welt herum, die nicht mehr deine ist. Die Welt da draußen war eine fremde geworden. Du hattest Freunde, von denen du dich trennen musst. Du wirst verschwinden müssen. Dort, wo er dich nicht finden kann. Ganz weit weg.

Bist du aber stark genug, dann wartet eine wunderbare Welt auf dich, die du schon lange vergessen hast. Von der du glaubtest, dass es sie gar nicht mehr gibt. Eine Welt, die ehrlich und schön ist. Ohne Angst, Lügen und bösen Versprechungen. Du wirst wieder andere Dinge wahrnehmen können. Du wirst wieder du selbst sein und vielleicht wird deine Hand so ruhig, dass du wieder schreiben kannst. Du brauchst auf jeden Fall einen Ort, der dich glücklich macht – für mich ist es Rom.‹

Für David zählte nur noch der Augenblick. Zeit war für ihn eine Relation, die nicht mehr relevant war. Jeder gelebte Moment in seinem Leben war Glück und einzigartig. Heute konnte er es erkennen. Er hatte gelernt, nur für den nächsten Augenblick zu leben und alles um sich herum aufzunehmen, seinen Geist zu öffnen und wieder Gefühle zuzulassen. Er hatte Angst so zu empfinden, denn es konnte ihm im nächsten Augenblick wieder alles genommen werden. Also hatte er sich in sich selbst zurückgezogen. Jetzt, wo er sich entschieden hatte, ein neues Leben zu leben, war er bereit, er selbst zu sein. Ein großer Schritt für David. Er war bereit, seine Hände aus den Taschen zu nehmen.

Augenscheinlich sind diese Momente Augenblicke! Momentaufnahmen von Situationen, die wie die Realität aussehen. Manchmal aber sind sie nicht das, was sie zu sein scheinen. Denn oft ist das, was du da draußen siehst, nicht das, was es wirklich ist. Was du aber in dir siehst, ist oft nicht das, was da draußen ist. Ich sehe Menschen, die Dinge tun, die mir sagen, dass die Realität nur ihre eigene ist, die sie sich selbst erschaffen. Das ist natürlich leicht, den Dingen so aus dem Weg zu gehen. Konfrontation? Wer will das schon. Wenige. So sind Augenblicke nur Erinnerungen an etwas, was einmal augenscheinlich gewesen ist. Doch wie schön kann man sich eine Welt erschaffen, die für andere groß und voller Inhalt ist, die weise und klug aussieht, die aber zwei Seiten hat. Sie sind alles andere als weise und klug. Damit zu leben ist sicher nicht leicht! Viele können das nicht mehr sehen. David verzweifelte daran. Sie wusste es. Sie schien die Einzige zu sein, die das erkannte. Das war so wundervoll und hatte ihm sehr viel Kraft gegeben und gezeigt, dass er nicht allein war.

Menschen zu lieben und nie die Gelegenheit zu haben, es ihnen zu zeigen, ist schwer. Von Liebenden zurückgewiesen zu werden, weil man nicht so sein kann, wie man ist. Ein guter Sohn zum Beispiel! Alles machte man dafür, zu zeigen, wer man ist, und dass es so auch gut ist, ist noch schwerer. Es tat weh. Auch das trug David in seinem Leben mit sich herum. Bis er eines Tages der Liebe seines Lebens begegnete, die nun in den Armen eines anderen liegt. Was für eine traurig verschwendete Zeit!

Das sind Momente, die werden dir irgendwann wieder klar vor Augen stehen. Und sie werden wehtun. Momente sollte man teilen, mit seinen Liebsten. In diesem Leben, solange man noch Zeit dazu hat. Ich habe in Augen geblickt, die waren so rein und klar, dass es einem unter die Haut geht. Reflektiert von Auge zu Auge, zeigen sie dir die Welt, die voller Liebe und Schönheit ist. Die dich glücklich machen, auch vielleicht nur für einen kurzen Augenblick. Diese Momente sind ein Geschenk! Wachsam sollte man sein. Dankbar für solche Momente. Wie kurz so ein Moment sein kann, habe ich gespürt und erlebt. Das war die schönste Liebe, die ich je erlebt habe! Alles hat seine Zeit, seinen Moment und seinen Augenblick. Die Jahreszeiten und das Leben an sich. Auch wenn es zwischen zwei Menschen still ist, ist dennoch ein Gefühl da. Seinem Leben einen Moment, einen Augenblick der Wahrheit geben und sich besinnen, um dann loszulassen. Der Augenblick des Loslassens ist der Augenblick der Freiheit.

David hätte sich den Blick auf die offensichtliche Wahrheit schon viel früher selbst eingestehen müssen. Denn es war nicht sinnvoll, die Wahrheit eines anderen zu leben. Doch das Loslassen war keine einfache Sache für David. Aber jetzt hatte er eine zweite Chance bekommen.

Der leise Ruf des Schmetterlings

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