Читать книгу Der leise Ruf des Schmetterlings - Hardy Krüger jr. - Страница 9
ОглавлениеSo eine Nacht wie diese …
»Das Karussell des Lebens drehte sich weiter und nahm David mit auf eine Reise, die er nicht kannte.«
Er wachte auf und merkte, dass die Schatten an der Wand in die Ecke des Raumes gewandert waren. Nur ein kleiner gelber Sonnenstrahl der Nachmittagssonne schien durch eine Ritze der Fensterläden. Er hatte in den Nachmittag hinein geschlafen. Sein Magen knurrte. Er ging zum Kühlschrank und sah, dass schon alles aufgebraucht war. Er wollte aber noch ein paar Sätze schreiben, daher setzte er sich an den kleinen Schreibtisch, legte seine Finger auf die Tasten seines Laptops und hielt einen Augenblick inne. Dann holte er tief Luft und fing an zu schreiben. Er hörte erst auf, als er bemerkte, dass es draußen dunkel geworden war.
Es wurde Zeit, die kleinen Lamellenfensterläden zu öffnen, die er tagsüber geschlossen hatte. David ging zum Fenster und öffnete die Fensterläden. Es war Nacht geworden in Rom. Das war die Zeit, in der die Stadt ihr zweites Gesicht zeigte.
Signora Mazzini von gegenüber holte gerade die Wäsche herein. Die Rituale hatten sich nicht geändert. Das tat sie schon vor vielen Jahren, als David das erste Mal hier war. Sie erkannte ihn nicht, grüßte aber freundlich. Und sie trug wieder das schwarze Kleid. Ihr Mann Enzo war gestorben. David hatte Enzo gekannt und war sehr betroffen. Er konnte sich noch gut an die Gespräche mit ihm erinnern. Er war ein guter Mensch mit einem großen Herzen. Er liebte das Leben, gutes Essen und den Wein. Enzo war ein lustiger und amüsanter Zeitgenosse. Er hatte als Hilfsarbeiter in Deutschland gearbeitet, um seine Familie zu versorgen und seinem Sohn eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Er hatte sogar so viel Geld verdient, dass die Familie es schaffte, die Satellitenstadt vor Napoli zu verlassen. Das gelang nicht jedem. Wer einmal dort gelandet war, schaffte es selten, dort wieder herauszukommen. Enzo hatte es geschafft. Sein Sohn erhielt eine gute Ausbildung und die Familie zog nach Rom. Auch wollte er schon immer in Rom leben. Durch die harte Arbeit in Deutschland jedoch hatte er seinen Körper so geschunden, dass es ihn bald das Leben kostete. David war traurig darüber, dass er ihn nicht mehr sehen konnte, bevor er starb. Einmal hatte er zu David gesagt: »Egal was du tust, das Wichtigste ist die Familie, vergiss das nie, mein Freund!«
David sah den Schmerz in Signora Mazzinis Gesicht. Die Trauer war ein Zustand, der so schmerzhaft war, dass man ihn kaum ertragen konnte. David kannte das nur allzu gut. Frauen sind viel gefasster als Männer, so war Frau Mazzini auch. Sie erledigte ihren Haushalt, als wäre er noch am Leben. Bestimmt hingen noch seine Hemden im Schrank und seine Schuhe standen immer noch an seinem Platz. Doch der Schmerz des Verlustes war so groß, dass ihre Tränen über die Wangen flossen und sicherlich vom Kopfkissen aufgefangen wurden. Ihr Schluchzen war so leise, dass man es kaum hörte. Ihre Hände hielten dabei die Kette mit der heiligen Maria. Und sie wird allein bleiben. Für viele Jahre. Vielleicht wird sie auch allein sterben und sich dann zu ihrem Mann legen.
Es wurde Zeit, sich in die Nacht zu stürzen. Er schloss das kleine Fenster, zog sich ein frisches Hemd an und schnappte sich seinen Schlüssel. David ging die Gasse bis zum Ende, dort, wo das Kaffeehaus an der Ecke stand. Die Piazza war mittlerweile so voll, dass es kaum möglich war, sich zu bewegen. Musik drang aus allen Lokalen. Die Leute lachten und tanzten. Die Taschenverkäufer drängelten sich durch die Menschenmenge. Immer ein Auge auf die Carabinieri, die aber eher damit beschäftigt waren, die hübschen Frauen zu unterhalten. Die Blumenverkäufer packten gerade ihre frischen Blumen aus. Auch die Zeitungsverkäufer waren schon da. Und der Karussellbesitzer am Ende der Piazza stellte sein altes Karussell für die Kinder auf.
›Was für eine Stimmung! Das ist das Leben‹, dachte David. ›Nacht für Nacht auf den Piazze von Rom. Sie sind so gefüllt mit Menschen, dass man sich durch sie hindurcharbeiten muss, um ein Lokal zu erreichen. Hier startet man durch die Nacht. Alle Informationen laufen hier zusammen.‹ »Hey, Simonetta gibt eine Party, nein, wir gehen auf die Rooftopparty! Oh, lass uns erst was essen gehen. Wir können einfach hierbleiben …« Die Diskussionen waren auch meistens dieselben. Die Stimmung kochte und alle waren motiviert, etwas ganz Besonderes aus der Nacht zu machen. Überall war Musik zu hören und der Wein floss, man spürte das Leben. David sah lachende Gesichter, tanzende Menschen, hoffnungsvolle Blicke der Verkäufer, Gläser und Flaschen, die durch die Menge wanderten, Rufe und Songtexte streiften seine Ohren, die Luft war heiß und stickig. Das Hemd klebte schon auf der Haut. Ja, das war Leben.
Das Wiedersehen
Plötzlich wurde David eine Flasche Wein durch die Menge gereicht. Auf dem Etikett war eine Notiz. Darauf stand: »Ciao Bello!« David sah sich um, konnte aber nicht erkennen, von wem die Flasche kam. Auf einmal packte ihn jemand von hinten. Es war Danielle und ein paar andere Freunde. »Wir haben schon gehört, du bist wieder da. Komm mit, wir gehen zu Manuelle, der feiert seinen Einzug in sein neues Zuhause! Der freut sich sicher, dich zu sehen, mein Freund. Mann, ist das schön, dass du wieder da bist! Wie lange bleibst du? Hoffentlich bleibst du jetzt endlich für immer! Ich kenne da noch ein paar andere, die sich freuen, dich wiederzusehen, David! Wenn du weißt, was ich meine«, dabei zwinkerte er.
Danielle gehörte zu den Italienern, die nicht nur mehr redeten als alle anderen, die David kannte. Danielle sprach sogar noch schneller als alle anderen. Vor allem hatte David keine Chance zu antworten. Es war unmöglich. David versuchte es zwar, aber bevor er auch nur einen Ton von sich geben konnte, hatte Danielle David gepackt und in ein kleines Auto gezwängt, zusammen mit vier Leuten, die er nicht kannte. Das ist nichts Ungewöhnliches in Rom.
Sie rasten durch die kleinen Straßen. Die Musik dröhnte aus der Anlage des »Topolino«. So nannte man den Fiat 500 in alten Zeiten. Alle sangen mit und bei jeder Kurve saß das Mädchen links neben David auf seinem Schoß und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Die Fahrt dauerte nicht lange, so wie Danielle fuhr. Sie hätte ruhig noch ein wenig länger dauern können, wenn es nach David gegangen wäre. Bevor sie ausstiegen, drehte sich Danielle zu ihm um und lachte: »Denk dir nichts dabei, David, Stella verliebt sich jede Sekunde neu!« »Ach ja«, sagte der und schaute Stella an. Sie war wirklich sehr hübsch. Nun ja, jetzt kannte er zumindest ihren Namen. Man sagte, die Gegenwart dauere gerade einmal drei Sekunden. Stella lebte also immer im Hier und Jetzt. Großartig! Vielleicht hatte das auch mit ihrem Namen zu tun. Stella heißt übersetzt Stern. Bevor sie ausstiegen, schenkte sie David noch ein süßes Lächeln, das sie sicher in diesem Moment schon wieder vergessen hatte. Es lag ja bereits in der Vergangenheit.
Manuelles neues Haus lag in einem schönen Viertel Roms, Ponte Milvio. David hatte Manuelle bei seinem letzten Aufenthalt hier in Rom kennengelernt. Er war damals noch sehr jung und versuchte gerade, im Filmgeschäft Fuß zu fassen. Damals war er Fahrer und fuhr Schauspieler an die Drehorte. Heute war er selbst Produzent. ›Er hat etwas aus seinen Träumen gemacht‹, dachte David, als er vor diesem wirklich schönen Haus stand. David freute sich für ihn. Er hatte ihm damals gesagt: »Es macht mich sehr glücklich, wenn ich sehe, dass Menschen an ihren Träumen festhalten und sich nicht von ihrem Weg abbringen lassen.« Manuelles Weg war nicht leicht. Nicht weil die Industrie im Allgemeinen eine sehr schwierige war. Die Steine, die auf seinem Weg lagen, waren für eine zarte Seele wie Manuelle sehr schwer und groß. David konnte sich noch an viele Gespräche erinnern und an Manuelles Zweifel und Ängste.
Er war Manuelle in einer Zeit begegnet, als der spürte, dass er sich eher zu Männern hingezogen fühlte als zu Frauen. David war der Erste, dem er es anvertraut hatte. Damals konnte er mit dem Gefühl noch nichts anfangen, dazu misstraute er seinen Emotionen viel zu sehr. Die Ängste und Gedanken, die er hatte, waren noch viel zu verwirrend für ihn. Er hatte vor allem Angst davor, was die Freunde von ihm denken könnten. Vielleicht würde er sogar seinen Job verlieren.
David hatte ihm damals gesagt, dass die Antwort in ihm läge und er auf das hören solle, was er instinktiv fühle. »Folge deiner Intuition und sie wird dich dort hinbringen, wo du glücklich sein wirst. Wenn du deiner Intuition folgst, dann wirst du nie einen Fehler machen. In den Augen anderer vielleicht, aber du lebst nicht das Leben anderer, sondern dein eigenes. All das, was du in deinem Leben gelebt hast, also jede Erkenntnis, jeder Fehler, jeder Erfolg, jede Idee, die du gedacht hast, und jede Lösung ist das, was Intuition für dich bedeutet. Das Leben ist bereits in dir und somit auch die Antwort. Viele Menschen entscheiden Dinge rational. Doch Rationalität erzeugt Distanz. Distanz zu dir selbst. So kannst du aber keine Entscheidungen treffen. Die Logik der anderen Menschen kann deine Fragen nicht beantworten, weil sie für dich nicht zutreffen. Nur du kennst die Antwort. Ich kann dir die Antwort nicht geben, nur einen Rat als Freund: Höre auf deine Intuition.
Den Weg der Ehrlichkeit zu gehen, erfordert Mut und viel Kraft. Dieser Weg ist nicht leicht, denn du wirst sehen, wie wenig Menschen in deinem Umfeld mit Ehrlichkeit umgehen können. Du wirst Dinge hören, die wehtun und eigentlich keine Berechtigung haben, denn deine Ehrlichkeit wird bei manchen Menschen Wut erzeugen, Missgunst und Unverständnis. Doch das sind keine wirklichen Freunde oder Menschen, die ohne eine Lüge leben können. Wenn man anfängt, seiner Intuition zu folgen und nur das zuzulassen, was die innere Stimme einem sagt und danach lebt, so wird man absurderweise oft als Egomane beschimpft. Er ist ein verdammter Egoist, werden sie sagen. Ich kann dir nur sagen: Sei lieber ein glücklicher Egoist als ein unglücklicher, von allen gemochter Idiot.
Die Menschen, die sich von dir abwenden, hätten sich früher oder später auch wegen anderen Dingen von dir getrennt. Das sind nicht die wahren Freunde, auf die man zählen kann. Die wahren Freunde werden eher großen Respekt vor dem haben, wenn du bereit bist, dazu zu stehen und dich zu outen. Das wird auch deine Seele befreien. Es ist dein Leben. Lebe es! Mit allen Konsequenzen.« David erinnerte sich, dass das die letzten Worte waren, die er Manuelle mit auf den Weg gab, als er damals Rom verließ. Das war nun zwölf Jahre her. ›Eine ganz schön lange Zeit‹, dachte er. Damals fuhr Manuelle noch eine weiße Vespa und lebte in einem kleinen Appartement, das er sich kaum leisten konnte. Heute lebte er in einem schönen Haus mit Garten. Das war sein Traum!
Da hörte er eine Stimme rufen: »David! Non è possibile!« Manuelle rannte in seine Arme. »Ich kann es nicht glauben, dass du hier bist. Gerade heute habe ich von dir gesprochen. Ich sagte zu Steve, meinem Freund: ›Schade, dass David nicht hier sein kann.‹ Und da bist du! Das ist verrückt.«
»Ich schätze, das ist Rom«, sagte David spontan. »Komm rein, ich muss dir Steve vorstellen.« »Du bist also meinem Rat gefolgt?«, fragte David. Er blieb stehen und schaute Manuelle in die Augen. »David, ich danke dir für deinen Rat und all die Gespräche, die wir hatten. Schau, was aus all dem geworden ist. Du hattest recht! Lebe dein Leben mit allen Konsequenzen! Aber jetzt komm.« Er zerrte David mit ins Haus. »Wow, das Haus ist wirklich schön«, sagte der. Manuelle packte David an der Hand und zog ihn durch die tanzenden Gäste im Wohnzimmer hinaus in den Garten. Da saß Steve mit ein paar Leuten an einem Gartentisch, mit Stella, die natürlich auf dem Schoß eines anderen saß.
»Steve, ich muss dir jemanden vorstellen. Du wirst es nicht glauben. Weißt du noch, dass wir heute davon gesprochen haben, wie schade es ist, dass David heute nicht mit uns feiern kann. Und hier ist er! David, darf ich dir Steve vorstellen!« Steve schaute David in die Augen, nickte lächelnd. »I guess, this is Rome«, lachte er und umarmte David. »Welcome to our new home.« Es war eine unglaubliche Begegnung nach so vielen Jahren. Sie saßen da und lachten, philosophierten und erzählten sich Geschichten aus der Zeit vor zwölf Jahren. Es dauerte nicht lange, da saß Stella wieder auf Davids Schoß.
Für einen kurzen Augenblick verfiel er in eine seltsame Melancholie. Eine Sehnsucht nach Nähe packte ihn. Er dachte wieder an sie. An seine große Liebe und wie unbeschreiblich glücklich er gewesen war. Das Gefühl, jemanden im Arm zu halten, die Wärme zu spüren, versetzte ihn in einen Moment des Glücks. Unmerklich für die anderen sicher, denn dieses Gefühl kam aus seinem Inneren. Lange hatte er dieses Gefühl nicht mehr gehabt. Jetzt sah er sie wieder vor sich. Wie schön sie war und wie sie ihn zum Lachen brachte. Er erinnerte sich, wie er an seinem Schreibtisch saß und schrieb, während sie im Bett lag und schlief. David erinnerte sich daran, dass ihm die Tränen gekommen waren, weil er so glücklich gewesen war, als er ihr beim Schlafen zusah. Es kam ihm jetzt so vor, als wäre es ein anderes Leben gewesen. ›Wo sie wohl ist?‹, fragte er sich.
Die Nacht war typisch für Rom. Man wusste nie, was passieren würde. David spürte eine gewisse Wehmut in sich. Er wusste nicht, was sie zu bedeuten hatte. Kam sie, weil er spürte, dass er Rom in naher Zukunft wieder verlassen musste, oder weil das Gefühl von Glückseligkeit oft mit einer Spur von Wehmut verbunden ist, denn auch diese ist nicht von Dauer.
»Hast du deine alte Vespa noch?«, fragte David seinen Freund Manuelle. »Na klar. Die steht in der Garage. Ist ja jetzt schon fast ein Youngtimer. Was hältst du davon, wenn wir zur Piazza fahren?« »Was ist mit deinen Gästen?«, fragte David. »Die merken gar nicht, wenn wir weg sind. Steve passt auf Stella auf. Steve lachte: »I don’t move, in three seconds, she is sitting on me anyway!« Es dauerte nicht mal eine Sekunde. Also setzten sie sich auf die Vespa und fuhren durch die Straßen Roms. Für David war es wie in alten Zeiten. Damals fuhr er, Alessia saß hinten drauf und schmiegte sich an ihn.
Wenn David damals nachts nicht schlafen konnte, weil die Stimmen in seinem Kopf zu laut waren, dann setzte er sich auf sein Motorrad und fuhr durch die leeren Straßen. Es dauerte nicht lange, da hörten die Stimmen auf zu sprechen und er fühlte diese Freiheit und den Zauber der Nacht. Leere Straßen, düstere Ecken, flackernde Lichter. Verschiedene Gerüche zogen an ihm vorbei. Es war wie Kino. Manchmal hatte er das Gefühl, als würde die Zeit stehen bleiben, und er raste mit seinem Bike durch die Nacht, als ob er fliegen könnte.
»Hey Manuelle, wie in alten Zeiten«, sagte David zu seinem Freund, als der die Vespa abstellte. Die Piazza war immer noch voller Menschen. »David, lass uns in das Lokal an der Ecke gehen, so wie früher. Weißt du noch die eine … die …« »Oh ja«, sagte David, ging aber nicht näher darauf ein. »Ist sie immer noch da?«, fragte er. »Ja, sie hat jetzt den Besitzer geheiratet.« »Ah, na dann.« Beide lachten. Das Mädchen, das dort bediente, war stadtbekannt.
Eines Abends, damals 2005, waren Manuelle und David nach Feierabend in diese Bar an der Ecke gegangen. Sie war außergewöhnlich, denn man trank Bier aus der Flasche und aß Nüsse, wie in einer Bar in Australien. Das Lokal war immer voll und laut. Sie standen in einer Ecke, als plötzlich dieses Mädchen auf David zukam und ihn einfach küsste und nicht mehr damit aufhörte. David war so überrascht, dass er es zuließ. Dann hörte sie auf, sagte noch »Ciao Bello« und weg war sie wieder. David hatte Manuelle fragend angeschaut und der sagte: »Das macht sie immer so!«
Auch an diesem Abend war das Lokal voll und David erkannte das Mädchen von damals schon von Weitem. Sie hatte sich kaum verändert. Alles schien so zu sein wie vor vielen Jahren. Manuelle kämpfte sich zur Bar durch und wollte gerade eine Flasche Wein bestellen, als David ihm zurief, dass er lieber ein Gingerale mit viel Eis haben wolle. Der verwunderte Blick seines Freundes war ihm nicht entgangen. Sie nahmen sich ihre Getränke und versuchten, eine Ecke zu finden, wo sie ein bisschen mehr Platz hatten. Sie kämpften sich durch das Lokal nach draußen und dann weiter bis ans Ende der Piazza. Dorthin, wo die Blumen- und Zeitungsverkäufer standen. Sie waren froh, dem ganzen Trubel für einen Moment entkommen zu sein. Es war immer noch ziemlich heiß. Sie setzten sich auf eine Treppe des Brunnens und holten erst einmal tief Luft. Sie beobachteten das Treiben auf der Piazza vor ihnen, die Menschen, die an ihnen vorbeiliefen, und saßen schweigend da. David konnte fühlen, wie sehr auch Manuelle diesen Augenblick genoss, einfach nur dazusitzen und nicht zu sprechen. Vielleicht waren es die Bilder vergangener Zeiten, die durch die Köpfe der beiden Freunde gingen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit beendete Manuelle das Schweigen: »Weißt du, ich habe heute Abend mit allem gerechnet, nur nicht mit dir. Ich habe versucht, dich zu kontaktieren, hatte aber kein Glück. Ich habe es lange versucht«, sagte Manuelle. »Das hat sich wohl von selbst erledigt«, erwiderte David. »An der Verbindungsgeschwindigkeit des Universums müssen wir allerdings noch ein bisschen feilen«, meinte Manuelle. Die beiden lachten und nahmen erst einmal einen großen Schluck.
»Für mich ist heute so ein wichtiger Tag, denn mein Wunsch, in Rom mein eigenes Haus zu besitzen, ist in Erfüllung gegangen. Zusammen mit einem Mann, den ich schätze und liebe. Ich kann jetzt so leben, wie ich es mir immer gewünscht habe. Oh Mann, wenn ich daran denke, wie groß meine Zweifel und Ängste waren. Um ein Haar wäre mein Leben so verlaufen wie das vieler anderer unglücklicher Menschen in dieser Stadt. Ich hätte das Leben anderer gelebt und nicht meines. Was für ein Glück. Das habe ich alles dir zu verdanken.«
»Nein, mein Freund, das hast du dir selbst zu verdanken. Du hast deinen Entschluss gefasst und hast dich von deinem Traum nicht abbringen lassen. Mit viel Kraft und Willen hast du es geschafft. Ja! Du hast es geschafft und ich bin wirklich sehr stolz auf dich. Du hast einen harten Weg hinter dir, das ahne ich. Ich habe großen Respekt vor dir, mein Freund. In den zwölf Jahren hast du viel erreicht. Du bist dir treu geblieben. Das ist wundervoll. Du bist nur meinem Rat gefolgt und hast in dich hineingehört. Ich wusste, dass du irgendwann deine innere Stimme hören kannst und ihr folgst. Die Wahrheit war schon immer in dir. Du hast sie nur nicht hören können.«
Es kam David so vor, als würde es Manuelle verlegen machen, aber dann hob er das Glas, schaute ihn an und sagte: »Danke, David!« »Wofür?«, fragte der. »Dass du so plötzlich aufgetaucht bist. Das erste Mal vor zwölf Jahren und heute wieder. An diesem besonderen Tag.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist wirklich unglaublich, oder?« »Ich freue mich auch«, sagte David. »Da müssen wir uns wohl bei dem da oben bedanken.
Dass du die Vespa behalten hast, zeigt auch, dass du nicht vergessen hast, woher du kommst. Darüber freue ich mich.« »Was ist mit dir«, fragte Manuelle. »Mit mir? Ich bin noch genauso chaotisch wie früher. Schreibe Bücher, reise durch die Welt. Alles beim Alten«, antwortete David. Er wollte vom Thema ablenken. Was ihm aber nicht gelang, Manuelle schaute ihn an. »Nein, das glaube ich dir nicht. Ich kann sehen, dass du viel hinter dir hast, wenn ich dir das so sagen darf. Du siehst aus, als hätte dich das Leben ziemlich durchgebeutelt, wenn ich ehrlich bin. Davon abgesehen kann ich mich nicht daran erinnern, dass du jemals ein Gingerale getrunken und dafür einen guten Rotwein verschmäht hast.«
Tausend Dinge gingen durch Davids Kopf. Wieder schwiegen sie, inmitten von Hunderten von Menschen, die das Leben vor ihnen feierten, Musik, die aus allen Ecken zu den beiden drang in dieser Sommernacht. David beobachtete das fröhliche Treiben. Es kam ihm vor wie in einem Film, der in Zeitlupe vor seinen Augen ablief. Er suchte nach den richtigen Worten. Es fühlte sich an wie ein Traum, in dem er gefangen war. Er konnte alles sehen und hören, jedoch nicht eingreifen. Sie hörten und sahen ihn nicht.
»Was ist los?«, fragte Manuelle seinen Freund und legte den Arm um ihn. David fühlte sich ertappt und wiegelte einfach ab. »Ich musste an alte Zeiten denken. Die Zeit ist so schnell vergangen und ich habe gerade das Gefühl, als wäre es erst gestern gewesen, dass wir hier saßen. Es war eine gute Zeit. Was soll ich dir sagen. Es ist eine Menge passiert in dieser Zeit.«
Vielleicht sollte er es abtun und sagen: »Alles super.« Aber es war sein Freund, den er lange nicht gesehen und hier unerwartet getroffen hatte. Der Tag, an dem sein Freund sich gewünscht hatte, dass er hier wäre, mit ihm zu feiern. Und das Universum hatte es so eingerichtet, dass sie sich genau an diesem Tag heute auch trafen.
David nahm einen Schluck aus seinem Glas und sah ihn an. Seine Augen strahlten und sein Lächeln war wundervoll. Er lachte: »Weißt du, mein Freund, in diesen zwölf Jahren ist so viel passiert, dass diese Nacht nicht ausreichen würde, um dir das alles zu erzählen. Außerdem ist es dein Abend.« Davids Miene wurde wieder etwas nachdenklich. Er legte seinen Arm um Manuelle. »Dass wir hier sitzen ist ein Geschenk, weißt du das?« Manuelle lachte und nickte mit dem Kopf. »Aber geht es dir gut? Was machst du in Rom und wie lange bleibst du?«, fragte er.
»Ich bin hier, um ein Buch zu schreiben.« Davids Gesicht erhellte sich wieder. »Was für ein Buch?«, fragte Manuelle. »Einen Roman, der hier in Rom spielt.« »Das ist ja wunderbar. David, der Schriftsteller!« Die Blicke der beiden schweiften über die Piazza.
»Was hast du für Träume, David?«, fragt er nach einer Pause. »Wir haben heute nur von meinen gesprochen. Na los, verrate sie mir, bitte!«, bat Manuelle.
»Weißt du, mein Freund«, sagte der und schaute ihm dabei in die Augen. »Seitdem ich vor zwölf Jahren die Stadt verließ, hatte ich viele Träume. Damals hatte ich das Gefühl, als läge mir die Welt zu Füßen. Es war eine wirklich wunderbare Zeit, nicht wahr?« Manuelle nickte. »Ja, das war sie.« »Ich bin viel gereist, habe Unglaubliches gesehen und erlebt. Die Welt ist für mich ein wenig kleiner geworden, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben.« David schossen viele Bilder durch den Kopf. »Die Träume, die ich damals hatte, sind wahr geworden. Nicht alle, aber doch einige.«
Dann zögerte er ein wenig, er dachte auch an eine sehr dunkle Zeit in seinem Leben, wo er aufgehört hatte zu träumen. Eine Zeit, in der seine Seele zu zerbrechen drohte. Davids Leben stand auf Messers Schneide. David überlegte, ob er dieses Kapitel seines Lebens seinem Freund erzählen sollte. Er hatte sich vorgenommen, nur noch nach vorn zu schauen und dankbar zu sein für den Augenblick und die zweite Chance, die er geschenkt bekommen hatte. Er hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen. Er hatte die Reaktionen seiner Mitmenschen akzeptiert. Das schon. Schweigen und Missverständnisse waren die Reaktionen. Doch keiner hatte ihn jemals gefragt, wie es ihm wirklich ging.
Manuelle rempelte David von der Seite an: »Hey, was ist los, erzähl weiter!« David lachte etwas unwirklich: »Es waren viele! Ja, viele Träume sind in Erfüllung gegangen, doch manchmal habe ich mich auch ziemlich blöd angestellt und musste wieder von vorn anfangen. Ich habe leider aus meinen Träumen nicht so viel gemacht wie du, mein Freund.«
Manuelle lachte. »Auch den Traum von Frau und Kind?«, fragte er. »Ja! Auch den habe ich wiederholt.« »David, du bist wirklich verrückt.« »Manche Dinge wiederholt man eben so lange, bis man kapiert hat, dass sie so nicht funktionieren. Ich schätze, das ist ein kosmisches Gesetz.« »Du hast recht! Das muss es sein, ein kosmisches Gesetz.«
»So wie du schon immer ein schlechter Gastgeber warst. Deine Gäste warten bestimmt auf dich und Steve musst du von Stella befreien.« Manuelle erschrak: »Ach du lieber Gott, ich habe die Zeit vergessen. Du bist mir nicht böse, dass ich jetzt gehe?« »Nein, natürlich nicht. Ich danke dir für deine Zeit.« Die beiden Freunde umarmten sich zum Abschied und Manuelle meinte: »David, versuche nicht wieder, einfach abzuhauen, okay?« David lachte und nickte. »Ich versuche es!«
Damit war Manuelle noch nicht zufrieden. »Bist du wegen deines Buches hier nach Rom gekommen?« »Ja, unter anderem. Ich suche den Fluss.« »Welchen meinst du?« »Den Fluss des Lebens.« Manuelle überlegte einen Augenblick, was David wohl damit meinen könnte. Dann hob er beide Arme hoch und drehte sich einmal um sich selbst, dabei blickte er in den Himmel und lachte laut. »Da bist du ja hier genau richtig, mein Freund! Komm bitte die Tage bei uns vorbei, ja?« »Na klar«, erwiderte David. Dann verschwand Manuelle in der Masse der Menschen auf der Piazza.
David schaute ihm noch einen Moment lang hinterher und sagte zu sich selbst: ›Ja, du hast recht. Hier ist der Fluss des Lebens.‹ Er blickte in den Himmel und bedankte sich für diesen Augenblick. Er spürte in dem Moment ein Stück Glückseligkeit. ›Zufriedenheit und Stille ist in mir. Wundervoll.‹ David war glücklich.
Das Einzige, was diesen Moment noch perfekter gemacht hätte, wäre, wenn seine Kinder jetzt bei ihm wären. Er liebte seine Kinder so sehr und auch wenn er nie so für sie da sein konnte, wie er es sich gewünscht hätte, so beschenkten sie ihn mit so viel Liebe. Diese Liebe hatte ihn am Leben gehalten in den Zeiten, als er nicht mehr an das Gute im Leben geglaubt hatte. So war er sich der Liebe seiner Kinder sicher und er wusste, dass es nichts Schöneres gab.
David saß da, inmitten dieser vielen Menschen, blickte in den Sternenhimmel und spürte so viel Glück und Dankbarkeit, dass er sich fragte, warum sein eigener Vater diese Liebe von seinen Kindern nie zugelassen hatte. Dieser Gedanke machte ihn wieder ratlos und so machte er sich auf den Heimweg. Kurz bevor er in die Vicollo del Gallo einbog, blieb er noch einen kurzen Augenblick bei den Blumenverkäufern am Ende der Piazza stehen und genoss den Duft der frischen Blumen.