Читать книгу Wendepunkte - Hardy Krüger jr. - Страница 9

Kapitel 1

Оглавление

N46°00'15.0" E8°57'25.6"

Lugano, Schweiz

Am 23. Januar 1968, genau neunzehn Tage nachdem in Südafrika die zweite erfolgreiche Herztransplantation der Welt vorgenommen worden war,1 kehrten zwei Israelis und vierhundertfünfundsechzig Ägypter in ihre Heimatländer zurück. Es waren die letzten Gefangenen des Sechstagekrieges, die von den Regierungen der beiden Länder ausgetauscht wurden.2

Am 12. März desselben Jahres entließ das Königreich Großbritannien den Inselstaat Mauritius in die Unabhängigkeit. Obwohl das Land zum damaligen Zeitpunkt zu den ärmsten Staaten der Erde gehörte, wurde die Loslösung von der Krone mit landesweiten Festlichkeiten gefeiert.

Acht Wochen später begannen die Friedensverhandlungen zwischen den USA und Nordvietnam, die einer mehr als dreizehn Jahre andauernden militärischen Auseinandersetzung ein Ende bereiten sollten.3

Vier Tage zuvor, am 9. Mai desselben Jahres, saß die vierundzwanzigjährige Francesca Marazzi, genannt Coca, in Lugano im Cinema Iride, dem Lichtspielhaus der Stadt, und sah sich In der Hitze der Nacht an. Kurz bevor Chief Gillespie den von Sidney Poitier gespielten Detective Tibbs vor dem Lynchmob rettete, spürte die hochgewachsene Blondine mit der markanten, etwas zu lang geratenen Nase, die ihrem Gesicht jedoch das bestimmte Etwas verlieh und sie von den vielen schönen jungen Frauen Norditaliens unterschied, ein eindeutiges Ziehen im Unterleib und wusste: Das Kind würde nicht warten, bis der Film zu Ende war. Ihr Baby hatte es eilig.

Sie atmete die nächste Wehe weg. Da sie trotz ihres jungen Alters vor zwei Jahren bereits ein Mädchen zur Welt gebracht hatte, war ihr klar, dass die Zeit drängte. Kaum dass sie wieder zu Luft kam, stand sie auf, drängte sich, Entschuldigungen murmelnd, durch die Sitzreihe an den teilweise verärgert dreinblickenden Zuschauern vorbei und verließ das Kino in genau dem Moment, als die nächste Wehe kam und Francesca keuchend innehalten ließ. Mit zusammengebissenen Zähnen und nach Luft schnappend machte sie sich so schnell, wie sie konnte, auf den Heimweg.

Zu Hause angekommen, nahm sie die dreihundertzweiundsiebzig Stufen zum See hinunter, packte in aller Eile die nötigsten Dinge in eine Tasche und rief bei ihrer Mutter Jacqueline an, um ihr zu sagen, dass es losgehe. Das zweite Enkelkind war auf dem Weg – vier Wochen zu früh! Dann kletterte sie die dreihundertzweiundsiebzig Stufen zur Straße wieder hinauf, im Stillen den Mann verfluchend, der beschlossen hatte, ein Haus mit einem derart beschwerlichen Zugang zu bauen.

Als sie oben ankam, wartete ihre Mutter bereits im Wagen. Sie war eine Grande Dame, mit Stil und Temperament, sowohl beim Skifahren wie auch hinter dem Steuer eines Wagens. Und so drückte sie, kaum dass ihre Tochter, schwer keuchend ob des Aufstiegs und der mittlerweile im Minutentakt kommenden Wehen, die Autotür hinter sich geschlossen hatte, das Gaspedal durch und jagte die Serpentinenstraße entlang nach Lugano. In Rekordzeit erreichten Jacqueline und Francesca kurze Zeit später die Clinica Sant’Anna in Lugano – und keinen Augenblick zu früh. Denn das Baby machte gerade Anstalten, das Licht der Welt zu erblicken.

Als Jacqueline Stunden später ihren zerknitterten, aber kerngesunden Enkel vorsichtig in das Neugeborenenbettchen legte, fühlte sie sich wie die glücklichste Nonna auf Erden. Nicht einmal das entsetzte Gesicht ihres Mannes konnte sie aus der Ruhe bringen. Als der nämlich von einer Schwester zu dem Raum geführt wurde, in dem die Säuglinge Seite an Seite hinter einer Glaswand schliefen, und ihm den jüngsten Familienzuwachs zeigte, hob er in der für seine Mentalität typischen Geste die Arme und zog die Augenbrauen hoch. Sein Blick wanderte zur Krankenschwester, dann wieder zurück zum Bettchen, in dem sein Enkelsohn schlummerte. »Eh, no!«, meinte er anklagend und gestikulierte in Richtung der Scheibe. »Non è possibile. Das ist nicht möglich. Sind Sie sicher, dass das der Richtige ist?«

Die Krankenschwester, eine Süditalienerin aus Kalabrien mit haselnussbraunen Augen, einer Schwäche für die Filme mit Gina Lollobrigida und mit dem zuweilen merkwürdig-distanzierten Verhalten der italienischsprachigen Schweizer nicht vertraut, zuckte nur die Schultern. Wenn Signor Marazzi der Anblick seines Enkels nicht gefiel, sollte er doch auf einen weiteren hoffen. Sie drehte sich um, schwebte gedankenverloren davon und überließ ihn sich selbst.

Attilio Marazzi indes starrte durch die Scheibe auf das winzige Neugeborene und fragte sich, wie dieses Baby, das wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen aussah, eines Tages seiner Familie ein Oberhaupt sein sollte. Der Architekt, der das Stadtbild Luganos über Jahrzehnte geprägt hatte, trank seinen Espresso jeden Morgen in derselben Bar unweit seines Büros, im Stehen am Tresen wie alle Italiener. Rein äußerlich hätte man ihn für eine Figur aus den Filmen Coppolas halten können: Zurückgekämmte grau melierte Haare, Rollkragenpullover, ein maßgeschneiderter Anzug und auf Hochglanz polierte Lederschuhe verliehen ihm das Aussehen eines Hollywoodganoven aus Little Italy. Er liebte den Wein und die Pasta, und sein Auge für Winkel und Formen war außerordentlich. Der Anblick des Enkels irritierte ihn deswegen zutiefst. Dieser Klops, rund wie eine Mozzarellakugel, war doch verwechselt worden! Das einzig Wohlproportionierte war der pirolino des Kleinen, wie Attilio bei einem heimlichen Blick in die Windel feststellen durfte.

O dio! Ganz untypisch für seine ansonsten eher aristokratische Haltung schüttelte Attilio den Kopf, seufzte, fluchte noch einmal leise auf Italienisch und ging dann davon, um ein Telex in die UdSSR zu schicken.

Dort, am Ende der Welt, inmitten der ewigen Schneewüsten, nahm Stunden später ein wodkatrunkener sowjetischer Bauer ein Schreiben auf der Poststation in Empfang. Iwan Schirjajew las den Inhalt, ernüchterte schlagartig und rannte zurück auf seinen Hof. Im Gegensatz zu ihm war sein Trecker noch nicht auf Betriebstemperatur, und so musste Schirjajew wertvolle Minuten verstreichen lassen, ehe der Motor ansprang und er zum Set fahren konnte, das die Filmproduktionsfirma ein paar Kilometer weiter irgendwo in der eisigen Tundra aufgebaut hatte. Doch endlich konnte es losgehen! Blind vor Aufregung übersah der Bauer beim Losfahren seinen Knecht Boris, welchen er versehentlich über den Haufen fuhr. Schirjajew sprang vom Trecker und fluchte. Was nun? Schimpfend wickelte er den leicht verletzten Mann in ein paar Decken und verfrachtete ihn in den Stall. Um Boris würde er sich später kümmern. Diese Nachricht konnte nicht warten.

Als er eine gute Stunde später am Set ankam, waren seine Wangen gerötet, und der Alkoholnebel hatte sich vollends gelichtet. Er wedelte mit dem Papier und rief: »Gospodin Kruger! Это мальчик! Ура! Es ist ein Junge, hurra!«

Gospodin Kruger, den meisten auf dieser Welt zu diesem Zeitpunkt besser bekannt als Hardy Krüger, konnte es fast nicht glauben. Seit Monaten fror er sich im russischen Winter, der offenbar niemals enden wollte, neben Sean Connery, Claudia Cardinale und Peter Finch die Zehen ab. Dass ein Film über die missglückte Luftschiff-Polarexpedition des italienischen Generals Umberto Nobile nicht in gemäßigten Breiten spielte, hätte klar sein müssen. Aber wie viel Kraft und vor allem Wodka es benötigte, in dieser kalten und trostlosen Umgebung eine Geschichte zu verfilmen, hatte er sich nicht vorstellen können, als man ihm das Drehbuch vorgelegt hatte. Umso erfreulicher, dass es nun einen Grund gab, die Zelte abzubrechen und so schnell in die Schweiz zu fahren, wie die damaligen Verhältnisse es ihm ermöglichten. Schon einen Tag später erreichte er seine junge Frau und den neugeborenen, knubbeligen Sohn, dessen Anblick ihn viel weniger schockierte als den Schwiegervater.

Die nun vierköpfige Familie zog in das unmögliche, wunderschöne Haus am See. Dreihundertzweiundsiebzig Stufen. Selbst für den sportlichsten Menschen waren die eine Herausforderung. Gäste der Krügers überlegten sich immer zweimal, ob sie nicht lieber zu sich einladen sollten, und wehe dem, der, oben an der kleinen Serpentinenstraße angekommen, die nach Süden in Richtung Italien führt und sich entlang des Lago di Lugano schlängelt, feststellte, dass er unten etwas vergessen hatte! Zum Glück gewöhnt sich der Mensch an alles. Und spätestens, wenn man über das wunderschöne Anwesen unten am Ufer flanierte und die großzügige Aussicht auf den See genoss, war der unweigerlich folgende Anstieg vergessen. Das Haus im Tessiner Baustil war in den Hang gebaut und von der Straße aus nicht zu sehen. Einzig eine winzige Parkbucht oben am Weg ließ vermuten, dass sich am Fuße des Berges, dem Wasser zugewandt, ein Grundstück befinden musste. Eine bessere Sicht auf das dreistöckige Anwesen, das bis heute von herrlichen Gärten flankiert wird, hat man nur vom Wasser aus. Wie viele Häuser, die einen eigenen Seezugang haben, verfügte auch dieses über eine Wassergarage, in der ein Holzboot parkte.

Dieses Haus, so einmalig und großartig, wie es war, hatte schon einige Menschen den letzten Nerv gekostet. Nicht nur, dass es für die Baumaschinen eine Meisterleistung gewesen sein musste, das Material zur Baustelle zu liefern. Für die Arbeiter war es eine wahre Qual. Wollten sie die Baustelle verlassen, mussten sie entweder dreihundertzweiundsiebzig Stufen den Berg hochlaufen – oder schwimmen gehen, was die wenigsten damals konnten, nicht mal diejenigen, die in der Nähe eines Gewässers aufgewachsen waren.


Als Kind liebte ich es, wenn Nonno Attilio, Zio Christian oder Mama Francesca meiner Schwester Malaika und mir diese und andere Geschichten erzählten. Und wir liebten das Anwesen, in dem wir in den ersten Jahren unseres gemeinsamen Lebens wohnten. Mein Vater war zu dieser Zeit schon ein richtiger Star, nicht nur in Deutschland, auch in Amerika. In den 1950er-Jahren war er zum Sonnyboy des deutschen Spielfilms geworden und in kürzester Zeit zum gefeierten Filmstar avanciert. Deshalb waren Malaika und ich die meiste Zeit allein mit unserer Mutter, dem Kindermädchen Anne und natürlich den Nonnas und Nonnos, die uns genauso verwöhnten, wie es sich für Großeltern eben gehört. Die Sommer und einen Großteil des Winters verbrachten wir mit ihnen. Ich sehe Nonna Jacqueline noch heute vor mir, wie sie in einem Sessel sitzt, tief in die Lektüre eines Buches versunken. Sie war sehr belesen, liebte das Kino und die Kultur. Und kochen konnte sie! Eine echte italienische Großmutter, wie man sie sich denken kann.

Von Nonno Attilio lernte ich alles über Stil und Benehmen. Wie sich ein Mann kleidet, wie er sich pflegt und wie er seinen Espresso trinkt. Ich glaube, ich bin nie einem eleganteren Menschen begegnet als ihm. Selbst wenn er Pasta zubereitete, wirkte er wie ein Gentleman.

Die Marazzis, also meine Großeltern, aber auch mein Onkel Christian und meine Tante Giovanna, prägten mich als Kind, genau wie das Leben in dem wunderschönen rosafarbenen Haus mit den türkisfarbenen Fensterläden, das am Fuße des Luganer Sees liegt.

Lugano, die Perle am Lago di Lugano zwischen Palmen und Gipfeln, eingerahmt von sanften Hügeln und einem beeindruckenden Bergpanorama, verbindet das alpine Lebensgefühl mit dem, was die Deutschen sehnsuchtsvoll »La Dolce Vita« nennen. Die Altstadt ist pittoresk, verwinkelt, mit zahllosen Treppen, die bergauf, bergab durch enge Gassen hindurchführen, über denen die frische Wäsche auf den Leinen hängt. Lugano, das bedeutet für mich das Meer der Farben. Turmalinblaues, beinahe karibisch anmutendes Wasser, saftiges dunkles Smaragd auf den umliegenden Bergen und der Himmel in Aquamarin darüber. Pistaziengrüne, zitronengelbe und roséfarbene Gebäude ringsum der piazze. Hier, am südlichsten Zipfel der Schweiz, ist Italien so nah, dass man es an jeder Ecke riechen, schmecken und hören kann.

Es sind diese besonderen Orte auf der Welt, in denen die Landesgrenzen verschwimmen, in denen eine Nation fließend in die andere übergeht, in denen Länder, Sprachen und Kulturen so eng miteinander verflochten sind, dass man sie kaum mehr auseinanderhalten kann. Die Straßen und Wohnungen Luganos sind erfüllt vom melodischen Singsang des Italienischen, auf den Plätzen wird mit vollem Körpereinsatz und großen Gesten gesprochen; chiacchierare, das italienische Wort fürs Tratschen, man sieht und lebt es in Lugano, in dem es doch so viel ordentlicher zugeht als im südlichen Nachbarland. Eidgenössische Disziplin trifft auf italienisches dolce far niente, das süße Nichtstun, das nördlich der Alpen belächelt, beneidet und zugleich bewundert wird. Lugano ist das Kind dieser unterschiedlichen Eltern – verführerisch, gediegen und gegensätzlich.

Hier lernten sich Francesca »Coca« Marazzi und Eberhard »Hardy« August Franz Ewald Krüger 1964 kennen. Ihre Beziehung stand zunächst unter keinem guten Stern, denn er war noch verheiratet und hatte bereits eine Tochter. Coca war eine Freundin von ihr, im selben Jahr geboren und gerade volljährig, doch die Anziehung zwischen den beiden Menschen war zu groß, als dass siebzehn Jahre oder damalige Konventionen eine Rolle gespielt hätten – geschweige denn eine andere Ehe. Hardy trennte sich von seiner Frau Reni, mit der er sich vor Jahren am See niedergelassen hatte, und heiratete 1965 die junge Tessinerin vom Fleck weg. Die Presse stürzte sich auf die beiden, schon damals war es eine verdammt gute Story: der charismatische Weltstar und die schöne Unbekannte. Francesca folgte ihrem Mann auf Galas, zu Presseterminen und an die Drehorte seiner Filme. Sie zogen in das Haus am See und führten ein Leben im Glamour. Lugano war in den 1960er-Jahren das Saint-Tropez der Schweiz, alles, was Rang und Namen hatte, traf sich dort, und die Krügers waren der schillernde Mittelpunkt. Mit dem Riva-Holzboot fuhren sie zum Einkaufen oder in die besten Restaurants am Platz, und wenn ihr Ziel keinen eigenen Anleger hatte oder über den Wasserweg nicht zu erreichen war, stiegen sie in das Mercedes-Cabrio meines Vaters und brausten die Serpentinen um den See entlang.

Francesca Marazzi war, bis ihr Leben von einem Weltstar durcheinandergewirbelt wurde, ein zartes Ding, das der Malerei und der Kunst verfallen war. Gemeinsam mit ihren Geschwistern Christian und Giovanna erlebte sie eine grundsolide italienische Kindheit und Jugend, geprägt von Mamas Pasta, Treffen auf der piazza und Ausfahrten auf den motorini an den Lido, den ihr Großvater entworfen hatte: ein wunderschönes Gebäude aus rot lackiertem Holz mit dunkelgrün eingefassten Fenstern und Türen. Über dem Eingang steht bis heute in großen weißen Lettern LIDO. Grün, Weiß, Rot, die Farben Italiens als Portal zum Strand, mitten in den Alpen.

Das Leben meiner Mutter änderte sich von einem Tag auf den anderen, von dem gemächlichen Treiben des südschweizerischen Städtchens wurde sie fast über Nacht in die große weite Welt und den Familienalltag mit zwei Kindern hineingeworfen. Sie hatte noch nicht viele Erfahrungen mit Männern gemacht, als sie mehr oder weniger in meinen Vater hineinstolperte, den Hollywoodstar, bekannt aus Der Flug des Phönix oder Sonntage mit Sybill. 1967 kam Malaika auf die Welt, im Jahr darauf konnte ich selbst das Ende von In der Hitze der Nacht nicht abwarten.

Da mein Vater häufig auf Drehs war, begleiteten wir ihn manchmal. Alle kamen mit, wie bei einer Karawane zogen wir von Ort zu Ort, von Land zu Land, es war ein unstetes, rastloses Leben, erfüllt von Aufregung und Abwechslung.

Die meiste Zeit blieb meine Mutter aber allein mit uns in Lugano. Beinahe selbst noch ein Kind, musste sie Verantwortung für Malaika und mich übernehmen – und trotz aller familiärer Unterstützung fiel das nicht immer leicht. Ich erinnere mich an viele Momente, in denen meine Mutter unter schrecklichen Migräneattacken litt und Anne, das Kindermädchen, das wir heiß und innig liebten, mit uns zum Spielen nach draußen ging, damit wir Mama nicht störten. Obwohl ich zugeben muss, dass ich die meiste Zeit des Tages sowieso mit mir selbst beschäftigt war.

Wenn ich mir heute Bilder von dem weißblonden Jungen mit dem abwesenden Blick ansehe, muss ich oft schmunzeln. Ich war ein Traumtänzer, mit dem Kopf in den Wolken, der das Leben aus neugierigen, zuweilen sehr eigenen Augen betrachtete. Man sagte mir, dass ich ein richtiger »Marazzi« sei, denn die Familie meiner Mutter hat seit jeher ein Talent für die schönen Künste, eine Schwäche für Ästhetik und einen Hang zur Melancholie.

Meine Tante Giovanna, die Schwester meiner Mutter, war in diesem Sinne eine wunderbare Seele von Mensch. Als Kind kannte ich niemanden, der so lustig und fröhlich war wie sie. Sie hatte Modedesign studiert und konnte fantastisch zeichnen. Wie meine Mutter war sie ein feingliedriges, zerbrechliches Geschöpf, hing oft ihren Gedanken nach und wirkte auf mich manchmal, als käme sie nicht von dieser Welt. Irgendwann wurde mir gesagt, dass Giovanna krank sei und gut auf sich aufpassen müsse. Ich verstand als Elfjähriger natürlich nicht, was Magersucht ist – und ich hätte es vermutlich auch nicht begriffen, wenn man es mir noch genauer erklärt hätte. Ich wusste nur: Giovanna ist krank, und wir müssen besonders lieb zu ihr sein. Als sie kurze Zeit später mit vierunddreißig Jahren an multiplem Organversagen starb, verursacht durch die jahrelange Krankheit, die sie nicht hatte bezwingen können, tröstete ich mich trotz meiner Trauer mit dem Gedanken, dass die lustige Giovanna irgendwo im Himmel auf einer Wolke saß und darauf wartete, bald wieder ihre Scherze mit uns treiben zu können. Vielleicht malte sie auch gerade ein Bild für mich? Obwohl noch so jung, verstand ich intuitiv, dass das Sterben zum Leben dazugehört und keineswegs das Ende darstellt. In meiner kindlichen, naiven Zwischenwelt, in der ich zeit meiner ersten Lebensjahre wandelte, stellte ich mir vor, dass Giovanna uns nur kurz verlassen hätte, ich sie aber bald wiedersehen würde.

Im Laufe meines Lebens ist mir der Tod nicht nur einmal begegnet. Das Bild von der großen Wolke, auf der all die Menschen, die bereits gegangen sind, auf mich warten, beruhigt mich bis heute. Einige Seelen haben meiner Tante Giovanna bereits einen Besuch abgestattet, und mit etwas Glück sind sie dort geblieben. Eines Tages wird auch meine Seele auf dieser großen Wolke sitzen. Aber keine Angst, ich habe vor, mir bis dahin noch jede Menge Zeit zu lassen, viele Abenteuer zu erleben und euch meine Geschichten zu erzählen.

Wendepunkte

Подняться наверх