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Zwölftes Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

François speiste – anscheinend mit Eifer und gutem Appetit.

Peter saß auf seiner Gartenbank am Ufer und sah ihm, eine Zigarette rauchend, zu.

Am andern Ufer stand hinter einem Baumstamm versteckt die Duchessa di Santangiolo und beobachtete alle beide.

François trug ein weites blaues Band um seinen rosigen fetten Hals, und sein Mahl bestand aus einer großen Schüssel voll Milch und Brot.

Plötzlich trat die Herzogin aus ihrem Hinterhalt vor in die Sonne und lachte.

»Was für ein nettes, liebliches Bild!« sagte sie, »so ländlich idyllisch – es erinnert an Theokrit – es gemahnt an Watteau!«

Peter schleuderte seine Zigarette in den Fluß und grüßte tief.

»Ich freue mich, daß Durchlaucht für seinen Reiz so empfänglich sind,« erwiderte er. »Darf ich mir gestatten, Ihnen Meister François Villon2 vorzustellen?«

»Ich hatte schon früher die Ehre,« sagte die Duchessa und lächelte Meister François mit einer leichten Neigung des Kopfes huldvoll zu.

»Oh, das habe ich nicht gewußt,« entschuldigte sich Peter.

»Ja,« sagte die Duchessa, »und zwar unter tragischen Umständen, aber damals war er noch namenlos. Warum – wenn Sie meine Neugierde nicht für allzu unbescheiden halten – warum François Villon?«

»Warum nicht?« meinte Peter. »In erster Linie stieß er ein so klägliches Geschrei aus, als er zum Tod verurteilt ward. Sie hätten ihn nur hören sollen! Hat der eine Stimme! Zweitens nimmt auch er einen so leidenschaftlichen Anteil an allem, was man essen und trinken kann. Und dann erinnern sich Durchlaucht vielleicht des Wortes: L'âme d'un poète dans le corps d'un –! Ich – ich habe das Wort vergessen,« stotterte er.

»Sollen wir vielleicht sagen ›kleines Schwein‹?« schlug die Herzogin vor.

»Ach, bitte, nein!« rief Peter hastig mit beschwörender Gebärde. »Sprechen Sie das Wort ›Schwein‹ nicht aus in seiner Gegenwart! Das würde seine Gefühle verletzen.«

»Ich wußte, daß er zum Tod verurteilt war,« gestand die lachende Duchessa, »und in seiner Gefängniszelle habe ich ihn kennen gelernt. Ihre Marietta Cignolesi vermittelte unsre Bekanntschaft; sie erschien damals so unerbittlich, daß ich deshalb erstaunt bin, ihn heute noch am Leben zu sehen. Es war die Rede von einer Füllung mit Rosmarin und Zwiebeln.«

»Aha, ich sehe, daß Durchlaucht in die ganze traurige Geschichte eingeweiht sind. Ja, Marietta, die alte Barbarin, wollte ihn durchaus mit Rosmarin und Zwiebeln füllen, aber es war ihm nicht möglich, sich auf ihren Standpunkt zu stellen. Deshalb brüllte er seinen Protest in allen Tonarten hinaus wie ein Mensch. Sie hätten ihn tatsächlich drüben hören können. Seine Stimme hat eine Klangfülle, einen Umfang! Aber geduldiges Ertragen ist nicht seine stärkste Seite, fürchte ich. Um des lieben Friedens willen legte ich mich dann ins Mittel. Ich kam keinen Augenblick zu früh: ihr Messer saß ihm schon an der Kehle. So mußte ich ihn dann natürlich an Kindesstatt annehmen.«

»Natürlich mußten Sie das, Sie Ärmster, denn es ist eine allgemein gültige Regel, daß Sie verpflichtet sind, für den Rest seiner Tage Sorge zu tragen, wenn Sie irgend einem Burschen das Leben gerettet haben. Fürchten Sie übrigens nicht, daß diese Verantwortlichkeit etwas lästig für Sie werden kann, wenn er heranwächst?« gab sie zu bedenken.

» Que voulez-vous, Madame?« erwiderte Peter. »Lästige Verantwortlichkeiten sind die ständigen Begleiter des Menschen auf seiner irdischen Pilgerfahrt. Warum nicht François Villon so gut als ein andrer? Übrigens können die Leute, die man gemeinhin als die reiche Klasse bezeichnet, ihre Lasten ja leicht auf der Armen Rücken abwälzen. Zum Beispiel Marietta ...« Und »Marietta!« rief er laut, dabei in die Hände klatschend.

Marietta kam. Als sie der Duchessa ihren Knicks gemacht und sich nach dem Befinden Ihrer Herrlichkeit erkundigt hatte, sagte Peter mit einer bezeichnenden Kopfbewegung: »Wollt Ihr nicht so gut sein und meine Verantwortlichkeit fortschaffen?«

» Il porcellino?« fragte Marietta.

» Ang,« machte er.

Und als Marietta den in ihren Armen zappelnden und quiekenden François forttrug, bemerkte er: »Da! ... Durchlaucht sehen, wie's gemacht wird!«

»Anschauungsunterricht!« stimmte sie zu. »Das heißt, man könnte auch sagen: eine Lektion in der Wissenschaft des praktischen Cynismus!«

»Wissenschaft!« rief Peter in kläglichem Ton. »Nein, nein, ich habe mir geschmeichelt, es sei Kunst!«

»Apropos Kunst,« sagte die Duchessa und kam etwas näher ans Ufer heran, wobei sie ein Buch in die Höhe hielt, das sie bis jetzt hinter ihrem Rücken verborgen gehalten hatte. Jetzt streckte sie das in Grau und Gold gebundene Buch Peter entgegen.

»Ich habe eben diesen Roman gelesen. Ist er Ihnen bekannt?«

Peter warf einen Blick auf den Einband und unterdrückte gewaltsam den Sturm, der seine Brust durchtobte.

Er klemmte sein Augenglas ein und tat, als ob er den Band einer eingehenden Betrachtung unterziehe.

Kopfschüttelnd behauptete er: »Ich kann den Titel nicht lesen,« und ließ sein Glas fallen. Alles in allem war es nicht übel gemimt, und das Lächeln, das den Mund der Duchessa umspielte, war entschieden beifällig.

»Das Buch führt einen sehr passenden Titel: ›Ein Mann des Wortes‹ von einem mir bisher unbekannten Schriftsteller: Felix Wildmay. Kennen Sie es?«

»O ja! Wie merkwürdig! Zufällig kenne ich es sehr genau. Aber ich wundere mich, daß Durchlaucht es auch kennen. Wie in aller Welt ist es Ihnen in die Hände gefallen?«

»Aber Romane werden doch dazu geschrieben, daß sie den Leuten in die Hände fallen – oder nicht?«

»Der Meinung bin ich auch,« gab er zu, »aber in diesem Jammertal erfüllt nicht jedes Ding seine Bestimmung. Jedenfalls ist ›Ein Mann des Wortes‹ ein Buch besondrer Art – es ist ein seltenes Buch.«

»Selten? – Wieso?«

»Nun, es erfreut sich einer seltenen, noch nie dagewesenen Unbekanntheit. Seit Erfindung der Buchdruckerkunst hat kein andres einen ähnlichen Mißerfolg erlebt. Ich hätte nicht gedacht, daß sich auch nur sieben Exemplare im Umlauf befinden.«

»Wirklich?« sagte die Duchessa. »Mir hat es eine Bekannte in London empfohlen. Aber – in Anbetracht seiner so vollkommenen Unbekanntheit ist es doch wunderbar, daß Sie es kennen?«

»Das wäre es allerdings, wenn ich nicht auch zufällig den Verfasser kennte.«

»O, Sie kennen den Verfasser!« rief die Duchessa lebhaft.

» Comme ma poche! Wir sind von Kindsbeinen an miteinander bekannt.«

»Wirklich? Welch ein Zusammentreffen! Und sein Buch?« Fragend zog sie die Brauen empor. »Da Sie den Mann kennen, vermute ich, daß Sie eine geringe Meinung von dem Buche haben?«

»Im Gegenteil! Aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz habe ich die allerbeste Meinung davon,« erwiderte er fest. »Ich schätze es ungemein und halte es für ein ganz famoses kleines Buch, für eines der nettesten, die ich seit lange gelesen habe.«

»Wie komisch!« sagte sie.

»Warum komisch?« fragte er.

»Es ist so unwahrscheinlich, daß jemand einen vertrauten alten Freund für ein Genie hält.«

»Habe ich gesagt, daß ich ihn für ein Genie halte? Da haben mich Durchlaucht mißverstanden – das tue ich nicht, aber trotzdem bewundere ich sein Buch. Um ganz offen zu sein, es ist eine Quelle beständiger Verwunderung für mich, daß er je im stande war, etwas auch nur annähernd so Gutes zu schreiben.«

Die Duchessa lächelte nachdenklich.

»Da müssen wir eben annehmen, daß er glückliche Momente hat – seine Seele vielleicht zwei Gesichter: das eine für die Welt, das andre für seine Werke. Sie deuten einen Mangel an und zögern, ihn auszusprechen – das ist ganz natürlich bei einem alten Freund. Aber Sie haben mein Interesse erregt? Wo fehlt's bei ihm? Ist er vielleicht eingebildet?«

»Wo's bei ihm fehlt? Das zu sagen, wäre eine lange, traurige Geschichte. Sollte ich sein Wesen zergliedern, so müßte ich erröten und weinen, und Durchlaucht würden erblassen und sich wundern. Er hat so ziemlich jede menschliche Schwäche, um nicht zu sagen jedes Laster, an sich. Aber eingebildet ist er wohl kaum. Er teilt meine hohe Meinung von seinem Werk, wie ich glaube, aber für einen Schriftsteller ist er nicht eingebildet. Er gehört im Gegenteil zu der bescheidenen Minderheit derer, die sich nicht im geheimen für einen wiedererstandenen Shakespeare halten.«

»Für einen wiedererstandenen Shakespeare! Wollen Sie damit sagen, daß die meisten Schriftsteller sich dafür halten?«

»Ich glaube drei zu kennen, die es nicht tun, doch einer davon bildet sich ein, er sei ein neuer Goethe.«

»Wie merkwürdig – wie ungeheuer komisch das ist,« rief sie.

»Anfangs kam es mir auch so vor, aber nach und nach habe ich mich daran gewöhnt. Wann und wo immer Sie einen Schriftsteller kennen lernen – dieser Glaube gehört zu ihm wie der Schwanz zur Katze!«

»Ich bin Ihnen für diese Mitteilung sehr verpflichtet – denn sie wird mir zu statten kommen, falls ich wieder einmal einen Schriftsteller treffe. Wenn dem aber so ist, so ist also Ihr Freund Wildmay eine Art Mansche Katze?«3 folgerte sie lachend.

»Wenn Sie so wollen – ja,« gab er, gleichfalls lachend, zu.

»Aber ich möchte auf unseren ›Mann des Wortes‹ zurückkommen,« fuhr die Duchessa nach einer kleinen Pause fort. »Wir sind abgeschweift! Bitte, sagen Sie mir, was Ihnen besonders an dem Buch gefällt.«

»Es gefällt mir in jeder Beziehung,« erklärte Peter fest und ohne Erröten. »Ich bewundere seinen Stil, seine Abrundung, seine Anordnung, seine Geschlossenheit, seinen Humor, seinen Stoff, ja sogar das Papier, worauf es gedruckt ist, und den Einband. Am besten aber gefällt mir die Heldin. Ich halte diese Pauline de Fleuvières für die Perle unter den Frauen, für das lieblichste, klügste, begehrenswerteste und zugleich für das weiblichste Weib. Es ist mir ganz unmöglich, sie mir nur als ein Phantasiegebilde, als einen bloßen Schatten vorzustellen. Ich denke an sie wie an ein Wesen aus Fleisch und Blut, das ich wirklich gekannt hätte. Ich kann sie jetzt vor mir sehen – ich sehe ihre tiefen, unergründlichen Augen, diese Augen, so geheimnisvoll und so schelmisch – ich sehe sie lächeln und ihre köstlichen Zähnchen schimmern – ich sehe ihr Haar und ihre Hände – ich rieche beinahe den zarten Duft, der ihren Gewändern entströmt – ich bin ganz entzückt, ganz betört von ihr und könnte um ihretwillen tausend Torheiten begehen!«

»Barmherzigkeit! Was Sie für ein Schwärmer sind!« rief die Duchessa aus.

»Das Buch hat so wenig Bewunderer gefunden, daß diese durch Begeisterung ersetzen müssen, was ihnen an Zahl abgeht,« entschuldigte er sich.

»Aber warum sind es denn so wenige?« fragte sie. »Wenn das Buch wirklich die Eigenschaften hat, die Sie ihm zuschreiben, wie läßt sich dann seine Unbeliebtheit erklären?«

»Es war von Hause aus zur Unbeliebtheit verdammt, denn es hat die verhängnisvolle Gabe der Schönheit.«

Überrascht lachte die Duchessa.

»Ist Schönheit eine verhängnisvolle Gabe – für Kunstwerke?«

»Ja – in England,« erklärte er bestimmt.

»In England? Warum gerade in England?«

»Wenn Sie lieber wollen in Englisch sprechenden, in angelsächsischen Ländern. Das angelsächsische Publikum ist schönheitsblind; es hat fünfzig Religionen, aber nur eine Sauce und gar keinen Schönheitssinn. Die Leute sehen die Nase im Gesicht und den Splitter im Auge des Nächsten, sie sehen, ob ein Handel vorteilhaft ist und ob ein Krieg erfolgreich sein wird – das eine aber, was sie nie und nimmer sehen, das ist das Schöne. Und wenn sie je in einem Ausnahmefall eine wirklich schöne Sache bewundern, so geschieht es nicht wegen, sondern trotz ihrer Schönheit, aus irgend einem andern, zum Beispiel einem historischen Grund. Das angelsächsische Publikum ist nun einmal blind für derlei Dinge und kann sie so wenig fühlen als ein blinder Wurm die Farben des Regenbogens zu bewundern vermag.«

Wieder lachte sie und betrachtete ihn belustigt und nachdenklich zugleich.

»Und damit erklären Sie sich den Mißerfolg des ›Manns des Wortes‹!«

»Mit dem gleichen Erfolg können Durchlaucht dem François Villon ein Gericht orientalischer Perlen vorsetzen.«

»Sie gehen streng ins Gericht mit dem angelsächsischen Publikum!«

»O nein, nicht streng, nur gerecht. Ich wünsche ihm Glück und Wohlstand, aber auch ein bißchen mehr Geschmack dazu.«

»Aber sicherlich wäre sein Wohlstand geringer, wenn sein Geschmack besser wäre!«

»Das möchte ich nicht behaupten. Der Wohlstand der Griechen war doch ziemlich bedeutend und der der Venezianer nicht minder, und auch die Franzosen sind noch nicht bankrott.«

Wieder lachte sie mit jener Beimischung von humoristischer Überlegenheit.

»Sie – Sie überhäufen einen gerade nicht mit Höflichkeiten,« bemerkte sie dann.

Erschrocken, angstvoll blickte er sie an.

»Durchlaucht, was habe ich versäumt?« rief er.

»Sie haben nicht die geringste Neugierde an den Tag gelegt, zu erfahren, was ich von dem in Frage stehenden Buch halte.«

»O, ich bin überzeugt,« erklärte er keck, »daß es Ihnen gefällt! Sie haben das ›sehende‹ Auge!«

»Und doch bin ich nur eine bescheidene Vertreterin des angelsächsischen Publikums.«

»Nein, Durchlaucht sind eine vorzügliche Vertreterin der angelsächsischen Minorität! Dem Himmel sei Dank, daß es diese Minorität gibt! Ich weiß, daß Ihnen der ›Mann des Wortes‹ gefällt.«

»›Gefallen‹ ist so ein allgemeiner Ausdruck! Aber vielleicht brenne ich danach, jemand zu sagen, was ich im einzelnen davon halte.«

Dabei lächelte sie ihm vielsagend in die Augen.

»Wenn dies der Fall ist, so weiß ich jemand, der noch viel mehr danach brennt, es zu hören.«

»Nun, dann denke ich – denke ich – aber ich fürchte ... gerade jetzt würde es doch zu viel Zeit in Anspruch nehmen, meine Ansicht darzulegen. Vielleicht versuche ich's ein andermal.«

Sie nickte ihm zu und schritt im nächsten Augenblick dem Schlosse zu. Mit geballten Fäusten und aufeinander gebissenen Zähnen starrte er ihr nach.

»Du Teufel!« knirschte er hinter ihr drein. Dann wendete er sich aber gegen sich selbst mit einem energischen: »Du Schafskopf!«

Trotzdem sagte er abends zu Marietta: »Die Sache macht sich! Wir sind einen schönen Schritt vorwärts gekommen. Wir sind nämlich an einem sogenannten psychologischen Moment angelangt. Sie hat mein ›Bild einer Dame‹ gesehen. Aber Ihr könnt's mir glauben, bis jetzt ahnt sie noch nicht, wer es gemalt hat, und hat auch das Modell nicht erkannt. Als ob man in den Spiegel sehen und sein Gesicht für das eines andern halten könnte! Ich – ich – will Euren Lohn verdoppeln, wenn Ihr die kommenden Ereignisse ein wenig beschleunigt.«

Da er aber Englisch sprach, war Marietta nicht in der Lage, sich sein Anerbieten irgendwie zu nutze zu machen.

2. François Villon, geb. 1431, erster namhafter französischer Dichter, der ein höchst abenteuerliches Leben führte, auch wegen Raubs und Totschlags gerichtlich bestraft wurde. Er ist der Held des vielgelesenen aufsehenerregenden Romans » If I were King« von Justin Huntley Mc Carthy und eines Dramas gleichen Namens. Anm. d. Übers.

3. Auf der englischen Insel Man (Manx), im Irischen Meer gelegen, gibt es eine Art schwanzloser Katzen. Anm. d. Übers.

Des Kardinals Schnupftabakdose

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