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Vorwort

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Liebe und Tod in Leipzig ist der zweite postum veröffentlichte Roman des Schweizer Politikers, Publizisten und Schriftstellers Harry Gmür (1908–1979). Nach Am Stammtisch der Rebellen (Europa Verlag Zürich 2015) aus den 1950er-Jahren handelt es sich hier um einen sehr frühen Text: Gmür hat ihn 1929 als 21-jähriger Student verfasst.

Zusammen mit der Gmür-Biographie von Markus Bürgi und Mario König (Chronos Verlag 2009), den zahlreichen politischen Zeitungsartikeln (Vorwärts, ABC) und Reportagen (Weltbühne) sowie den in der zweiten Lebenshälfte veröffentlichten Erzählungen (Die weiße Hündin, Die Azalee) vervollständigt sich mit den Romanen aus dem Nachlass Stück für Stück ein Gesamtbild von Harry Gmürs Schaffen.

Liebe und Tod in Leipzig wirft einen Blick auf die Anfänge: Der adoleszente Autor ist noch auf der Suche nach seinem eigenen schriftstellerischen Ausdruck, seine literarischen Vorbilder sind immer wieder zu erkennen, und er hat noch keine gefestigte politische Einstellung gefunden, respektive ist noch seinem großbürgerlichen, aber liberalen Elternhaus verhaftet. Trotzdem erkennt man schon in dieser frühen Phase Elemente, die später verstärkt wiederkehren: die Auflehnung gegen gesellschaftliche Konventionen etwa – das Scheitern dieser Bemühungen inbegriffen – oder aber eine Faszination für exotische Frauenfiguren und gesellschaftliche Außenseiter. In seinem literarischen Schaffen offenbarte Gmür zudem ein romantisches Gemüt, das man bei ihm in den journalistischen Texten, die von einer nüchternen Sachlichkeit und einer naturalistisch anmutenden Tonalität gekennzeichnet sind, aber auch im täglichen Umgang nicht wahrnahm.

In erster Linie aber spricht die Geschichte selbst für eine postume Veröffentlichung. Einerseits schildert Gmür die zeitlosen Nöte, Irrungen und Wirrungen in der Bewältigung der Adoleszenz, andererseits die gesellschaftlichen Verhältnisse und Konventionen der Zwischenkriegszeit in der Schweiz und in Deutschland, die uns heute nicht mehr vertraut sind.

Mario Gmür, Herausgeber

B., den 10. Mai 1929

Geliebtes Mädchen!

Tausendmal Dank für die schöne Stunde, die letzte, die ich mit Dir verbringen durfte! Was ich empfand, während Du so hold, so bescheiden an meiner Seite gingst, heiter in mein wolkenloses Geplauder einstimmend, welche Schauer der Seligkeit mein Herz durchbebten, als wir aus dem leise flüsternden Buchenhain hinaustraten an den rauschenden Fluss und Du so herrlich, so unsäglich rein und schön dastandest – ich vermöchte es nicht in Worten zu sagen! Glücklich schied ich von Dir; übervoll von froher Liebe sah mich der meinen Heimweg sanft beleuchtende Mond. Ein Gedichtchen floss mir aus der Seele, klein und anspruchslos, aber jauchzend bis in die Höhen, wo die Englein hausen. Dabei hatte ich zwar nicht vergessen, dass ich Dich nun nicht mehr sehen würde während langer Wochen; aber der Gedanke blieb Gedanke, ich fühlte ihn nicht. In solcher Stimmung ging ich zu Bett.

Und heute? Als ich morgens, kaum erwacht, mein Fenster öffnete und mein Blick auf die graue Stadt zu meinen Füßen fiel, die ein feiner, schweigender Regen wie mit einem Gewebe unendlichen Grams beschwerte, da überkam es mich plötzlich, das namenlose Elend. Da wusste ich: Du bist fort, und ich bin nun allein, ganz allein. »Aber«, höre ich Dich einwenden, »du hast doch Deine Freunde. Wenn Du auch nur wenige als Deines Umganges würdig erachtest, so sind diese Dir doch umso treuer und liebenswerter.« Ja, gewiss, ich liebe sie, meine Freunde, und keinen von ihnen würde ich ohne Schmerz entbehren. Aber sieh, es ist nicht einer darunter, dem ich mein ganzes volles Herz zu öffnen vermöchte. Jeder mag einen Teil meines Ichs besitzen, jeder mir auf seine Weise Anregung bieten; doch um mich ganz zu erfassen, sind sie alle, auch Wagner – ich sage ungern zu klein, denn edel sind sie und durchaus keine durchschnittlichen Menschen – aber zu wenig groß. Und: Freundschaft ist Freundschaft, Liebe ist Liebe. Der Freund ist stets ein Wesen außer mir; mein Mädchen – und wohl mir, dass Du es bist! – bildet einen Teil meiner Persönlichkeit, ohne den ich ewig halb, ewig ruhelos bleibe. Von den frühesten Tagen meiner Kindheit an, Du weißt es, ist die Leidenschaft für das fremde Geschlecht meine ständige Begleiterin gewesen. Mein viertes Jahr sah meine erste glühende Liebe. Etliche Male hat sie sich seither wiederholt, doch immer war ich unglücklich dabei; hoffnungslos schmachtete ich in verzehrender Ferne, denn niemals wäre ein Wort des Geständnisses über meine Lippen getreten, ja beinahe feindlich konnte ich dem vergötterten Mädchen begegnen aus lauter Scheu, ich möchte meine Gefühle verraten. Da sah ich Dich, und lawinengleich brauste meine Leidenschaft über alle Schranken hinweg, bis sie versank und Labung fand in Deiner Seele wie des Wanderers ermatteter Leib im stillen, friedlichen Blau des Bergsees. Ja, ich war glücklich in Deiner Nähe. Ich will Dich nicht schelten, ich darf nicht. Die freundliche Neigung, die Dich dem fast abenteuerlichen Gesellen verbindet, konnte Dir nicht Grund sein, Dich der wohlmeinenden Bestimmung Deiner Eltern zu widersetzen. Auch sage ich mir, dass es Dir nur vorteilhaft sein kann, wenn Du die träge Stadt mit der munteren Geschäftigkeit des Pensionslebens vertauschst, und tröste mich etwas damit. Aber gleichwohl habe ich schwer zu tragen.

Für heute soll es genug sein. Morgen und übermorgen unternehme ich einen Ausflug mit Wagner, ich werde also erst am Montag wieder schreiben können. Gute Nacht, mein liebes Mädchen. Ich gehe fast glücklich zu Bett, so wohl tut es mir, mit Dir zu plaudern, wenn es auch nur schriftlich sein kann. Von wem ich träumen werde, brauche ich Dir nicht zu sagen. Ich habe ihn auch nötig, diesen lieblichen Himmelstraum. Nicht zum ersten Mal mache ich die Erfahrung, dass der sinnliche Eindruck eines Wesens, dessen man häufig gedenkt, allmählich verblasst. Die Nacht soll mir Dich wiederbringen, Deine sanften Züge, Deine lächelnden Lippen, das Köpfchen, das so süß sich neigt, das so zart errötet, wenn der feurige Junge sich vergisst in überschwänglichen Beteuerungen der Liebe, und, o Kind!, deine tiefen, blauen Augen! Schlafe wohl!

Dein Rudolf

B., den 13. Mai 1929

Herrliche Agnes!

Endlich, endlich darf ich wieder Dir allein gehören. Während zweier langer Tage habe ich mich ununterbrochen auf diese heimliche Stunde gefreut. Und jetzt ist sie da, jetzt kann ich den Schleier lösen, der mein Herz umfangen hält, kann Dir alles ohne Rückhalt enthüllen, was mein Inneres schmerzt und beseligt. Ich bin eine verschlossene Natur, die sich ungern in die Seele schauen lässt. Aber Du, Du gehörst ja zu mir, so unzertrennlich. Vor Dir muss ich nichts verbergen. Mit Dir verbindet mich ein grenzenloses Vertrauen.

Aber ich wollte erzählen. Unser Ausflug war vom Wetter nicht eben begünstigt. Den ganzen Samstag regnete es, sodass wir in einer Sennhütte liegen blieben, wo mir Wagner viel von seiner unglücklichen Liebe berichtete und ich Muße fand, an Dich zu denken. Heute habe ich dann zum letzten Mal meine Tragödie durchgesehen und sie kurzerhand an das Theater von F. geschickt.

Und jetzt muss ich Dir von Wichtigem sprechen, herzliebes Mädchen. Ich tat es nicht eher, weil ich bis jetzt selbst nicht so eigentlich darum wusste. Aber die letzten Tage hat es mich mehr beschäftigt als irgendetwas, und so darf ich es auch Dir nicht länger verbergen. Ich habe Dir gleich zu Beginn unseres Bündnisses gesagt, dass Du, obwohl meine Liebe so groß und glühend sei, als sie überhaupt ein Mensch zu ertragen vermöge, doch auf ihre Dauer nicht zählen dürfest. Viel zu leicht entzündet sich mein Herz, viel zu gewaltig sind seine Ausbrüche, und eine Pflicht mir aufzubinden, die ich vielleicht nicht erfüllen kann, bin ich nicht leichtsinnig genug – auch heute nicht. Und doch beginne ich oftmals leise mit dem Gedanken zu spielen an eine innigere Verbindung zwischen uns. Kein halbes Jahr dauert es mehr, bis ich fortziehe aus der ausgekosteten Heimat in die mir noch junge Fremde. Und ich sollte Dich lassen? So fern von mir? Tränen wollen sich mir in die Augen drängen, denke ich daran. Ach, Agnes, wenn ich Dich nur mitnehmen könnte! Schon sind es ja zwanzig Monate, dass mein Herz Dir angehört, fester noch als zuvor, seit sich das Glück meiner Liebe verbunden hat. Sollte sich nicht das Band zu einem ewigen gestalten lassen? Ich weiß es nicht; meine Seele sehnt und zweifelt.

Was ich hier ausspreche, ist also kein Wunsch, vielmehr ein höchst ungewisser, schwankender Zustand. Dabei habe ich Dich, Deinen Willen noch nicht in Betracht gezogen. Ich bilde mir durchaus nicht ein, Du wärest so ganz ohne Umschweife mit mir einverstanden, sollte sich das Spiel in mir eines Tages zum Ernst wandeln. Ich zweifle nicht, dass Du mir gut und zugetan bist, doch ob Dir der ungestüme Jüngling oder, bei Deinen achtzehn Jahren, Deine Freiheit lieber ist, das müsste ich erst von Dir erfahren, und dass ich dabei auf Deine bedingungslose Offenheit zählen würde, weißt Du.

Oft überlege ich mir, ob der Verkehr mit mir, so rein und edel ich es meine, Dir nicht gefährlich sei. Du stammst aus kleinbürgerlichen, ich aus geistig arbeitenden Kreisen. Dieser Unterschied wäre an sich wohl gering, denn ganz abgesehen von der sorgfältigen Erziehung, die Du genossest: Was soll bei einem Mädchen eine übertriebene Ausbildung des Verstandes? Unsere Zeit kennt ja diese Krankheit bis zum Überdruss, und glücklich preise ich Dich und mich, dass Du ihr nicht zum Opfer gefallen, dass Du der Natur treu geblieben bist in Deiner stillen, schlichten Schönheit. Ja, Du hast Dir die weiche, fühlende Anmut eines unschuldigen Gemütes bewahrt, bist nicht kalt und wissenschaftlich geworden wie so viele Deiner Genossinnen, und sicherlich ist dies nicht der letzte Grund, warum ich Dich so liebgewonnen habe.

Wenn ich nur nicht so sehr über den menschlichen Durchschnitt, auch über den meines eigenen Standes, hinausgewachsen wäre. Ich kann kein Leben führen wie tausend andere, ich bedarf besonderer, höherer Bedingungen. Frei, wie mein Geist schwebt, muss ich mich bewegen können bei all meinem Tun und Lassen. Ob Du aber diese Freiheit erträgst? Ob überhaupt ein Mädchen, das ich lieben kann, sie ertragen würde? Noch haben sich unsere Schicksale nicht in eins verschmolzen, und doch habe ich Dir schon Deinen Glauben genommen, der Dir zuvor so feste Stütze war. Durfte ich das? Kannst Du leben ohne ihn, nur begleitet von dem Gebäude der Vernunft, das mir freilich das Schönste und Erhabenste bedeutet in seiner bezaubernden Einfachheit? Aber ich tröste mich, sehe ich doch zu schwarz, ganz gewiss. Und wenn ich Dir jemals Schmerzen bereiten sollte, mein Ärmstes – dann wirf Dich an meine Brust mit der vollen vertrauenden Hingabe des Kindes, und ich will Dir Größe einhauchen und herrliche Kraft in Deine schuldlos reine Seele.

Tausend Dinge hätte ich Dir noch zu schreiben, aber sie liefen zuletzt doch alle auf dasselbe hinaus. Auch möchte ich nicht, dass Du allzu lange ohne Nachrichten von mir bleibst. Schreibe mir doch bald, Herzliebes; erzähle mir, was Du machst, wie es Dir gefällt in dem neuen Leben.

Noch eines: Seit Du fort bist, klammere ich mich an einen glücklichen Einfall, der sicherlich nicht unausführlich ist. Könnte ich Dich nicht zuweilen an einem Samstag besuchen? Uns trennen ja keine zwei Stunden Bahnfahrt! Und eine Seligkeit wär es, könnte ich Dich von Zeit zu Zeit ans Herz drücken und alle Trennungsleiden ertränken in einer einzigen, wonnerauschenden Meeresflut! Ich weiß nur nicht, ob Du in Deiner Pension freikommst; gell, Du tust Dein Möglichstes dafür?!

Einziges, Liebstes, Heiligstes, was ich habe! Leb wohl! Und denke nur den zehnten Teil so oft an Deinen Jüngling wie er an Dich!

Dein Rudolf

Liebe und Tod in Leipzig

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