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Zweites Kapitel

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Während zweier Wochen wartete Rudolf, immer hoffend, immer entschuldigend, auf das Lebenszeichen von Agnes, das er doch so flehentlich gefordert hatte. Doch Tag für Tag verstrich, ohne dass sich diese Hoffnung erfüllte, und hartnäckig um ihren Platz ringend, aber stetig wich sie endlich aus dem verzweifelnden Gemüt, das, besonders als auch ein weiteres Schreiben ohne Antwort geblieben war, immer mehr der Herrschaft schwärzester Vorstellungen verfiel. Und dabei fand er nichts, was ihm das Rätsel hätte lösen können – oder wollte nichts finden. Es gab ja der Möglichkeiten genug, zweifelsohne. Er hatte das Mädchen vielleicht beleidigt, wie, wusste er nicht, auf alle Fälle durch eine Kleinigkeit. Oder er hatte sich in ihrer Liebe getäuscht, eine oberflächlich spielerische Neigung für wahres Gefühl gehalten, die sich jetzt, da sie unbequem wurde, von selbst verlor. Oder sie hatte ihn in der vergnügten Ferne einfach vergessen – aus den Augen, aus dem Sinn! Oder sie ließ ihn mit Absicht ein Weilchen in der Hölle schmoren, um eine bisher ungekannte Herrscherlaune zu befriedigen. Oder – nein, weiter nicht! Unmöglich war alles, was irgendwie die strahlende Reinheit der Geliebten verletzte.

Nein, so unmäßig hatte er sich nicht getäuscht, niemals! Aber was blieb denn dann? Was konnte der Grund sein für das Versäumnis? Krankheit? Dann hätte sie es ihn wissen lassen. Allzu scharfe Bewachung? Ihre Liebe hätte diese Schranke durchbrochen. Zu viel Arbeit? Unsinn!

Die fünf Minuten, die erforderlich waren, um eine Postkarte zu schreiben, waren bei der Mühsal, die überdies mehr als zweifelhaft war, zu finden. Das sanfte Mädchen war, er wusste es, nicht von so leicht entzündbarem Herzen wie er selbst, das beruhigte ihn zwar um ein Beträchtliches. Aber konnte nicht, aller Voraussicht zum Trotz, das Schreckliche bei ihr eintreten, das Schreckliche, vor dem ihm selbst so bange war, das wie ein lose schwebendes Schwert, wenn nicht jetzt, so doch in ungewisser Zukunft von seiner Seite her das Bündnis bedrohte? Nicht, weil es wahrscheinlich gewesen wäre, nur, weil Rudolf hier noch weniger als anderswo hätte verdammen können, war ihm grauender davor als vor allem anderen. Indessen waren es nur Augenblicke, in welchen er diese höchste Marter litt. Zu vieles sprach dagegen, zu sehr hatte Agnes, so wenigstens glaubte er, an ihm gehangen, um ihn nach so kurzer Zeit an einen Fremden verraten zu können. Und schließlich: Hätte sie es ihm nicht mitteilen müssen, wenn auch schweren Herzens? Hätte sie wirklich? Er schauderte wieder. Ja, ihre Pflicht wäre es freilich gewesen, aber nie hätte sie es übers Herz gebracht.

Von solcher Trübsal gequält, saß er eines Abends allein in seinem Zimmer. Hätte er geahnt, mit welch großer Not seine Geliebte die fürchterlichste Krankheit überstanden hatte, seine Angst wäre zwar nicht so bitter, aber wohl nicht minder groß gewesen. In der Tat war das arme Mädchen erst vor etwa fünfzig Stunden aus fiebernder Bewusstlosigkeit erwacht und hatte nun endlich eine erste Antwort auf die bewegenden Ergüsse des leidenschaftlichen Freundes zu schreiben vermocht. Allein das Brieflein befand sich noch unterwegs und war so nicht im Stande, den Bedauernswerten aus seinem bohrenden Brüten zu wecken.

»So wäre ich also wieder allein«, murmelte Rudolf leise vor sich hin. »Bin ich’s? Es wäre furchtbar grausam, doch es würde vorübergehen wie alles. Ich bin zäh und habe, wenn nichts mir bleiben will, meine Arbeit, an die ich mich klammern kann, auch in äußerster Not. Aber noch will ich nicht glauben, dass es so weit ist, noch will ich hoffen.«

Er war aufgestanden. Aufgeregt ging er noch drei-, viermal um den inmitten des Raumes stehenden runden Tisch, auf dem eine Unmasse von Büchern, Papieren und anderen Gebrauchsgegenständen herumlag, riss dann unvermittelt die Tür auf, rannte die Haustreppe hinunter, griff zu Stock und Hut und begab sich, nach erfolgter Abmeldung bei den Eltern, ohne Verzug nach dem Kursaal. Zerstreuen wollte er sich, vergessen die nagenden Sorgen.

Das Konzert fand in einer prächtig überlaubten Gartenanlage statt. Eine ungewöhnliche Besucherzahl, eines bedeutenden Tenors wegen erschienen, der heute singen sollte, drängte sich an die überall aufgestellten Tischchen. Rudolf ließ sich an einem nieder, und nachdem er sein Lieblingsgetränk, den schwarzen Tee, bestellt hatte, verlor er sich in den schmeichelnden Klängen, die dem mittlerweile versammelten Orchester entstiegen. Es war eine nicht eben platonische Melodie, die den Liebenden, anstatt ihn zu trösten, nur mit noch gewaltigerem Schmerz erfüllte, der nichts von der Wohltat besaß, die er in seinem Brief so hochgepriesen hatte. Dieses innere Erleben musste sich in seinem Antlitz lebhaft widerspiegeln, denn ein weibliches Wesen in dunkler, wohl jüdischer Tracht, das erst nach Konzertbeginn an dem Tischchen gegenüber Platz genommen hatte, betrachtete ihn mit dem teilnahmsvollsten Mitleid.

Dieses Mädchen war von fast unglaublich edler Bildung sowohl des Leibes als auch des Angesichts. Ihre voll ausgereiften und doch schlanken Formen verrieten ihre natürliche Sinnlichkeit, das Ebenmaß ihrer Züge war schlechthin vollkommen zu nennen. Eine bewegte, doch schön in sich zurückfließende Linie begrenzte den leicht geschlossenen Mund. Eine satte Tiefe des Herzens, des Geistes spiegelte sich in den ab und zu in überraschender Wildheit aufflackernden Augen, deren dunkler Glanz nur durch den pechschwarzen des herrlichen, reich aufgebundenen Haares übertroffen wurde. Seltsam waren ihre dichten Brauen, die zu der Stirnwurzel hin ineinander spielten, seltsam die Lider, die, den oberen Teil der Augen bedeckend, dem Antlitz zuzeiten ein melancholisches Aussehen verliehen. Die unmerklich überbräunte, blendend reine Farbe, die von ihrer unverhüllten rechten Schulter strahlte, die majestätische Anmut endlich ihrer Bewegungen trugen zu dem Aufsehen bei, das die nicht übergroße Gestalt im gesamten Umkreis erregte.

Rudolf, der für gewöhnlich seine Lider geschlossen hielt, fühlte mit einem Male den Blick der Fremden und sah auf. Er wurde rot, deutlich spürte er es.

Sie schlug ihre Augen nieder. Er aber verharrte wie gebannt durch den wundersamen Anblick, während die bezauberndste Weise ihn weiter umsang.

Das Stück war zu Ende. Sollte er fliehen? Einen anderen Platz aufsuchen? Der kaum berührte Inhalt seiner Tasse dampfte vor ihm. Er blieb.

Nach kurzer Dauer begann die Wiedergabe von Beethovens Leonoren-Ouvertüre, die Rudolf, mächtig wirkend, alsbald mit göttlichem Wohlklang erfüllte. Er war glücklich.

Als das Orchester wieder schwieg, dachte er nicht mehr daran, sich zu entfernen. Nachdem er seinen Tee getrunken hatte, betrachtete er im Gefühl vollendeter Freiheit und mit unverhohlener Bewunderung die junge, schöne Gestalt. Nur wenn er dem unergründlichen Strahl ihres Gesichtes begegnete, fühlte er seine Freiheit dahinschmelzen in heißem Aufwallen des Blutes. Dies verursachte ihm erst einiges Unbehagen, doch beruhigte er sich nach kurzer Zeit. »Folgen will ich«, so dachte er, »dem Trieb meiner Seele, hier wie immer. Es ist nichts Unreines, was ich tue. Warum sollte ich nicht genießen, wenn ich mag und wenn ich kann?«

Nachdem das Orchester einige weitere Stücke gespielt hatte, erschien der Solist, ein sympathischer junger Mensch von etwas schmächtigem Äußeren, trug in ausgezeichneter Art einige Schubert’sche Lieder vor und schickte sich danach an, als letzte Nummer vor der großen Pause die bekannte Tamino-Arie aus dem ersten Akt der Zauberflöte zu singen. Rudolf, der dieselbe schon früher von dem gleichen Sänger auf der Bühne gehört hatte, freute sich ganz besonders auf diese Wiederholung. Aber gleich bei den ersten Klängen der begleitenden Instrumente sah er sich in eine unheimliche Lage versetzt: Die Schwarze, wie von bangem Erwarten gepeitscht, senkte ihren Blick tief und unverhüllt in den seinen, der sich ohnmächtig ergab, sosehr es sich in seiner beklommenen Brust wehren mochte. Und wie mit dem Glutfluss eines Vulkans überkam es ihn bei den ersten Worten des Sängers: »Dies Bildnis ist bezaubernd schön …« Sie sah es und lächelte und war noch reizender, wenn es überhaupt möglich war.

Starr und unbeweglich verharrte Rudolf, ausgeliefert der Willkür des Dämons, der ihn nicht freigab, ehe das Singen zu Ende ging. Doch in ihm kochte es, Hass und finsteres Verlangen rangen einen vernichtenden Kampf, und diesmal unterlag die bezaubernde Fremde. Die Arie klang in dem unsäglich süßen » …und ewig wäre sie dann mein« aus. Aber als die Schwarze all ihre Verführung in einem flehenden, sehnsüchtigen Blick erglühen ließ, fuhr er auf ob des unerträglichen Übermaßes. »Nein, ewig nicht!«, trotzte es in ihm, und eine zornig erhabene Kraft flammte in seinem Gesicht auf. Er wollte hinausstürmen, an der Betroffenen vorüber. Sein Tee war unbezahlt, er dachte nicht daran. Doch während die begeisterten Zuhörer den Künstler mit donnerndem Beifall überschütteten, fuhr die Schwarze wie eine getretene Schlange an der Seite des Flüchtenden empor. Sie ergriff ihn am Arm; er stand wie vom Blitz getroffen da.

»Bitte bleiben Sie!«, entfuhr es ihr, leise und beinahe angstvoll. »Oder warten Sie, ich komme mit Ihnen.« Ihr Deutsch war weich und klangvoll, wie es im Osten Europas gesprochen wurde. Sie griff nach ihrem Handtäschchen, warf einen Geldschein hin und versuchte dann, den Jüngling mit sich hinauszuziehen.

In diesem Augenblick legte sich eine fremde Hand auf ihre Schulter, während eine ekelhaft näselnde Stimme ihr kalt ins Ohr schrillte: »’n Abend, Esther! Na, hat man dich endlich?«

Sie wandte sich um. Ein junger Mann von dunklem Haarwuchs und rötlicher Gesichtsfarbe lächelte ihr blöde überlegen ins blutleere Antlitz. »Komm, Estherchen«, fuhr er weiter, »mach nicht so ’n böses Gesicht. Schönen Gruß übrigens vom Herrn Papa. Der wird sich freuen, wenn ich ihm seinen Vogel wieder heimbringe.« Damit schlug er seinen Arm um ihre Schultern und neigte sich, um ihr einen halb verbindlichen, halb lüsternen Kuss auf die Lippen zu drücken.

Mit unmenschlicher Kraft stieß sie ihn zurück. Er wäre hingefallen, hätte er sich nicht in letzter Not an der Lehne eines unfern stehenden Stuhles zu halten vermocht.

»Nichtswürdige Kreatur!«, rief sie aus. Ihr Lachen schlug höhnisch ans Ohr der Umstehenden, die längst mit Verwunderung den Auftritt verfolgten.

In siegender Würde strahlend, wandte sie sich jetzt dem erstarrten und staunenden Rudolf zu und warf sich mit Ungestüm an seine Brust. »Retten Sie mich!«, rief sie. »Retten Sie mich vor diesem! Kommen Sie, fliehen wir hinaus!« Und sie riss ihn mit sich fort, dem Ausgang zu.

Die ganze Versammlung hatte sich erhoben und verfolgte gespannt, wie der Zurückgestoßene emporsprang und dem flüchtenden Paar nacheilte. Dieses war inzwischen an die große Pforte gelangt, die sich vor dem hastigen Druck der Schwarzen schmetternd öffnete. Doch in Rudolf, der sich bis jetzt willenlos hatte führen lassen, erwachten mit einem Male alle Lebensgeister. Entschlossen riss er sich los aus der Umklammerung: »Lassen Sie mich! Ich kenne Sie nicht!«

»Ich werde Ihnen alles erklären! Kommen Sie!«

Entsetzliche Angst zitterte in ihrer Stimme. Aber schon hatte der Verfolger sie erreicht, und während er sie mit einem höhnisch-untertänigen »Gestatten Sie, Fräulein?« beim Arm ergriff, um sie nicht mehr loszulassen, entsprang Rudolf durch die offene Tür und rannte wie ein Besessener nach Hause.

Augenblicklich ging er zu Bett, doch die Nacht blieb schlaflos. Sein Kopf war ein Fiebermeer. Unzählige Gestalten wirbelten sinnraubend durcheinander. Bleich wandelten ihm Leopold und Leonore vorüber, er fühlte das herrlich glutvolle Mädchen in seinen Armen brennen, und ein heißer, fast tierischer Schrei entrang sich seiner Kehle, sooft Agnes’ liebliche Anmut, umbuhlt von einem fremden Schatten, vor seinem inneren Auge erschien. Erst gegen fünf Uhr schlief er sachte ein, und als ihn die Magd eine Stunde später weckte, war er so matt, dass er beschloss, den Vormittag im Bett zu verbringen.

Doch schon um acht wurde er neuerdings gestört. Man brachte ihm einen Brief. Mit zitternden Händen empfing er ihn, und beinahe wäre ihm ein Laut bangen Entzückens entfahren, als ihm der Poststempel aus M. ins Gesicht sprang. Er riss den Umschlag auf, wobei er den Brief selbst erheblich beschädigte, und las die folgenden Worte:

M., den 24. Mai 1929

Mein lieber, armer Rudolf!

Endlich erhältst Du eine Antwort auf Deine langen, treuen Briefe. Du dauerst mich, mein Rudolf, denn ich weiß, welche Schmerzen mein Schweigen Dir bereitet hat. Aber ich kann nichts dafür. Denke Dir, schon auf der Reise in dem kalten Zug habe ich mich so erkältet, dass ich am Abend Fieber bekam und am nächsten Morgen ins Krankenhaus gebracht werden musste, weil ich beidseitige Lungenentzündung hatte. Es ist bald schlimmer geworden, und ich war beinahe die ganze Zeit bewusstlos. Jetzt geht es besser, aber ich bin noch sehr schwach. Deine Briefe hat man mir erst gestern gegeben, da habe ich gleich schreiben wollen, aber es ging nicht, ich war zu schwach. Auch jetzt werde ich müde. Du Liebster! Es freute mich unsäglich, wenn Du einmal nach Deiner Agnes sehen könntest. Vieles in Deinem Brief beschäftigt mich sehr, ich möchte gerne mit Dir darüber reden.

Lebe wohl! Viele herzliche Grüße von

Deiner Agnes

Tränen der Reue und Dankbarkeit traten Rudolf in die Augen, als er zu Ende gelesen hatte. »O Geliebte«, rief er aus, »verzeih mir, dass ich so unwürdige Gedanken gehegt habe!« Dann plötzlich überfiel ihn ein jähes Entsetzen. So lange bewusstlos?! Sterben hätte sie können, er hätte es nicht einmal geahnt! Und dann wieder erfüllte ihn unendliche Freude, war sie ja genesen, dem Leben wiedergeschenkt – und nicht nur dem Leben, sondern auch ihm! Wie gering erschienen ihm nun die Qualen der verflossenen Tage gegen sein aufjauchzendes Empfinden.

Schlafen mochte er jetzt nicht mehr, indessen blieb er noch während zweier Stunden glückselig liegen. Dabei überdachte er, wie er am besten zu dem teuren Mädchen gelangen könnte, um seine Sehnsucht, und wohl auch ein klein wenig die ihre, zu stillen. Es war Samstag. Rudolf zweifelte erst, ob er gleich am selben Nachmittag oder in der Frühe des folgenden Sonntags nach M. fahren sollte, und entschied sich schließlich, obschon er das Wiedersehen kaum zu erwarten vermochte, für Letzteres, damit er länger bei der Geliebten verweilen konnte. Um einen daheim anzubringenden Vorwand war er nicht verlegen. Obwohl Familie Steinberg ohnehin von seinem Verhältnis wusste, wollte er ihr um keinen Preis das Nähere seiner Beziehung zu dem Mädchen entdecken; einerseits – Rudolf besaß zwei jüngere Schwestern –, um vor jeder tiefer greifenden Neckerei sicher zu sein, andererseits, um sich seine vollkommene Freiheit zu wahren. Ein erfundener Ausflug mit einem Kameraden sollte diesmal seine Dienste leisten.

Die Abendpost brachte ihm, wie um sein Glück zu krönen, ein Schreiben des Theaters von F., woraus er die günstige Aufnahme seiner Tragödie erfuhr. Wenn er, so hieß es, sich zu einigen in der Folge näher besprochenen Änderungen entschließen könnte, würde man das Stück im nächsten Frühling zur Uraufführung bringen. Rudolf zögerte nicht, auf das Anerbieten einzutreten, schrieb gleich in diesem Sinne zurück und begab sich schon nach dem Abendessen an die geringfügigen Umarbeitungen. Hierin wurde er durch den Besuch Leopolds gestört, der sich nach dem Befinden des Freundes erkundigen wollte. Von ihm vernahm Rudolf, dass er morgen mit Leonore einen Tagesausflug nach einem bekannten Aussichtspunkt des Juragebirges zu unternehmen gedachte. Auch Rudolf erzählte jetzt von seinem Vorhaben, und es fand sich, dass beider Züge fast gleichzeitig, nämlich kurz nach halb zehn Uhr, wiewohl in verschiedene Richtungen fuhren. Steinberg äußerte sogleich den Wunsch, Leonore auf dem Bahnsteig zu begrüßen, und Leopold, obwohl er das äußerst unnütz fand, musste wohl oder übel seine Zustimmung geben.

Die schwarzhaarige Fremde hatte Rudolf gänzlich vergessen. Er ahnte nicht, was sich am Abend zuvor hinter seinem Rücken zugetragen hatte, als er so Hals über Kopf davongestürmt war. Sie hatte nämlich blitzschnell in die Westentaschen ihres triumphierenden Belästigers gegriffen, aus der linken ein Federmesser gezogen, es geöffnet und den Verdutzten damit tief in den Daumen geschnitten. Da ließ sie der Bursche mit gellem Wehruf fahren und eilte nach innen, wo ihm eine der Kellnerinnen die schwerwiegende Wunde zuerst mit Jodlösung durchreinigen und hierauf mit einem sorgfältigen Verband versehen musste. Die Schwarze aber entwischte inzwischen auf die Straße, gewahrte in geringem Abstand den davonjagenden Rudolf und nahm, ohne sich zu besinnen, seine Verfolgung auf. Zwar gelang es ihr nicht, ihn einzuholen, vielleicht, weil sie es nicht wollte. Doch las sie, als sie ihn in der väterlichen Villa verschwinden gesehen hatte, Familiennamen und Hausnummer von einem Schildchen am Gartentor ab, den Namen der Straße von einem anderen und machte sich dann, befriedigt über den glimpflichen Ausgang des Abenteuers, auf den Weg nach dem Gasthof, wo sie wohnte.

Als sie sorglos in dessen Vorhalle eintrat, sah sie zu ihrem Schrecken den uns bekannten Burschen mit einem zweiten jungen Mann auf sich zueilen. Diesmal versuchte sie nicht zu entwischen. Spöttisch blickte sie auf den dicken Verband: »Hoffentlich nicht gefährlich.« Dann ließ sie sich von den Herren an den nächsten Tisch führen und versank alsbald in ein lebhaftes, ihre Lage betreffendes Gespräch.

Esther Löwental war die Tochter eines reichen, zur Hälfte jüdischen Bankmannes aus der deutschen Hauptstadt. Ihre Mutter, eine Israelitin ungarischer Herkunft, war an Esthers zehntem Geburtstag gestorben, und so wurde das Kind, um das sich der Vater persönlich sehr wenig kümmerte, erst durch eine Pflegerin und später, seit seinem zwölften Jahr, von einem außerordentlich fähigen Hauslehrer erzogen. Esther war ein hochbegabtes, aber in jeder Hinsicht eigenartiges Mädchen, das früh schon auf den sie umgebenden Kreis mit Geringschätzung, ja Verachtung herabzublicken pflegte. Ihre körperliche Schönheit, verbunden mit dem Vermögen des Vaters, lockte, sobald sie das notwendige Alter erreicht hatte, eine große Bewerberschar in Löwentals Haus, welche die Tochter oft scherzend, doch nicht ganz zu Unrecht, mit der umfreiten Penelopeia verglich. Denn wie diese wehrte sie sich stets entschieden wider die mitunter nicht unbedeutenden Anträge, ohne ihren Abscheu vor dem ihr gegenüber durchwegs minderwertigen Rudel zu verbergen. Dies wie manches andere führte schließlich zum Streit mit dem Vater, der besonders den uns bereits bekannten jungen Harry Schwock, Sohn eines begüterten Kollegen, gerne zu seinem Schwiegersohn gemacht hätte. Die unbeugsame Tochter, ohnehin in der Staubluft ihres Hauses erstickend und voller Sehnsucht nach freiem Leben, entschloss sich eines Tages nach heftigem Wortwechsel mit dem Alten kurzweg zur Flucht nach der Schweiz, wohin ihr von der letzten Winterferienreise her ein Pass zur Verfügung stand. An Geld und Schmucksachen raffte sie zusammen, was sie irgendwie auftreiben konnte, stellte eine auf das Erbe ihrer Mutter lautende Quittung darüber aus und schrieb zuletzt einen Abschiedsbrief, worin sie Dänemark oder Schweden als Ziel ihrer Reise angab und um ein Unterlassen jeder Verfolgung bat. Für die Nacht ihrer Flucht hatte sie sich von einem Verehrer auf einen Ball einladen und hierauf dem Bejammernswürdigen durch das reichlich bestochene Dienstmädchen schmerzhaft abführende Pillen verabfolgen lassen, weshalb er sich wie erwartet hatte abmelden müssen. Ein Schnellzug führte sie am selben Abend in die Ferne. Die Suchen des überaus zornigen Vaters gingen erst auf falschen Spuren, dann aber wurde der Aufenthalt der Ausreißerin entdeckt und Harry Schwock mit einem zweiten Bewerber losgeschickt, um sie heimzuholen.

Und nun saß man streitend da. Harry, stets lächelnd, aber nicht ohne Angstzeichen in Stimme, Gesicht und Gebärden, versicherte fortwährend, dass die Gefangene erstens nach Hause zurückkehren und zweitens, nach ihrem handschriftlichen Versprechen, über höchstens zwei Monate sich in Schwocks rechtliche Gattin verwandeln würde, während Esther ihn vom Gegenteil zu überzeugen versuchte. Schließlich gab sie so weit nach, dass sie in die Heimkehr einwilligte, sofern ihr Vater ihr zuvor vollkommene Verzeihung und die Rücknahme seines Versprechens an Harry zusicherte. Dieser erfand natürlich die heftigsten Einwände, allein der zweite Bewerber unterstützte den Vorschlag umso lebhafter, und ohne Sorge überließ ihm Esther die telegraphische Erledigung der Angelegenheit. Hierauf ging man in die verschiedenen Zimmer auseinander.

Früh am nächsten Morgen erhielt man die telegraphische Annahme von Esthers Bedingungen durch Herrn Löwental und beschloss alsbald, mit dem um neun Uhr fünfunddreißig fahrenden Zug – demselben, den Leopold Wagner benutzen musste – abzureisen.

Liebe und Tod in Leipzig

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