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Drittes Kapitel

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Ein dichtes Menschengewimmel drängte sich in den Hallen und auf den Wartesteigen des Bahnhofs von B. Rudolf, der seine Freunde am Haupteingang getroffen hatte, begleitete sie nun, Leonore zur Seite schreitend, an ihren etwas vor dem seinen fahrenden Zug. Es war das erste Mal seit dem Frohwarter Abend, dass er das Mädchen wiedersah, und er fand sie zurückhaltender, ja frostiger als je zuvor. Indessen war sie nicht unhöflich, trug ihm sogar einen Gruß an Agnes auf und ließ ihr gute Besserung wünschen.

Auch Esther hatte sich mit ihren beiden Beschützern auf dem Bahnsteig eingefunden, wo sie kaum einer, an dem sie vorüberkam, ohne genießendes Betrachten im Gewühle verschwinden ließ. Längst hatte sie den schwatzenden, ihrer nicht achtenden Rudolf gewahrt. In einiger Entfernung war sie stehen geblieben. »Geht«, befahl sie ihren Begleitern, »besetzt mir ein Abteil! Möglicherweise fahre ich anfänglich in einem anderen Wagen.« Als die beiden höchst befremdet in eine nähere Erklärung drangen, drohte sie aufbrausend, sie würde sich der Abreise entziehen, reichte ihnen aber doch, halb als Pfand, halb zum Gewinn größerer Freiheit, ihr Gepäck, worauf sie sich eingeschüchtert und beruhigt zugleich zu ihrem Erste-Klasse-Wagen aufmachten.

Esther beobachtete scharf, ohne gesehen zu werden. Zu ihrem Leidwesen bemerkte sie, dass Rudolf sich bald verabschiedete und ging. Das zurückgebliebene Paar stieg hierauf in einen Wagen dritter Klasse. Sie folgte ihnen, ohne sich zu besinnen, setzte sich ihnen gegenüber und wurde alsbald mit kritischem Blick gemustert. Wagner mochte ihre Schönheit bestaunen, Leonore mit einer eifersüchtigen Regung kämpfen. Esther blieb nicht lange stumm. »Entschuldigen Sie«, begann sie noch vor der Abfahrt des Zuges, »ich sah Sie vorhin mit einem jungen Herrn sich unterhalten. Wenn ich nicht irrte, so handelte es sich um einen gewissen Steinberg?«

»Ohne Zweifel«, antwortete Leopold. »Rudolf, kennen Sie ihn?«

»Aber natürlich! Früher, als wir noch in der Schweiz lebten, wohnten wir sogar direkt nebeneinander. Wir verkehrten häufig. Aber seit wir fort sind, habe ich ihn aus den Augen verloren. Was macht er nur immer?«

»Nun, er ist nicht übel zu Wege. Schon bald wird er seine Reifeprüfung ablegen.«

»Ei, da hat er wohl Angst.«

»Keine Spur. Er war zwar in den letzten Jahren, wenigstens in der Schule, nicht gerade ein Muster an Strebsamkeit, ich glaube, er langweilt sich. Aber eine anständige Note wird er sich trotzdem holen.«

»Und dann? Was hat er für Pläne?«

»Er will studieren. Literatur und Philosophie und solche Sachen. Aber das alles, glaube ich, nur, um eine feste Grundlage für seine eigene Dichtung zu gewinnen.«

»Er dichtet? Wer hätte das gedacht! Was macht er denn? Geburtstags- und Neujahrsgedichte?«

»Nein, die sind nicht eben seine Stärke. Er hat alles Mögliche zusammengeschrieben; eine Tragödie von ihm soll nächsten Frühling vom Stadttheater in F. aufgeführt werden.«

»Wirklich? Die werd ich mir ansehen müssen.«

»Sind Sie etwa in F. zu Hause?«

»Nein, ich stamme aus der Hauptstadt. Ich werde eben die Reise in Kauf nehmen müssen.«

»Sie waren in der Schweiz in den Ferien?«

»Ja, leider nur drei Wochen.«

In dieser Weise schwatzte man weiter, das heißt vornehmlich die Löwental und der widerwillig zur Antwort gezwungene Leopold. Wetter, Hotel- und Bahnpreise, Automobilunfälle, Bubikopf und Tango bildeten den Gesprächsstoff. Zwischendurch erkundigte sich Esther nach Steinbergs Verhältnissen, wenn auch ohne nennenswertes Ergebnis.

Nach Kurzem fuhr der Zug in den Bahnhof des Städtchens ein, wo unser Paar auszusteigen gedachte.

»Grüßen Sie doch bitte Rudolf recht herzlich von mir«, ersuchte Esther, als sie die beiden Aufbruchsanstalten treffen sah.

»Von wem, wenn ich bitten darf?«, fragte Leopold.

»Ach so!« Ein Lächeln glitt über ihre Züge. »Sagen Sie ihm: von der schwarzen Pamina.«

»Wohl.«

»Und dann sagen Sie ihm noch – aber nein, das taugt nicht für Sie. Mein Fräulein, Ihnen will ich’s anvertrauen.« Sie neigte sich zu der unmerklich weichenden Leonore hinüber und flüsterte: »Sagen Sie ihm, dass …« Aber sie fuhr wieder zurück. Das Mädchen hatte sie während der ganzen Zeit so eisig kalt und stumm betrachtet. »Sie sind doch nicht etwa seine Schwester?!«, rief sie verdächtigend aus.

»Wessen?«, erwiderte Leonore, obgleich sie überhaupt keines Mannes Schwester war.

»Rudolfs.«

»Wie können Sie so etwas fragen, da Sie doch die Familie so wohl gekannt haben?«

»Ach ja, das war dumm von mir, Sie haben recht. Also«, und sie flüsterte wieder, »sagen Sie ihm – dass ich ihn liebe!« Und damit wandte sie sich um und eilte in den nächsten Wagen und von da in den folgenden, bis sie endlich zu ihren sich bereits ordentlich ängstigenden Reisegefährten gelangte. Ihrer nicht weiter achtend, ließ sie sich nieder und vergrub sich in ihr Reisebuch, Hölderlins Hyperion , während der Zug sie hastig den Gefilden entführte, die sie so ungern verließ.

Als Leopold mit der Geliebten ausgestiegen war, wünschte er naturgemäß um den heimlichen Auftrag der Schwarzen zu wissen, doch war Leonore auf keine Art zum Reden zu bringen.

»Übrigens«, meinte sie, »war’s unsinniges Zeug, das Steinberg nie erfahren soll, wenigstens von mir nicht.« Damit war die Angelegenheit erledigt.

Das Paar verbrachte einen angenehmen und – wie wir erfahren werden –, nicht bedeutungslosen Tag in der sonnigen Höhe.

Im großen Krankenhaus von M. schwelgte Rudolf in frohester Zufriedenheit. Vom Bahnhof war er ohne Umweg hierhergeeilt. Im Verwaltungsraum war er mit etwas seltsamen Blicken betrachtet worden. Die Patientin, hatte es geheißen, wäre noch zu schwach, um mehr als die allerdringendsten Besuche zu empfangen. Rudolf hatte versichert, der seine wäre dringend genug, und unter Überreichung seiner Karte gebeten, ihn bei dem Mädchen anmelden zu wollen. Nach Kurzem war ihm denn auch der Eintritt gestattet worden. Eine Schwester hatte ihn bis ans Zimmer der Kranken geführt. Hier hatte sie ihn allein gelassen, Rudolf, dessen Herz klopfte wie ein Schmiedehammer, hatte leise die Tür geöffnet und kniete im nächsten Augenblick bewegt am Bett des keines Wortes fähigen Kindes.

»Oh meine Agnes!«, rief er endlich aus, indem er sie umarmte. »So hab ich dich endlich wieder!«

»Ja, Rudolf, du hättest mich leicht verlieren können, aber jetzt geht es besser, jetzt bleibe ich dir erhalten.«

Lange ruhte sein Blick auf dem weißen, eingefallenen Gesichtchen der Geliebten, die heftig mit der Erregung des Wiedersehens kämpfte. Schrecken ergriff ihn ob des trostlosen Anblicks. »Kind, wie blass du bist!«, entfuhr es ihm. »Komm, leg dich schön nieder und reg dich nicht auf, mein Liebes!« Sanft strich er ihr das Kissen zurecht, und sie legte sich, folgsam wie ein Hündchen. »Ach ja«, lächelte sie, »ich bin noch recht schwach, aber ich habe doch nicht mehr die unangenehmen Schmerzen wie am Anfang. Aber« – und sie blickte mit einiger Besorgnis auf Rudolfs Antlitz – »wie schlecht du aussiehst! Ach, mein Schweigen musste dich ja beinahe krank machen. Aber so hab ich mir’s doch nicht gedacht.«

Er hatte sich in verkehrter Richtung auf einen Stuhl neben das Krankenlager gesetzt, damit sein Auge in demjenigen des geliebten Mädchens verweilen konnte. Sie reichte ihm ihre durch die Krankheit ausgezehrte Hand, die er innig an seine Lippen presste. »Oh Agnes«, rief er aus, »dass ich’s wieder halten kann und streicheln und drücken, dein kleines Händchen! Ich weiß gar nicht, was ich reden soll mit dir, so froh bin ich, so glücklich! Ich möchte dich immer nur anschauen und schweigen dazu und die unendliche Wonne fühlen! Ich glaube, in deinen Augen könnte ich ertrinken, so tief sind sie, so …«

»Schwärmer!«

»Gell, ich bin’s noch mehr als früher.«

»Ich begreif es auch, du hast es so lange in dir vergraben müssen. Jetzt hältst du’s einfach nicht mehr aus.«

»Du hast recht. Ich glaube, ich bin ganz wie ein Kind, wenigstens fühl ich mich so, und ich möchte auch nicht, dass es anders wäre … Aber du erkältest dich ja so. Komm, steck deine Hände schön unter die Decke!« Bis an die Schulter hüllte er die Geliebte ein.

»Du bist ja strenger als die Schwester«, lächelte sie.

Eine ganze Weile betrachteten sie sich in wortlosem Glück. Dann fragte er wieder: »Du bekommst doch heute nicht etwa Besuch von deinen Eltern?«

»Zufällig nicht, sie waren schon gestern den ganzen Nachmittag bei mir. Aber mein Bruder kommt vielleicht um zwei Uhr.«

»Aber kann ich bleiben?«

»Natürlich! Das heißt, wir müssen ihn bitten, dass er daheim nichts erzählt, sie würden es doch nicht begreifen.«

Durch das offene Fenster hörte man das Mittagsläuten der Stadtkirche. »Jetzt bekomm ich mein Essen«, sagte Agnes. »Hast du schon gehabt?«

»Nein.« Rudolf verspürte plötzlich riesigen Hunger. Er schaute so drollig drein, dass das Mädchen sich eines herzlichen Lachens nicht enthalten konnte.

In diesem Augenblick trat die Schwester mit einer dampfenden Suppe ein.

»Schwester Ida«, rief ihr die Kranke entgegen, »denken Sie, mein Freund hier hat den ganzen Morgen nichts gegessen. Können Sie ihm nicht etwas zu Mittag bringen?«

»Wenn der Herr wünscht, ich kann schon.«

Und da der Herr, obgleich nicht ohne Verlegenheit, wünschte, versprach sie, die Bestellung auszurichten. Vorerst aber trat sie an das Bett. Agnes richtete sich auf und wollte sich zurechtsetzen, aber ganz unvermittelt bedeckte sie sich mit der Linken das Gesicht und sank kraftlos, wie schwindelnd zurück.

»Um Gottes willen, was ist Ihnen?«, rief die Schwester. Rudolf war aufgesprungen, zu Tode erschrocken.

»Nichts, nichts«, sagte Agnes, schon wieder mit hellem und freundlichem Gesicht. »Setz dich nur, Rudolf, es ist schon vorüber. Nur die Schwäche.«

»Sie haben sich ungebührlich angestrengt!« Die Schwester streifte mit vorwurfsvollem Blick den betroffenen Besucher. »Kommen Sie«, setzte sie hinzu, »ich will Ihnen die Suppe eingeben.«

Doch Agnes schüttelte das etwas wirre Lockenköpfchen. »Ich danke Ihnen, aber wenn Sie meinen, ich könne nicht selber – Rudolf, mein Freund, wird es Ihnen gewiss abnehmen. Gell, du willst?«

»Geben Sie nur, Schwester.«

Etwas widerwillig überließ sie ihm den Teller und brachte die Kranke in eine angenehmere, halb sitzende Lage. Hierauf ging sie.

»Vergessen Sie das Mittagessen für meinen Freund nicht«, rief Agnes ihr nach.

Rudolf setzte sich nahe ans obere Bettende und löffelte ihr die Suppe ein, Schluck um Schluck, wobei er ganz sachte verfuhr, um ja nichts zu verschütten.

Dann brachte man Rudolfs Mahl, und während er seinen Hunger stillte, sah ihm Agnes mit frohem Gesicht zu, wobei sie allerlei Munteres schwatzte und alles andere als griesgrämige Antworten erhielt.

Als auch Rudolf seine Arbeit bewältigt hatte, sagte Agnes: »Ich sollte wohl schlafen jetzt, aber weil du da bist, will ich’s bleiben lassen für heute.«

Doch davon wollte der Besorgte nichts wissen. »Nein, nein, was denkst du! Schlafe nur, damit du bald gesund bist und …«

In diesem Augenblick trat die Schwester ein und verlangte ein Gleiches, und so musste sich Agnes wohl oder übel fügen.

»Ich bin ja auch müde«, räumte sie ein, »aber was machst denn du inzwischen, du Armer?«

»Da sei nicht bange! Wenn’s dich nicht stört, so setz ich mich an dein Fenster und lese ein wenig in meinem Werther

»Du bist doch immer derselbe Bücherwurm. Sogar zu seiner Agnes schleppt er eins mit.«

Schwester Ida teilte noch mit, man habe eben von zu Hause telefoniert, dass Agnes’ Bruder anstatt mit der Bahn auf seinem Rad fahre und daher kaum vor drei Uhr zu erwarten sei. »Das ist gut«, flüsterte Agnes, als die Schwester draußen war, »so hab ich dich noch eine ganze Weile allein.«

Und damit drehte sie sich auf die Seite und schloss die Augen.

Rudolf setzte sich näher ans Tageslicht und zog sein Buch hervor. Aber obwohl er sich eine Zeit lang ordentliche Mühe gab, verstand er herzlich wenig von dem Gelesenen, er brachte es zu keiner Versenkung in den doch fesselnden Stoff. Zu mächtig hielt ihn der Zauber der Gegenwart gefangen. Immer wieder wandte sich sein Blick nach dem leise atmenden Kind, und so legte er endlich sein Buch weg und träumte selig vor sich hin.

Kurz nach zwei Uhr erwachte Agnes. »So, jetzt hab ich aber fein geschlafen. Was macht dein Werther?«

»Der schreibt noch an seinem ersten Brief herum. Ich hab’s nicht ausgehalten bei seiner Lotte, ich hab ja dich.« Rudolf hatte seinen früheren Platz neben ihrem Lager wieder eingenommen. »Jetzt muss ich dir aber erzählen, was ich alles erlebt habe die Zeit über«, bemerkte er, »und dann weiß ich noch gar nicht, wie es eigentlich gekommen ist mit deiner Entzündung.«

Und so erzählten sie: das Mädchen ihre Krankheitsgeschichte, der Jüngling seine Erlebnisse mit Leopold und Leonore und der seltsamen Schwarzen im Kursaal, deren unheimliches Wesen selbst durch Rudolfs bloße Vermittlung auf die geängstigte Agnes eine tief furchende Wirkung ausübte.

»Fürchtest du dich?«, fragte er, als er etwas Leidendes in dem schmalen Gesicht bemerkte.

»Nein, aber ich könnte sie nicht sehen, ich hätte Angst vor ihr.«

Inzwischen war es halb vier geworden, und Karl war immer noch nicht da.

»Lange kann es nicht mehr dauern«, versetzte Rudolf.

»Nein. Es ist jedoch gut, dass du mich daran erinnerst. Ich muss dich nämlich noch fragen – weißt du, wegen deines Briefs – was du da geschrieben hast über unser Verhältnis …«

Sie sprach hastig, aufgeregt, eine sanfte Röte hatte ihr Antlitz überfärbt.

Er kam ihr zu Hilfe. »Gell, du hattest das nicht erwartet, es hat dich überrascht, besonders jetzt, wo du ohnehin schwach und wie von einem langen Schlaf erwacht bist.«

»Ja, es ist wahr, ich hatte nie an so etwas gedacht. Ich lebte einfach mit dir und hatte dich gern und wusste, dass auch du mich gernhattest. Und jetzt erfahre ich plötzlich, dass es anders ist. Ach, Liebster, das hat mich so ergriffen und verwirrt. Weißt du«, setzte sie ganz leise hinzu, »ich fürchte mich, etwas entscheiden zu müssen, jetzt, wo es nicht mehr Kinderspiel ist. Bei dir ist alles so ganz anders, als man sich’s gewöhnlich vorstellt, und ich – ich sehe nicht, was gut ist und was böse.«

Sie schwieg. Ein flehender Ausdruck hatte sich ihres schönen Gesichtes bemächtigt, als hätte sie ihr Heil, ihren Frieden allein von dem Geliebten zu erwarten gehabt. Dieser fühlte sich wahrhaft gerührt. »Mein Liebes«, sprach er, »mir tut’s so leid, dass ich dir solche Ängstigungen bereite; aber tausendmal dank ich dir, dass du offen bist und mir nichts verheimlichst.« Er dachte nach. Plötzlich griff er, leidenschaftlich bewegt, nach ihrer Hand. »Agnes!«, rief er aus. »Agnes, sag mir: Würdest du dein Leben dem meinen verbinden können, für immer und ewig? Würde dein warmes Herz dir’s erlauben? Sag’s, liebes Kind, du weißt, dass du deine Seele keinem Unwürdigen öffnest, selbst wenn – wenn es nicht sein sollte.«

Das Mädchen schlug die Augen nieder. Sie bebte schwach, aber er fühlte es, und namenlose Schauer kamen über ihn. Kaum vernehmlich hauchte sie jetzt: »Du weißt, dass ich dich liebhabe.«

Da übermannte ihn die Glut seines Herzens. Er sank am Bett nieder, und trunken vor unendlicher Lust hob er mit der Linken ihr glühendes Haupt empor und drückte einen heißen Kuss auf ihre liebliche Stirn. »Ja, Agnes, ich weiß es.«

»Oh Rudolf – verlass mich nicht – jetzt würde ich’s nicht mehr ertragen!« Warme Tränen drangen ihr aus den Augen. Sie hielt sich nicht länger zurück. Laut schluchzend barg sie ihr Antlitz an seiner Brust.

Rudolf enthielt sich nur mit Mühe des Weinens. »Nein, mein Mädchen«, rief er aus, »nein – auch mir fiele es schwer wie der Tod!«

In diesem Augenblick pochte es an die Tür. Rudolf fuhr empor, eiligst sein Gesicht trocknend. Agnes, ermattet durch den Überfluss der Leidenschaft, sank auf die Kissen zurück. »Wenn es nur nicht Karl ist«, murmelte sie.

Doch es war der zwanzigjährige Bruder, ein tüchtiger junger Mann, der sich auf einem Seminar zum Elementarlehrer ausbilden ließ. Nach abermals unbeantwortetem Pochen trat er ein und war nicht wenig betroffen beim Anblick des Fremden und der weinenden Schwester. »Guten Abend, Agnes«, begann er.

»Guten Abend, Karl.«

Auch Rudolf trat hinzu: »Guten Abend, Herr Klinger.«

»Wohl der Herr Doktor?«, fragte Karl, dem diese Lösung des Rätsels trotz Steinbergs jugendlichem Äußeren – für einen Assistenten mochte es ja angehen – als die wahrscheinlichste erschien.

»Das nicht gerade. Ich heiße Rudolf Steinberg und bin ein Freund …«

»Ach so.« Klinger runzelte die Stirn. Er wusste, dass seine Schwester einen Liebhaber hatte. Was hatte der hier zu schaffen?

»Du wunderst dich natürlich, Karl«, rief das Mädchen, »aber ich will dir’s erklären.«

Bruder und Schwester umarmten sich. »Du hast geweint, Agnes«, warf er ihr vor. Nicht weiter auf die Bemerkung achtend, setzte sie dem Bruder auseinander, dass Rudolf, ihr bester Freund, ein Gymnasiast und Dichter, sie besuchen gekommen war, sobald er von ihrer Krankheit und Genesung gehört hatte. »Das ist doch lieb von ihm«, schloss sie, »findest du nicht? Aber höre, Karl, eine Bitte hab ich an dich: Sag unseren Eltern nichts, sie würden sich unnütze Sorgen machen.«

Finster sah Karl vor sich hin.

»Bruder, versprich mir’s!«, bat sie eindringlich.

»Dir zuliebe, Agnes.« Zwischen den Zähnen murmelte er: »Aber hüten soll er sich, was er tut, der andere!«

Mehr als eine Stunde weilte Klinger am Bett der Genesenden. Rudolf hatte sich, um den Geschwistern nicht beschwerlich zu sein, beurlaubt und bummelte währenddessen gemütlich in dem ihm noch fremden Städtchen herum. Über alles Mögliche unterhielten sich Agnes und ihr Bruder, wobei dieser unter anderem auch auf den, wie er ihn nannte, unschicklichen Gast zu sprechen kam, vor dem er das Mädchen eindringlich warnte. »Vor solchen Leuten«, schloss er, »die die Freiheit an den Bäumen wachsen sehen, die Gedichte machen und den Hut schief auf dem Kopf tragen, muss man sich hüten. Das sag ich dir, Schwesterchen: Wenn er dir ein Leid zufügt, ungerächt bleibst du nicht. Aber ich lass es gar nicht so weit kommen, ich werde ihm schon auf die Finger sehen.«

Und dann küsste er das sich beinahe fürchtende Kind und ging, um rechtzeitig nach Hause zu gelangen.

»Oh Rudolf«, klagte das Mädchen, als der Geliebte kurz danach freudvoll zurückkehrte, »er will dir nicht gut, Karl, er hat Angst, du möchtest mir Leid antun. Ich hab ihm geschworen, du könntest das nie und nimmer. Aber du hast selber von solch entsetzlichen Sachen geschrieben in deinem Brief. Ich habe nicht ganz verstanden, was du meinst, aber gespürt hab ich, dass es Wahrheit ist, und im Innersten geschauert.«

Kosend legte Rudolf seine Rechte in ihre braunen Locken. »Sieh, mein Liebes«, sagte er weich und innig, »ich weiß wohl, du vermagst die Lösung nicht zu finden, die über mein und dein Schicksal bestimmen muss. Aber ich kann sie finden, und ich will’s, und du musst mir vertrauen!«

»In allem, Rudolf!«

Wir wollen die Geduld unserer Leser nicht mit der Aufzählung der tausend nebensächlichen Dinge, die die Liebenden während der verbleibenden Zeit noch sagten und berichteten, ermüden. Glücklich wie die Natur, aber im vollen Bewusstsein ihres sonntäglichen Zustandes schieden sie gegen Abend voneinander, und ohne Zwischenfall brachte der Schnellzug Rudolf in seine Vaterstadt zurück.

Liebe und Tod in Leipzig

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