Читать книгу Ben und Lasse - Agenten mit zu großer Klappe - Harry Voß - Страница 6
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ОглавлениеDas gemeinsame Frühstück für Herrn Jung droht eine Katastrophe zu werden. Bea läuft wie ein wild gewordenes Tier von einem zum anderen, hält jedem ihre superschlaue Liste auf dem tollen Klemmbrett unter die Nase und zählt hysterisch auf, wer eigentlich was hätte mitbringen sollen. Als die zweite Stunde beginnt, liegen auf dem Geburtstagstisch etwa zwanzig Päckchen Butter. Kein Brötchen, keine Marmelade, kein Nutella. Aber so viel Butter, wie 25 Schüler auftreiben können.
Die halbe Klasse steht um den Tisch herum und schaut auf die Buttersammlung, als wäre sie ein Museumsstück. Zwei Jungen haben bereits begonnen, aus den Butterpäckchen einen Turm zu bauen.
„Ich glaub, ich muss das jetzt mal organisieren“, sagt Jonathan. „Also. Wer hat alles Butter mitgebracht?“
Zwanzig Kinder melden sich.
„Aha. Und wer hat Marmelade mitgebracht?“
Niemand meldet sich.
„Du bist ein Schlaukopf“, mischt sich Bea ein. „Das wussten wir auch vorher schon.“
„Genau“, stimmt Hilko ihr zu. „Das wussten wir auch vorher schon.“
„Sag mal, Bea“, Tobias stemmt die Hände in die Seite und schaut sie forschend an. „Wieso hast du eigentlich selbst auch nur Butter mitgebracht?“
„Ja“, unterstützt ihn Hilko. „Warum hast du eigentlich auch nur Butter mitgebracht?“
Bea fuchtelt mit ihrem Klemmbrett in der Luft herum: „Weil ich die einzige bin, die wirklich Butter mitbringen sollte!“
„Es tut mir so leid“, sagt Leonie und führt mit beiden Zeigefingern ihre langen Haare hinter die Ohren. „Ich war mir so sicher, dass ich Butter mitbringen sollte. Aber Brötchen und Butter fängt ja auch beides mit B an …“
„Ball und Buntstifte fangen auch mit B an“, sagt Raul. „Hast du die auch mitgebracht?“
Leonie schaut ihn verständnislos an und schiebt gleich noch mal ihre Haare hinter die Ohren. „Nein, hab ich nicht. Entschuldigung.“
„Ich hab ein Brötchen mit“, sagt Adrian, der Neue, plötzlich. Er hält ein mit Salami belegtes Brötchen in der Hand. „Ich kann es spenden.“ Damit legt er sein Brötchen auf den Butter-Tisch.
Bea schaut ihn etwas irritiert an. Weil Adrian erst seit einer Stunde zur Klasse gehört, traut sie sich anscheinend nicht, ihn schon wild herumzukommandieren. „Da ist doch schon was drauf“, sagt sie nur.
„Weiß ich“, gibt Adrian zurück. „Salami. Ist doch gut. Dann muss man es nicht noch schmieren.“
„Meinst du?“
„Ich hab auch ein Brötchen mit“, ruft Sofie und legt sofort ihr Käsebrötchen neben das Salamibrötchen auf den Frühstückstisch.
„Also, ich weiß ja nicht“, wirft Bea unsicher ein. Aber schon laufen immer mehr Kinder zu ihren Schultaschen und wühlen ihre Pausenbrote heraus.
„Ich hab auch eins“, ruft Torben, zieht die Nase hoch, greift in seinen Ranzen und holt seine Brotdose raus. Als er sie öffnet, ist das Brötchen schon zur Hälfte aufgefuttert. „Oh, schon reingebissen.“ Er holt es raus. „Macht aber nichts, oder?“
„Ach, lass mal“, sagt Bea und verzieht das Gesicht.
In diesem Augenblick verdreht Torben seine Augen, zieht mit einem lauten „Haaa … Haaa …“ Luft durch die Nase und platscht mit einem heftigen „Haaa-Tschi!“ einen mittleren Nies-Schauer über sein Brötchen.
„Iiih“, machen gleich drei Mädchen auf einmal.
Ich hole mein Brot auch aus der Schultasche und lege es auf den Tisch, wo inzwischen schon fünf oder sechs belegte Brote liegen. Dazu mehrere Müsliriegel, gekochte Eier, geschnittene Apfelstücke und Gurkenscheiben.
„Ich kann meins wirklich noch dazulegen“, versucht Torben es noch einmal und wischt sich mit dem Handrücken die Nies-Reste unter der Nase weg.
„Nee, lass mal“, wiederholt Bea.
„Wirklich, ich mach das gern. Das ist Leberwurst, die mag ich sowieso nicht.“
Mandy flatscht eine braune Banane dazu, aber mit so einem Schwung, dass die Banane aufplatzt und aus allen Seiten Bananenmatsche herausquillt.
Anne und ein paar andere Mädchen haben schon begonnen, die Brötchen aufzuklappen, mit einigen der Gurkenstückchen zu belegen und so nebeneinander anzuordnen, dass es fast aussieht, als hätte man belegte Brötchenhälften beim Bäcker gekauft.
Samir schaut mit großen Augen den anderen dabei zu. Er fängt Beas Blick auf und sagt: „Ich auch! Aber – hab nix.“
„Ja, weiß ich doch“, winkt Bea ab.
Als Herr Jung die Klasse betritt, sind die Mädchen gerade eben mit ihren Vorbereitungen fertig geworden. Alle fangen an zu grölen: „Happy Birthday to you!“ Keiner kann wirklich singen, aber der Wille ist immerhin da. Herr Jung ist ganz gerührt und steht wie ein schüchternes Erstklässler-Geburtstagskind vor der Tafel. „Das habt ihr aber schön gesungen“, lobt er uns.
„Wir wollten für Sie ein Frühstück ausrichten“, jammert Bea und hält immer noch ihr Klemmbrett in der Hand. „Aber die anderen haben es einfach nicht auf die Reihe gekriegt. Wir haben nur Butter mitgebracht!“
Herr Jung sieht sich den Tisch an. In der einen Ecke liegt alles voller Butter. In der anderen Ecke liegen die Brote, Brötchen und alle anderen Sachen, die die Mädchen vorhin hier aufgebaut haben. Das sieht so toll aus, als hätte das wirklich extra jemand besorgt. Herr Jung freut sich: „Was heißt denn, ihr habt ‚nur Butter‘ besorgt? Das ist doch ein wirklicher Festtisch!“
Die anderen erzählen, wie das mit der Butter-Überschwemmung zustande gekommen ist und warum der Tisch jetzt doch so voller Frühstücksessen ist. Herr Jung hört sich alles an und lacht laut. Dann holt er ein Pausenbrot aus seiner Tasche, einen Apfel und eine Kinderschokolade und eröffnet das Frühstück. Alle dürfen von allem essen. Und obwohl ja eigentlich nur so viel da liegt, wie jeder mitgebracht hat, fühlen sich nachher alle satt und glücklich. Auch Samir hat es sich schmecken lassen, obwohl er nichts zum Frühstück beigesteuert hat. Trotzdem hat es irgendwie für alle gereicht. Hm. Zauberei.
In der ersten großen Pause gehe ich sofort hinter die Schule zum Fenster vor dem Technikraum. Ich habe gedacht, ich kann was herausfinden. Aber da bin ich wohl nicht der einzige, der diese Idee hatte. Eine ganze Traube von Schülerinnen und Schülern steht um das Fenster herum und gafft auf das große Holzbrett, das von innen dort angebracht worden ist, damit niemand durch die zerbrochene Fensterscheibe einsteigt. Tja. Dadurch kann ich leider auch nicht in den Technikraum hineinschauen. „Mein Nachbar hat gesagt, er hat heute Nacht Geräusche an der Schule gehört“, weiß einer zu berichten.
„Mein Vater hat gesagt, die Schule hat so viel Geld, die juckt das doch gar nicht“, wirft ein anderer ein.
„Der Hausmeister hat es dem Vater von Hanna erzählt und der hat es seiner Frau erzählt und die hat es Hanna erzählt“, höre ich Maria aus der Menschentraube heraus ihre Geschichte erzählen. Einige haben sofort einen Verdacht, wer eingebrochen sein könnte. Aber ich kenne keinen der Namen, die da aufgezählt werden. Ich verlasse die Menge der aufgedrehten Neuigkeiten-Erzähler, gehe ins Schulgebäude rein, die Treppe nach unten und direkt auf die Technikräume zu. Von Weitem sehe ich schon die aufgebrochene Tür. Der Türgriff ist abgeschraubt, der Türrahmen ist an einigen Stellen zersplittert. Einige Erwachsene stehen drumherum und reden miteinander. Einer bemerkt mich und kommt sofort auf mich zugeschossen: „Was hast du hier verloren? Wieso bist du nicht in der Pause?“
„Ich wollte mir den Tatort mal anschauen“, sag ich nur.
„Das ist nichts für Kinder“, sagt der Erwachsene streng, packt mich an den Schultern und schiebt mich den Gang zurück. „Geh mal ganz schnell zu den anderen.“
Ich geh zurück auf den Schulhof, aber ich nehme mir vor, die Tür noch mal zu untersuchen, wenn nicht so viele Erwachsene drumherum stehen. Heute Vormittag wird das aber sicher nichts mehr.
Nach der Pause haben wir Religion. Herr Jung, unser Klassenlehrer, unterrichtet bei uns außer Deutsch auch noch Musik und Religion. Darum haben wir schon wieder bei ihm. „Ich hab im Lehrerzimmer von eurer Geburtstags-Überraschung erzählt“, sagt er und grinst breit. „Die anderen waren total beeindruckt, wie ihr eure Pausenbrote geteilt habt. Keiner hat was für das Geburtstagsfrühstück mitgebracht, aber nachher sind alle satt geworden. Das ist doch klasse.“
„Ich hab viel mehr gegessen als sonst“, sagt Torben und bohrt dabei tief in der Nase.
„Ich auch!“, rufen Mandy und Hilko.
Herr Jung lacht. „Das hat mich an eine Geschichte aus der Bibel erinnert“, sagt er. „Und die passt ja ganz gut zum Religionsunterricht.“ Er erzählt, wie Jesus einmal vor fünftausend Leuten gepredigt hat. Irgendwo in der Wüste, weitab von irgendwelchen Dörfern oder Städten. Stundenlang hörten die Leute Jesus zu und dabei wurde es irgendwann Abend. „Jesus, hör mal langsam auf“, sagten die Männer, die Jesus immer begleiteten, leise zu ihm. „Die Leute haben schon Hunger. Sie müssen mal losgehen und sich was zu essen kaufen.“ – „Gebt ihr ihnen doch was zu essen“, schlug Jesus vor. „Wir haben nichts!“, wandten die Freunde ein. „Und wir haben auch viel zu wenig Geld, um für fünftausend Menschen was zu essen zu kaufen!“ Da kam ein Junge zu ihnen. Er hatte auch Jesus zugehört. Er hatte fünf Brote und zwei Fische dabei. Die gab er den Männern und die brachten es zu Jesus. „Das reicht niemals“, brummten sie dabei. Aber Jesus nahm die Brote und die Fische, dankte Gott in einem Gebet dafür, gab es seinen Freunden und forderte sie auf, das Essen an alle zu verteilen. Die Männer gingen mit den fünf Broten und den zwei Fischen durch die Menschenmenge. Und siehe da – es reichte für alle. Alle wurden satt. Am Ende sammelten sie sogar die übrigen Brotstücke ein. Und das waren noch mal zwölf Körbe voll.
Deborah meldet sich: „Die Geschichte kenne ich.“
Herr Jung nickt.
„Ich auch“, rufen Hilko und noch ein paar Kinder.
„Hat Jesus gezaubert?“, fragt Julian.
Herr Jung schmunzelt.
„Jesus kann nicht zaubern!“, ruft Deborah, ohne sich zu melden. „Jesus tut Wunder!“
„Hat Jesus also ein Wunder gezaubert?“, fragt Julian noch mal.
Herr Jung grinst breit und zeigt mit offener Hand in die Klasse. „Was meinen die anderen?“
Ein bisschen kenne ich mich auch aus. In meiner Familie beten wir auch. Und früher hat uns Mama vor dem Schlafengehen Geschichten aus der Kinderbibel vorgelesen. Außerdem gehen wir sonntags in den Kindergottesdienst. Da hören wir auch Geschichten aus der Bibel. Ich melde mich: „Jesus muss nicht zaubern. Jesus ist der Sohn von Gott. Und Gott kann alles.“
„Ja, das stimmt“, bestätigt Herr Jung. „Ein Wunder von Gott hat nichts mit Zauberei zu tun. Die Zauberer, die wir im Fernsehen sehen, die arbeiten mit Tricks. Es sieht erstaunlich aus, wie sie Dinge verschwinden lassen oder verwandeln. Aber sie haben sich das vorher überlegt, und wenn wir wüssten, wie so ein Trick funktioniert, dann wäre es nichts Besonderes mehr. Außerdem wollen die Zauberer mit ihren Tricks ja niemandem helfen. Bestenfalls wollen sie uns zum Lachen oder zum Staunen bringen. Das ist ja auch schon mal schön. Aber sie vermehren kein Geld oder Brot, um arme oder hungernde Menschen satt zu machen. Es gibt auch Zauberer in der Bibel. Die wollen auch niemandem helfen. Sie wollen meistens, dass man sie für stark und mächtig hält. Sie tun so, als wären sie wie Gott. Damit machen sie den Menschen Angst.“ Herr Jung setzt sich auf die Kante vom Lehrerpult und legt seine Hände in den Schoß. „Wenn Gott Wunder tut, dann ist das immer etwas, das den Menschen hilft: dass sie gesund werden oder satt, dass sie einander lieben und sich vertragen. Oder auch, damit man sieht, wie groß und mächtig Gott ist und dass ihm alles möglich ist.“ Herr Jung zeigt auf den Geburtstagstisch neben der Tafel, auf dem immer noch einige Butterpäckchen liegen. „Euer Geburtstagsgeschenk ist auch so ein kleines Wunder. Finde ich. Ihr hattet viel zu wenig. Eigentlich nur Butter. Keine Brötchen, keine Marmelade, nichts. Und trotzdem hat es für alle gereicht.“
„Das ist aber ein billiger Trick“, fällt Raul ein. „Denn niemand hat einfach ein Brötchen in zwanzig Brötchen vermehrt. Wir hatten ja alle die Sachen in der Schultasche!“
„Hm.“ Herr Jung legt den Zeigefinger vor seinen Mund und seine Nase, so wie er es immer tut, wenn er nachdenkt. „Ist das ein billiger Trick? Einer von euch hat angefangen, eins seiner Brötchen auszupacken. Wisst ihr noch, wer es war?“
Alle schauen sich in der Klasse um. Dann ruft Jonathan: „Der Neue!“, und zeigt auf Adrian.
Herr Jung wendet sich Adrian zu: „Weißt du noch, was du gedacht hast, als du dein Brötchen auf den Tisch gelegt hast? Hast du wirklich gedacht, du kannst mit einem einzigen Brötchen eine ganze Klasse satt machen?“
„Nee, das nicht“, antwortet Adrian und grinst. Aber dann wird er wieder ernst und legt seine Stirn in Falten. „Ich weiß nicht mehr, was ich gedacht habe. Ich habe nur gesehen, wie sich alle aufgeregt haben, weil sie nichts hatten. Und da dachte ich: Ich hab doch was. Und dann hab ich es einfach hingelegt. Ich hab gedacht, das kann ja schon mal ein Anfang sein.“
„Das kann schon mal ein Anfang sein“, wiederholt Herr Jung und freut sich. „Danke, Adrian. Der Junge in der Geschichte aus der Bibel – ob der wirklich gedacht hat, er kann mit fünf Broten und zwei Fischen fünftausend Leute versorgen? Sicher nicht. Aber immerhin hat er gesehen, dass alle Hunger hatten und es nichts zu essen gab. Und vielleicht hat er auch gedacht, das kann ja schon mal ein Anfang sein. Vielleicht hat er auch gemerkt, dass Jesus sich für die Menschen interessiert und dass er alles kann. Könnte doch sein, dass er Jesus vertraut hat, dass der aus seinem Wenigen ganz viel für alle machen kann.“
Tobias meldet sich und lacht: „Haben dann also die anderen auch alle ihre Pausenbrote aus der Tasche geholt?“
Herr Jung lacht auch ein bisschen. „Das weiß ich nicht. Das steht so nicht in der Bibel. Da steht nur, dass einer etwas abgegeben hat und Jesus hat das Wenige genommen und an alle verteilt. Und es hat gereicht. Ob es das Vertrauen des einen war oder ob die anderen plötzlich auch den Mut hatten, ihre Sachen dazuzulegen – in jedem Fall ist das kein Zauberkunststück, sondern ein Wunder. Und darum finde ich das, was heute Morgen hier in der Klasse passiert ist, auch ein schönes Wunder. Natürlich kann man das so erklären, wie du es getan hast, Raul. Dann könnte einer sagen: ‚Kein Wunder!‘ Aber wenn sich alle aufregen und nur feststellen, dass zu wenig da ist – und einer überwindet sich und ist bereit, sein Weniges zu teilen, und plötzlich fangen auch die anderen an zu teilen, dann ist das nicht nur logisch zu erklären. Dann ist da auch etwas innen drin passiert.“ Er tippt sich an die Stirn. „Hier im Kopf.“ Dann tippt er sich auf die Brust. „Und hier im Herzen. Und was da passiert, das kannst du nicht wie eine Rechnung im Mathe-Unterricht erklären. Denn das hat was mit Liebe und Barmherzigkeit zu tun. Und die ist nie ein ‚billiger Trick‘, sondern tut einfach nur gut.“
Ich schaue mich in der Klasse um und habe den Eindruck, alle denken dasselbe: Ein unsichtbares magisches Gefühl von Glück hat sich auf uns gelegt. Wir haben alle zusammengehalten und geteilt. Und so was Schönes ist dabei herausgekommen. Adrian sitzt vorne in der ersten Reihe, hat seine Hände auf dem Bauch gefaltet und grinst, als hätte ihm jemand eine Goldmedaille umgehängt. Kein schlechter Einstieg für einen ersten Schultag, würde ich sagen.