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Einleitung

Die Römer konnten, vor allem in Inschriften, so gut wie jedes Wort abkürzen. Dem antiken Leser fiel es jedoch nicht schwer, aus dem jeweiligen Kontext heraus mit den Abkürzungen (notae) zurecht zu kommen, so wie wir heute etwa im Kontext einer Mietannonce unter 2ZKB mühelos „zwei Zimmer, Küche, Bad“ verstehen. Viele Abkürzungen aber, z.B. COS (consul = Konsul), EQ (eques = Reiter/Ritter) oder D D (decurionum decreto = auf Beschluss der Dekurionen, d.h. des Stadtrates in Städten außerhalb Roms) waren dem antiken Leser so vertraut wie uns UNO, GmbH, NRW, TÜV, DFB oder ZDF Außerdem wurde ein Wort nicht immer bis auf den Anfangsbuchstaben abgekürzt (C), sondern kam in ähnlichem Kontext auch teilweise (CS oder CAES) oder gar ganz ausgeschrieben (CAESAR) vor, was uns natürlich die Auflösung von Abkürzungen erleichtert.

Seit vielen Jahrhunderten haben sich Altertumswissenschaftler um die Auflösung der lateinischen notae bemüht, ja schon im Altertum selbst hat sich z.B. M. Valerius Probus (1. Jh. n. Chr.) mit den notae aus dem juristischen Bereich befasst1, der ja auch heutzutage ein Tummelplatz für Abkürzungen ist, wie schon ein erster Blick in Gesetzestexte oder den „Palandt“ beweist2.

Die Schriftlichkeit hochkomplexer politischer, wirtschaftlicher oder wissenschaftlicher Systeme scheint Abkürzungen geradezu nötig zu haben, etwa aus Gründen der erforderlichen Schnelligkeit beim (Mit-) Schreiben, aus Platzgründen oder aufgrund der „Insider“-Gewohnheiten diverser Berufsfelder. Schon Ciceros Sekretär Tiro (geb. um 100 v. Chr.) konnte der Rede- und Diktierfreudigkeit seines Herrn und Meisters nur mit Hilfe einer Kurzschrift, der „Tironischen Noten“ (notae Tironianae), standhalten, die aus besonderen Zeichen, eben den notae, für Silben oder ganze Wörter bestanden und bis ins frühe Mittelalter überlebten.

Ende des 19. Jahrhunderts wurde auf Betreiben Theodor Mommsens das Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL)3 auf die Wege gebracht, das seitdem in vielen Bänden und Supplementen versucht, alle jemals im Bereich des Imperium Romanum vorgefundenen antiken lateinischen Inschriften regional zu erfassen – ein endloses Projekt, da man immer wieder Neues findet.

Im Gegensatz zu den Griechen, deren Inschriften in Stein – erstaunlicherweise – nur selten Abkürzungen aufweisen4, haben die Römer gerade auf Grabsteinen, Altären, Weihestelen, Bauwerken oder Meilensteinen selten alles ausgeschrieben. Das mag mit römischer Nüchternheit zusammenhängen, aber auch mit dem zur Verfügung stehenden Platz und den Kosten: Ein einfacher Soldatengrabstein (Name, Herkunft, Dienstrang, Legionsbezeichnung, Lebens- und Dienstalter, evtl. Stifternennung) konnte im 1. Jh. n. Chr. leicht den Jahressold eines Legionärs kosten. Aber nicht nur auf Stein, sondern auch auf bronzenen Militärdiplomen, die nach der Entlassung aus dem Dienst verliehen wurden, auf Amphoren (Inhaltsangabe), Dachziegeln (Herstellerstempel), Gerätschaften des täglichen Gebrauchs wie Geschirr oder Öllampen, auf bleiernen Wasserröhren, auf Münzen, in Gesetzestexten oder in Briefen finden wir vielerlei Abkürzungen. Die römische Gesellschaft war ein hochkomplexes, auf Schriftlichkeit angewiesenes System mit lang dauernden Strukturen: Die Abkürzung COS bezeichnete zu Beginn tatsächlich den gewählten Konsul, in der Kaiserzeit war COS ein Ehrentitel, aber die Abkürzung blieb.

Hinzu kommt ein Grundzug des römischen Wesens: das Streben nach Ruhm, das sich mit Blick auf die Vergangenheit im Ahnenkult, mit Blick in die Zukunft z.B. in der „steinernen“ inschriftlichen Dokumentation des eigenen Lebens, der eigenen Leistung wiederfindet5, wobei formelhafte Abkürzungseinheiten über Generationen hinweg und über alle Teile des gewaltigen Imperiums verbreitet ihren Dienst tun konnten.

Listen mit römischen Abkürzungen und ihrer Auflösung gibt es in kleinerem oder größerem Umfang schon lange (s. Quellenverzeichnis). Das vorliegende Lexikon will vor allem durch die Übersetzung auch dem des Lateinischen Unkundigen einen Zugang zu den häufigsten notae bieten, wobei hier und da – beispielhaft – auch ausgefallenere notae aufgenommen wurden (z. B. G oder GAR auf Amphoren für garum = Fischsoße), um zumindest andeutungsweise die große Vielfalt der Inschriften zu dokumentieren.

Dieses Lexikon kann für Studierende der Klassischen Philologie, der Archäologie oder der Alten Geschichte ebenso von Nutzen sein wie für den Lateinunterricht an Schulen: Die Epigraphik als „historische Hilfswissenschaft“ kommt im Philologiestudium wie auch im Lateinunterricht in der Regel viel zu kurz. Dabei sind gerade die Inschriften für jeden, der sich mit dem römischen Altertum befasst, eine wichtige Quelle. Die gründliche Beschäftigung mit auch nur einer einzigen repräsentativen Inschrift, etwa dem bekannten Caelius-Stein im Rheinischen Landesmuseum Bonn6, vermittelt durch die nötige Erforschung des gesamten Umfeldes der Inschrift oft mehr Erkenntnisse zum römischen Militärwesen und zur römischen Gesellschaft und Kultur als manches Lehrbuch. Und das Durcharbeiten der von Walser (s. Quellenverzeichnis) vorgestellten Inschriftenbeispiele oder von Schumachers verdienstvollem Reclam-Band (s. Quellenverzeichnis) ersetzt gar so manches philologische oder althistorische Proseminar.

Auch sprachlich oder sprachgeschichtlich lernt man dabei eine ganze Menge. Einige Beispiele: Die Abkürzung für consul lautet in der Regel COS, seltener CON oder gar CONS und dokumentiert mithin für die damalige Aussprache ein nasales O (wie im französischen „bon“). Oder: Die Tribus-Angabe (vgl. AEM) ist ein waschechter ablativus originis (Kasus, der die Herkunft angibt); der Unterschied zwischen dem Personalpronomen hic (dieser) und dem Ortsadverb hīc (hier) wird in der Grabsteinformel H S E deutlich, der zwischen equites als Standesbezeichnung der römischen Ritter(EE QQ RR) und den equites als Reiter(truppe) etwa in der Abkürzung E A E.

Der weitaus größte Teil der aufgenommenen notae stammt von Grabsteinen, von Altären oder Weihestelen, die in Erfüllung eines Gelübdes für Gottheiten errichtet wurden. Dabei ist vor allem der Westen und Norden des Römischen Reiches berücksichtigt, in der Hoffnung, dass das Lexikon auch in den Lapidarien unserer Museen oder auf Reisen hilfreich sein kann.

Zur Benutzung dieses Lexikons

• In der dritten Spalte mit der Übersetzung der Inschrift sind Erklärungen und Ergänzungen kursiv gedruckt.

• Die Schreibweise FR(VM) z.B. bedeutet, dass die Abkürzung für frumentarius sowohl FR als auch FRVM lauten kann.

• Bei der Auflösung der notae werden i. d. R. die Nominalformen geboten (z.B. A = amicus = der Freund); im Kontext stehen natürlich die deklinierten Formen: A A P – amicus amico posuit – der Freund setzte seinem Freund (den Grabstein); die tribūs stehen immer im ablativus originis, dem Ablativ der Herkunft, da sie z.B. auf Grabsteinen angeben, aus welchem Stimmbezirk der Verstorbene stammte (s.o. und AEM)

• Auf vielen Weihestelen steht die Formel V S L L M = votum solvit libens laetus merito = er löste (mit der Errichtung des Steins) sein Gelübde gern, freudig und merito ein. Merito ist ein Adverb und wird meist übersetzt mit „nach Gebühr“ oder „verdientermaßen“. Was aber heißt das? Der Kontext führt zu der griffigeren Übersetzung „dankbar“. Wenn jemand sich um einen verdient gemacht hat, ist man ihm – so gehört es sich – dankbar. V S L L M wird daher folgendermaßen übersetzt: „NN löste sein Gelübde gern, freudig und dankbar ein.“

NN bedeutet, dass ein Name einzusetzen ist, NN NN erfordert entsprechend das Einsetzen zweier oder mehrerer Namen.

• Balken über Vokalen (z.B. ū) bedeuten, dass der Vokal lang zu sprechen ist; meist handelt es sich dabei um Ablativendungen.

• Die römischen Inschriften trennen i. d. R. jedes Wort vom folgenden und jede Abkürzung von der folgenden durch eine kleine, meist dreieckige Punzierung, bisweilen auch durch ein kleines Efeublatt (hedera) auf halber Buchstabenhöhe: T • F (= Titi filius = Sohn des Titus). Diese Worttrenner werden im Lexikon nicht berücksichtigt (also nur T F). Bei Pluralbildungen stehen die notae ohne Worttrenner enger beieinander: E = eques = der Reiter/Ritter, aber EE = equites = die Reiter/Ritter. Auch wenn eine Abkürzung nicht nur einen Buchstaben, sondern kleinere oder größere Teile eines Wortes enthält, stehen die Buchstaben eng beieinander (z.B. CS für Caesar oder IMP für imperator).

• Abkürzungen für Legionsbezeichnungen, Städtenamen, Götternamen, Monatsnamen oder Provinzen wurden nur beispielhaft aufgenommen. Auch auf Ligaturen (graphische Verbindungen zweier oder mehrerer Buchstaben, z.B. N als Verbindung von A und V = AVE), leicht erkennbare Begriffe oder Namen und christliche Inschriften wurde verzichtet. Ohnehin kann ein Lexikon wie dieses nur einen kleinen Bruchteil der uns bekannten Abkürzungen erfassen. Wie bei jeder Auswahl wird es auch hier so sein, dass man manches vermissen, anderes für überflüssig halten wird.

Hartmut Froesch, Linz am Rhein, im Frühjahr 2014

1 Vgl. Iurisprudentia Anteiustiniana, ed. Ph. E. Huschke, 5. Aufl., Leipzig 1886, S. 135–142

2 Kommentar zum BGB: O. Palandt (Hg.): Bürgerliches Gesetzbuch, 72. Aufl., München 2013; vgl. Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, begr. von H. Kirchner, 7. Aufl. Berlin 2013

3 Systematisches Verzeichnis des CIL u.a. bei M. G. Schmidt, Einführung, S. 133–137; hier ist auch die Année Épigraphique (AE) zu nennen, eine seit 1888 jährlich in Paris erscheinende Dokumentation bzw. ein Forschungsorgan zur lateinischen Epigraphik; zu Datenbanken im Internet s. Literaturverzeichnis.

4 Auch längere inschriftliche Texte kommen meist fast ohne Abkürzungen aus; so sind z.B. im griechischen Teil des Monumentum Ancyranum, der „Königin der Inschriften“ (Mommsen), die römischen Vornamen – speziell für den griechischen Leser – ausgeschrieben, im lateinischen Teil aber wie üblich abgekürzt. Die berühmte griechische Diogenes-Inschrift aus Oionoanda/Kleinasien hat über 25.000 Wörter und so gut wie keine Abkürzung.

5 Vgl. Knoche, U., Der römische Ruhmesgedanke (1934), abgedruckt in: Oppermann, H. (Hg.): Römische Wertbegriffe, Darmstadt 1962, S. 420–445

6 Vgl. Schalles, J./Willer, S. (Hg.): Marcus Caelius. Tod in der Varusschlacht, Darmstadt 2009

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