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3. Besuch

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Leise, ja, verdächtig still, öffnete Sydney die Tür zu ihrem früheren Kinderzimmer. Hinter sich konnte sie die vertraute Wärme Damians spüren und als sie einen Blick auf das Schlafzimmer warf, stellte sie erleichtert fest, dass ihr Vater kaum etwas verändert hatte. Fast schien es, als sei sie nie fort gewesen.

Das Bett mit dem blumigen Bettbezug war gemacht, ihr alter Teddy saß neutral blickend in einer Ecke neben ihrem Kissen, und die Papiere auf ihrem Schreibtisch waren zu einem ordentlichen Stapel zusammengelegt.

Sie trat zur Seite und beobachtete, wie Damian sich interessiert umsah, als er das Zimmer betrat. Der Raum erschien ihr ungewohnt klein mit ihm darin. Sein Blick fiel auf eines der Fotos, die über ihrem Bett hingen. „Ist das deine Mutter?“, fragte er und trat näher heran.

Das Bild zeigte Sydney im Alter von vier Jahren an der Hand ihrer Mutter. Die Haare, lockig und dunkelbraun umrahmten das runde Gesicht, das mit der Sonne um die Wette zu strahlen schien. Ihre Mutter lachte und zeigte mit dem Finger auf die Kamera – auf ihren Vater, wie Sydney wusste. Er hatte ihr irgendwann einmal erzählt, wie es zu diesem Foto gekommen war.

„Wir waren im Park. Mein Vater schnitt mir immer Grimassen hinter der Kamera, damit ich lachte, wenn er den Auslöser drückte.“ Sie lächelte bei der Erinnerung. Damian berührte das Glas, hinter dem das Bild steckte.

„Verblüffend!“, rief er aus und Sydney erkannte, dass ihre gemeinsame Zeit in ihrer Welt eine größere Herausforderung darstellen konnte, als zunächst gedacht. Damian verstand von all den Dingen nichts. Ein derartiger Stand der Technologie war für ihn gänzlich unbekannt. Begegneten sie irgendwelchen Personen, so würde es unter Umständen schwierig werden, den Eindruck zu vermitteln, dass Damian einer von ihnen wäre.

Seine gestelzte, allzu höfliche Ausdrucksweise, sein Unverständnis ihrer Sitten, Bräuche und Technologie sowie sein ausgeprägter Beschützerinstinkt ihr gegenüber und sein Sinn für Gerechtigkeit konnten in einer Welt, in der Egoismus und Oberflächlichkeit, Wissen und Leistung an der Tagesordnung waren, durchaus problematisch werden.

Sydney betrachtete ihn. Er sah gut aus in seiner altertümlichen Hose, dem weißen Hemd und den Stiefeln, in denen seine Füße steckten – und noch immer trug er seinen Umhang.

„Wir müssen dir andere Kleidung beschaffen“, sagte sie und beobachtete, wie er irritiert an sich hinabsah. „Du fällst auf wie ein bunter Hund!“

Sie wandte sich ihrem Kleiderschrank zu, der neben der Tür stand. Während sie nach etwas Passendem für sich suchte, fuhr sie fort: „Gott sei Dank habe ich hier meine alten Klamotten, aber ich bezweifle, dass dir etwas von meinem Vater passen wird…“

Ihr Kopf verschwand bis zu den Schultern im Schrank und als sie ihn wieder herauszog, hielt sie triumphierend ein winzig erscheinendes Stück schwarzen Stoffes empor.

Damian trat näher. „Was ist das?“, fragte er und streckte die Hand danach aus. Sydney lachte. „Hey, das ist meine Wäsche, Mister!“

Sie zwinkerte ihm vergnügt zu und eilte mit mehreren Stoffen ins angrenzende Badezimmer. Ehe Damian sie erreichen konnte, schloss sie die Tür hinter sich und drehte von innen den Schlüssel im Schloss herum. Nur ihr fröhliches Glucksen drang gedämpft zu ihm durch. „Ich bin gleich wieder da!“, flötete sie und drehte den Wasserhahn der Dusche auf. Gott, wie hatte sie das vermisst!

Als der Schlüssel nach einer Stunde erneut gedreht wurde und Sydney die Tür öffnete, war sie allein im Zimmer. Der Stoff ihrer schwarzen Jeans schmiegte sich eng an und verursachte eine ungewohnte Reibung an ihren Beinen. Nach einem Monat in Kleidern war es eine unglaubliche Wohltat in die Stoffe ihrer Welt zu schlüpfen.

Sie hatte sich für ihre liebste Jeans, sowie einem eng anliegenden dunkelgrünen, fast schwarzen, Strickpullover entschieden.

Sowohl sie als auch ihre Wäsche dufteten lieblich und eine diebische Vorfreude erfüllte sie, wenn sie daran dachte, wie Damian auf ihre Unterwäsche reagieren würde. Grinsend verließ sie ihr Zimmer, um ihn zu suchen.

Sie fand ihn draußen bei Schara’k. Er lächelte ihr zu und maß sie von Kopf bis Fuß. Seine Augen glitten über sie und die Wärme, die sich auf Sydneys Haut ausbreitete, stammte nicht von der Herbstsonne. Langsam trat sie zu ihrem Mann.

„Du bist schön“, sagte er. Nicht, sie sehe schön aus oder sie sehe hübsch aus. Nein, er sagte, sie sei schön. Dieses Kompliment berührte sie aus irgendwelchen Gründen ganz besonders.

„Wie geht es Schara’k?“, fragte sie und strich dem Pferd über den kräftigen Hals.

„Dein Vater ist zurückgekehrt. Er hat mir einen Eimer Wasser für ihn gegeben.“

„Er ist zurück?“

Sydney war überrascht. Sie dachte, er würde länger fort sein.

Damian nickte und meinte: „Er erwartet dich in der Küche, sagte er. Offenbar möchte er etwas Wichtiges mit dir besprechen.“

Einen Blick auf das Küchenfenster werfend, nickte Sydney. Was mochte das sein?

„Soll ich dich begleiten?“

„Nein, nicht nötig.“ Sie blickte zu Schara’k. „Sorge dich besser um Schara’k. Schließlich ist alles für ihn genauso fremd, wie für dich.“ Kurz zögerte sie. Dann setzte sie hinzu: „Allerdings könntest du auch hinaufgehen und ein Bad nehmen.“

Entsetzt begann Damian zu schnüffeln. „Ist es so schlimm, ja?“

Sie zwinkerte ihm lächelnd zu. „Ich besorge dir in der Zwischenzeit etwas…Angemesseneres zum anziehen.“

Ein kurzer Kuss und Sydney eilte davon, getrieben einerseits von Neugier, andererseits von Sehnsucht, nachdem sie ihren Vater so lange nicht gesehen hatte. Die Hintertür führte direkt zur Küche und stand offen, nur das Fliegengitter knarrte leise in dem hölzernen Rahmen, als sie es beiseiteschob.

Ihr Vater saß auf einem der Stühle und trank eine Tasse Kaffee. Er machte einen erschöpften Eindruck, dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Sein Blick war in die Ferne gerichtet.

Sydney vermochte sich kaum auszumalen, wie sich ihr Vater fühlen musste, nachdem sie nun so plötzlich zurückgekehrt war. Sie setzte sich ihm gegenüber und sein Blick kehrte ins Jetzt zurück. Er lächelte. „Hi“, begrüßte er sie.

„Hi, Dad. Damian meinte, du wolltest mich sprechen?“

Ihr Vater nickte. „Ich fürchte, du musst dich persönlich mit der Polizei auseinandersetzen“, begann er das Gespräch.

„Warum?“

Das Lächeln ihres Vaters vertiefte sich. „Sie möchten sich gerne selbst ein Bild davon machen, dass es dir gut geht.“

„Ich bin doch kein kleines Mädchen mehr…“, murmelte sie.

„Ich weiß, aber du weißt doch, wie es hier ist. Es ist keine Großstadt, in der wir anonym leben. Die Menschen hier kennen dich, seit du ein kleines Mädchen warst.“ Er tätschelte ihr tröstend die Hand. „Sie sind bloß besorgt.“

Nickend zog Sydney ihre Hand zurück. „Ja, ich weiß. Unangenehm ist es trotzdem. Schließlich kann ich der Polizei wohl kaum dasselbe erzählen, das ich dir erzählt habe.“

Stille trat ein. Sydney war sich bewusst darüber, dass es einzig und allein Damians Anwesenheit und dem Kleidungsstil zu verdanken war, dass ihre Geschichte halbwegs glaubwürdig war. „Was hast du ihnen überhaupt gesagt?“, fragte sie.

Paul sah sie an, seine grauen Augen blickten müde über den Rand der Tasse hinweg. „Natürlich nicht das, was ihr mir weismachen wolltet“, erwiderte er und trank einen Schluck. „Ich sagte Jim du seist entführt worden und dir sei die Flucht geglückt. Mehr hast du mir auch noch nicht erzählt.“ Er stellte die Tasse ab. „Vermutlich ist das auch einer der Gründe, weshalb du persönlich vorbeikommen sollst. Sie wollen nach deinem Entführer fahnden.“

Sydney schwieg. Was sollte sie Jim erzählen? Er war der Polizeichef der hiesigen Polizeistation und kannte ihre Familie längst, als sie noch gar nicht auf der Welt war. Für sie war er stets der gute, alte Onkel Jim gewesen. Sie beschloss, sich später darum zu kümmern und stand auf.

„Damian benötigt passende Klamotten. Kannst du mir etwas Geld geben, damit ich ihm was Anständiges kaufen kann?“, fragte sie und beobachtete, wie ein wehmütiger Ausdruck auf Pauls Zügen erschien. „Es ist lange her seit du mich zuletzt um Bares gebeten hast.“

Ihre Wangen röteten sich. „Ich weiß, aber als ich Damian begegnet bin, hatte ich bereits den ganzen Monatslohn aus dem Calippo ausgegeben…“

Paul hob die Hände. „Schon gut, Sydney“, unterbrach er sie grinsend. „Ich verstehe schon, du bekommst das Geld von mir.“ Sein Blick schweifte zur Decke. „Dein…Mann kann schließlich nicht rumlaufen wie in einem Theaterstück.“

Dankbar fiel Sydney ihrem Vater um den Hals. „Danke, Dad“, flüsterte sie, als er ihr den Arm tätschelte. Sie atmete den vertrauten Duft seines Rasierwassers, spürte die tröstliche Geborgenheit der väterlichen Umarmung und kniff die Augen zusammen, hinter deren Lider plötzlich schwere Tränen brannten.

„Es ist spät“, murmelte er einen Moment später an ihrem Haar, „und der Tag war anstrengend. Wir sprechen morgen weiter, ja?“

Sydney lächelte. Ihr fiel ein, dass ihr Vater nie eine Nachteule gewesen war. Er ging stets zeitig ins Bett und stand mit den Vögeln wieder auf. Dies war eine Eigenschaft, die er seit seiner Zeit bei der Marine nie gänzlich abzulegen geschafft hatte.

Ihre Mutter war da ganz anders, ging es Sydney durch den Kopf. Ihr Vater gab ihr das Geld. Dann stieg er die Treppe zu seinem Zimmer hinauf und ließ Sydney allein zurück. Sie besorgte Damian zwei Paar Hosen und zwei moderne Hemden, sowie weiche Unterwäsche und Socken. Seine Stiefel konnte er wohl dennoch tragen, überlegte sie.

Damian war bei ihrer Rückkehr mit dem Bad fertig und kam ihr mit nichts als einem Handtuch um die Hüften entgegen, als sie das Zimmer betrat.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte er und blieb lächelnd vor ihr stehen. Offenbar hatte er auch seine Zähne gründlich geputzt, dachte Sydney und blinzelte nervös bei seinem Anblick.

„Mir geht es gut“, erwiderte sie und räusperte sich. „Wie ich sehe, gab es keine Probleme mit dem Bad?“ Sie deutete zu der geschlossenen Badezimmertür.

Damian nickte, noch immer lächelte er. „Deine Welt ist ein wahres Wunderwerk. Es ist erstaunlich mit welcher Schnelligkeit du heißes Wasser bekommst!“ Er trat zwei Schritte näher. Sydney konnte feine Wassertröpfchen an seiner Brust abperlen sehen. Sie spürte die Röte in ihre Wangen steigen und hielt ihm die Tüte mit der Wäsche entgegen. „Hier“, sagte sie. „Ich hoffe, es passt alles.“

Damian zögerte, und Sydney sah zu ihm auf. Plötzlich verzog er seinen sagenhaft sinnlichen Mund zu einem wölfischen Grinsen und ein verführerischer Schimmer trat in seine Augen. „Was ist los, Sydney?“, fragte er, und Sydney schluckte krampfhaft.

Seine Ausstrahlung war purer Sex und obwohl sie nun schon mehrmals miteinander geschlafen hatten – wobei, dachte sie, man das kaum als Schlafen benennen konnte – bereitete ihr seine bloße Anwesenheit wildes Herzrasen. Ihr Vater hatte recht, indem er sagte, Liebe machte blind. Augenblicklich trat sie einen Schritt zurück. „Zieh dir was an“, krächzte sie. „Ich warte unten auf dich. Dann kann ich dir die Stadt zeigen.“

Dichte Wolken zogen über den abendlichen Himmel und verschluckten das Mondlicht. Der fahle Schein der Straßenlaternen verstärkte den Effekt noch.

„Erstaunlich“, murmelte Damian an ihrer Seite. Sydney kicherte. „Das muss auf dich wie ein Wunder wirken, was?“, scherzte sie und Damian zog sie an sich. Sie schlenderten die Straße hinunter und gingen in Richtung der belebteren Innenstadt.

Es stimmte, die Stadt war nicht sonderlich groß und soweit Sydney sich erinnern konnte, lebte ihre Familie schon immer in dem Haus nahe dem Stadtrand. Da überraschte es nicht, dass man zumindest in der Nachbarschaft genauestens über ihren Verbleib Bescheid wusste.

Ein Auto fuhr an ihnen vorbei. Damian zuckte zusammen und Sydney griff lachend nach seiner Hand, die schon wieder zum Dolch an seiner Hüfte geschnellt war. Sie hatte versucht, ihn davon abzubringen, die Waffe mitzunehmen. Aber Damian weigerte sich schlichtweg das Haus ohne sie zu verlassen. Also arrangierte sich Sydney mit dem Gedanken, dass in seinem Hosenbund eine scharfe Klinge steckte.

„Das ist bloß ein Auto“, beruhigte sie ihn. „Du erinnerst dich?“

Argwöhnisch blickte Damian dem Fahrzeug nach, bis es um eine Ecke bog und außer Sicht war. „Warum kann es ohne Pferde angetrieben werden?“, fragte er sie skeptisch und Sydney biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu lachen.

„Wir brauchen keine.“

Im Halbdunkel der Straßenlaterne sah sie den überraschten Ausdruck auf Damians Zügen. „Aber wie treibt ihr das Gefährt dann an?“

Sydney bemühte sich, seine Fragen so gut wie möglich zu beantworten. Als er jedoch immer mehr Details wissen wollte und ihre Wissenslücken immer größer wurden, hob sie ergeben die Hände. „Damian, ich weiß nicht genug darüber, um all deine Fragen zu beantworten! Ich kann dir aber gerne Bücher besorgen, in denen du alles Wissenswertes findest.“

Sie traten um die Ecke, die das Auto eben noch befahren hatte, und Sydney beobachtete voller Vergnügen, wie Damians Augen tellergroß wurden beim Anblick des blinkenden und leuchtenden Schriftzugs der Kneipe. „Was ist das?“, rief er aus. Voller Freude erklärte Sydney ihm das Prinzip des Neongases und führte ihn weiter durch ihre Welt.

Sie erreichten den kleinen Park – eine Grünfläche mit einer Allee aus stämmigen Eichen und Buchen, durchsetzt mit einzelnen pflegeleichten Hecken und Büschen. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, die Luft hatte sich mit voranschreitender Stunde merklich abgekühlt und Sydney trat näher an Damian heran – insbesondere, als sie die Gestalt weiter vorne entdeckte, die zwischen den Bäumen hervortrat.

Sie trug einen langen, dunklen Umhang und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Bei ihrem Anblick überlief Sydney ein eiskalter Schauer und ein flaues Gefühl machte sich in ihrem Magen breit. Die Gestalt trat lautlos auf den Weg und hielt inne, wartete.

Damian verlangsamte seinen Schritt unmerklich. Es war still um sie herum und ohne Hinzusehen wusste Sydney, dass er die Person vor ihnen mit ebensolchem Misstrauen begegnete wie sie selbst.

Sie waren nun auf gleicher Höhe mit ihr und Sydney wagte beinahe aufzuatmen. Das Prickeln auf ihrer Haut sagte ihr deutlich, dass sie ebenfalls gemustert wurden und doch blieb jeder Versuch, das Gesicht der Person zu erkennen, fruchtlos. Die Kapuze hüllte das Gesicht in tiefe Schatten, unmöglich, etwas zu erkennen.

Erleichtert wandte Sydney den Blick ab. Sie passierten die Gestalt, ohne dass diese sich bewegte.

„Sydney“

Es war kaum mehr, als ein Hauch im Nebel, ein leises Flüstern, und ein Arm schoss hervor, um nach Sydney zu greifen. Die Frau – nun war es offensichtlich, dass die Person weiblich war – griff nach ihrem Handgelenk und umklammerte es. Sydney zuckte zusammen. Ein vages Gefühl der Vertrautheit stieg in ihr auf. Sie runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen.

„Lasst sie los!“, knurrte Damian neben ihr. Sein Dolch lag bereits in seiner Hand, bereit anzugreifen, um sie zu verteidigen. Die Klinge glänzte matt in der Dunkelheit.

„Ich muss mit dir reden“, zischte die Frau ihr zu, löste jedoch langsam den Griff und trat einen Schritt zurück. Sydney legte die Hand auf Damians angespannten Arm. „Lass sie“, flüsterte sie.

Jetzt wusste sie, wer da vor ihnen stand.

Zweifelnd warf Damian ihr einen Blick zu. „Diese Frau“, setzte er an, seine Stimme triefte vor mühsam gezügeltem Zorn und Verachtung, „kann froh sein, dass ich ihr nicht den dürren Hals durchschneide!“

„Ich kenne sie, Damian, uns droht keine Gefahr“, sagte Sydney.

Sein Blick richtete sich auf sie, Verblüffung lag darin. „Woher?“

Die fremde Frau räusperte sich. Mit einer geschmeidig fließenden Bewegung streifte sie die Kapuze von ihrem Kopf. Starr verfolgte Sydney, wie ihre Mutter unter dem dicken Stoff zum Vorschein kam. Augen, ebenso grün wie ihre eigenen, hefteten sich auf Sydney.

„Du hast dich verändert.“

Es war eine Feststellung, kühl wie der Herbstwind, doch ihr Tonfall war warm, beinahe liebevoll und Sydney schluckte. Unruhe befiel sie. Sie hatten sich so lange nicht gesehen. „Du hast die Haare kürzer“, sagte sie und bemühte sich, Ruhe in ihre Gefühle zu bringen. Sie war verwirrt angesichts dieser unerwarteten Begegnung und viel zu viele Fragen drangen an die Oberfläche und wollten alle auf einmal gestellt werden.

Kassandra berührte die kinnlangen Spitzen. „Ja, ich war es leid, so eine dicke Matte mit mir herumzutragen“, entgegnete sie ihrer Tochter leise.

„Ich dachte, du hast das Land verlassen.“

Kassandra schlug die Augen nieder. War sie verlegen? Dieser Gedanke schien Sydney derart deplatziert, dass sie ungeduldig die Arme vor der Brust verschränkte. Ihre Mutter zog es vor, die Aussage zu ignorieren, hob den Blick und fragte: „Ist es geschehen?“

Kaum merklich erstarrte Sydney. „Was meinst du?“

Kassandra wandte den Blick zu Damian. „Die Prophezeiung. Ist er es?“

Sydney schluckte. Wie viel wusste ihre Mutter wirklich? Sie erinnerte sich an Lan’tashs Erzählung, dass es eine Zeit gab, in der er ihre Mutter aufrichtig geliebt hatte – es vermutlich immer noch tat. Aber ihre Mutter war lieber schwanger durch das Portal und zurück in ihre eigene Welt gegangen. Sie hatte Lan’tash und der Prophezeiung den Rücken gekehrt, um kurze Zeit später mit Paul ein neues Leben zu beginnen. Sydney erschien diese Verhaltensweise überaus feige. Feige und unehrlich. Die Wut und der Zorn darüber, dass ihre Mutter Jahre danach auch noch sie und ihren Vater im Stich gelassen hatte, erreichte in ihrem Innern ein neues Ausmaß.

Noch während Sydney mit sich und ihrer Enttäuschung rang, wahrte Damian dennoch den Schein der Höflichkeit und neigte den Kopf. „Mein Name ist Damian Ramsey, Madame.“ Er hob den Blick und fixierte Kassandra. „Ich bin Lan’tashs Nachfolger.“

Sydney beobachtete ihre Mutter und fast hatte sie den Eindruck, als gerate sie ins Wanken beim Klang des Namens. Aber vermutlich irrte sie sich, ging es Sydney durch den Kopf. Ihre Mutter war, solange sie sich erinnern konnte, nie sonderlich liebevoll gewesen. Wieso sollte sich ausgerechnet jetzt etwas geändert haben?

„Was zur Hölle tust du hier?“, fragte Sydney. Kühl durchschnitt ihre Stimme den Raum zwischen ihnen. Nein, sie hatte es noch immer nicht verwunden, dass Kassandra die Familie nach Timothys tragischem Unfalltod verlassen hatte. Es reizte sie, dass ihre Mutter nun so überraschend vor ihr stand – noch dazu mitten auf der Straße.

„Ich muss mit dir reden“, antwortete Kassandra ruhig und Sydney rollte genervt mit den Augen. „Jetzt? Auf einmal?“, spottete sie und ignorierte geflissentlich Damian, der nach ihrem Arm greifen wollte. „Warum?“, fragte sie schließlich. „Worum geht es?“

„Dein Schicksal“, entgegnete Kassandra und Sydney lachte laut auf. „Schicksal?“, rief sie. „Meinst du nicht, du trägst jetzt ein bisschen dick auf?“

Unsicherheit und Zweifel schwangen in Kassandras Stimme mit, als sie es zu erklären versuchte. „Ich weiß, ich bin dir keine gute Mutter gewesen.“ Ein Schnaufen, halb verächtlich, halb gekränkt, entrang sich Sydney und ihre Mutter warf ihr einen kurzen Blick zu, ehe sie fortfuhr: „Dein Schicksal ist sehr wichtig für die Bakram und Na’kaan.“

„Wie wäre es, wenn du mir etwas Neues erzählst“, fuhr Sydney ihr dazwischen. „Zum Beispiel warum du ausgerechnet jetzt hier bist? Woher wusstest du, dass du mir hier begegnen würdest?“

Kassandra hob die Hand und bat um Geduld. „Du bist anders, du bist nicht wie die anderen, Sydney.“

„Es kann eben nicht jeder durch so ein Scheißportal gehen!“

Seufzend strich Kassandra sich über das gewellte Haar – eine Geste, die Sydney gut von sich selbst kannte. „Das ist es nicht.“ Der Blick ihrer Mutter wurde flehend. „Mir wäre es lieber, wir könnten das an einem weniger… öffentlichen Ort besprechen.“

„Wo denn bitte?“, raunzte Sydney unwillig. „Willst du etwa jetzt, nach all den Jahren, Papa unter die Augen treten?“

„Genau das habe ich vor.“

„Bist du vollkommen verrückt geworden?“ Was dachte ihre Mutter sich bloß? Sydney verstand nicht, wie jemand derart unverfroren aufkreuzen und tun konnte, als sei alles gar nicht so schlimm. „Du hast uns verlassen!“

Kassandra sah ihre Tochter ernst an. „Ich bin deinem Vater ebenso eine Erklärung schuldig, Sydney.“

Damian räusperte sich. „Vielleicht hat sie recht, mein Herz.“

„Schlägst du dich etwa auf ihre Seite?“, erboste Sydney sich und blitzte ihn wütend an. Waren jetzt alle verrückt geworden?

Damian ließ sich nicht beirren. Stattdessen sagte er: „Vielleicht wäre es ganz gut, wenn sich deine Eltern aussprechen könnten. Ich kenne die Hintergründe nicht, aber wenn deine Mutter etwas Wichtiges mitzuteilen hat, dann sollte sie das in einem geschützteren Rahmen tun.“

Sydney trat zurück, vergrößerte den Abstand nicht nur zu ihrer Mutter, sondern auch zu Damian. „Ihr müsst beide wahnsinnig geworden sein! Papa ist endlich darüber hinweg, dass du weg bist. Und jetzt willst du einfach so“, sie schnippte mit den Fingern, „wieder in sein Leben treten? Das kannst du nicht machen!“ Sie wandte sich Damian zu. „Wie kannst du das unterstützen? Du bist mein Mann, das hast du oft genug betont, du solltest zu mir stehen! Du hast recht, du kennst die Hintergründe nicht, Damian.“ Ihre Stimme drohte mit einem Mal zu brechen. „Du weißt ja nicht, was diese Frau – meine Mutter! – getan hat!“

Die Wut trieb ihr Tränen in die Augen. Alles schien auf einmal zu viel, zu überwältigend und zu schwer zu beherrschen, als dass sie die Situation noch länger hätte verkraften können.

Sie wollte weg, fort und keinen von ihnen noch länger sehen. Sie hatte ihre Mutter nun so lange nicht zu Gesicht bekommen. Wie konnte diese erwarten, dass sie ihr einfach zuhören würde? Geschweige denn, dass sie zuließe, dass ihre Mutter das mühsam aufrecht erhaltene und neu aufgebaute Leben ihres Vaters in totales Chaos stürzte?

Sie gab einen erstickten Laut von sich und noch ehe Damian sie zurückhalten konnte, lief sie los.

„Sydney!“, hörte sie beide hinter sich rufen.

Ihr war es gleich. Sollten die beiden gemeinsame Sache machen und sich verbünden. Sie ertrug das nicht, nicht jetzt.

Als Damian sie einige Zeit später fand und einholte, saß sie niedergeschlagen auf der Bank einer Bushaltestelle und kratzte gedankenverloren den sowieso schon abblätternden Lack – ein überaus hässliches Grün – neben sich ab. Sie hörte ihn näherkommen und hob den Kopf.

Er war allein.

Damian setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. Das Gewicht seines Arms störte sie dabei kaum, es tröstete sie und gab ihr eine Spur von Sicherheit in ihrem Leben.

„Möchtest du mir mehr erzählen?“, fragte er nach einem Moment, doch Sydney schüttelte den Kopf. „Es ist zu…nein. Nein, ich möchte nicht. Vielleicht ein anderes Mal.“

Das Scheinwerferlicht eines vorüberfahrenden Autos blendete sie kurz. „Hat sie noch etwas gesagt?“, fragte Sydney leise.

„Sie meint, es sei sehr wichtig, was sie zu sagen hat, dass viel davon abhängt, was du weißt.“

„Hast du ihr geglaubt?“

Damian sah sie an. Er griff nach ihrer Hand und umschlang ihre Finger fest mit seinen. „Ja, das tue ich.“ Sydney wollte ihm ihre Hand wieder entziehen, doch er hielt sie fest. „Welchen Grund hätte sie sonst, dich ausgerechnet heute zu treffen?“

Dieselbe Frage hatte sie sich ebenfalls schon gestellt, war jedoch zu keiner befriedigenden Antwort gekommen.

„Was soll ich deiner Meinung nach tun?“, fragte sie und stellte zugleich fest, dass ihr tatsächlich sehr viel an Damians Ansicht lag.

Er löste den Griff seiner Hand und gab sie frei, doch diesmal entzog sie sich ihm nicht. Geduldig wartete sie auf seine Antwort. „Ich denke, du solltest ihr zuhören. Gib ihr die Möglichkeit zu sagen, was sie zu sagen hat.“

Am nächsten Morgen wartete Sydney bis sie das Frühstück beendet hatten. Während sie gemeinsam den Tisch abräumten, warf sie ihrem Vater einen kurzen Blick zu. Er war guter Laune und vollkommen glücklich, schien es. Es tat ihr in der Seele weh, ihm Schmerz bereiten zu müssen.

„Damian und ich waren gestern noch spazieren.“

„Hmhm.“ Ein knapper Blick, der Interesse widerspiegeln mochte, traf sie. Ihr Vater war noch nie ein Mann vieler Worte gewesen.

„Wir haben jemanden getroffen.“

„So?“ Sydney zögerte. Sie stellte eine Tasse in die Spüle und wandte sich zu ihrem Vater um. „Wer war es?“, fragte Paul und vertiefte sich in die Tageszeitung. „Jemand, den ich kenne?“ Obwohl er es nicht sehen konnte, nickte Sydney.

„Allerdings“, antwortete sie. „Du kennst sie ziemlich gut, würde ich sagen.“

„Sie?“ Er wandte sich endgültig von der Zeitung ab.

Sydney beobachtete ernst, wie Paul die Stirn in Falten legte. Offenbar dämmerte ihm langsam, von wem die Rede sein konnte; es gab nicht viele Frauen im Leben ihres Vaters.

„Wer war es?“, fragte er dennoch leise und Sydney blutete das Herz beim Gedanken daran, was unweigerlich folgen würde.

„Mum.“

Die Stille um sie herum war unnatürlich laut. Am liebsten wäre sie dieser erdrückenden Atmosphäre entflohen, doch sie blieb, wo sie war. Paul starrte sie geistlos an. „Das ist nicht witzig“, krächzte er.

Als Sydney sacht den Kopf schüttelte, sackte er kraftlos auf seinem Stuhl zurück. Jede Farbe war aus seinem Gesicht gewichen.

Sydney warf Damian einen alarmierten Blick zu, doch dieser hatte all seine Aufmerksamkeit auf Paul gerichtet, dessen Hände zu zittern begonnen hatten.

„Was wollte sie?“ Heiser und rau klang seine Stimme und Sydney stellten sich sämtliche Nackenhaare auf, als sie die Auswirkung des Schocks sah. Sie nahm ihm gegenüber Platz und griff nach seiner Hand. „Sie meinte, sie wolle eine Aussprache und mir etwas mitteilen.“

Ein Paar graue Augen richteten sich wachsam auf sie. „Was soll das heißen, sie wolle sich aussprechen?“

Verlegen senke Sydney den Blick und zog die Hand zurück. „Ich weiß es nicht. Sie wollte nicht auf offener Straße darüber reden. Ich habe ihr gesagt, sie soll wegbleiben…“ Paul stieß einen ablehnenden Laut aus. „Aber als ich wegging, hatte Damian noch einige Worte mit ihr gewechselt. Ich weiß nicht, ob sie nicht doch noch hier aufkreuzt.“

Ein helles Klingeln schallte durchs Haus und sie fuhren erschreckt zusammen. Damian sprang auf und suchte den Verursacher des Geplärres. Stirnrunzelnd erhob auch Paul sich und griff nach dem Telefonhörer an der Wand. Das Klingeln erstarb und Damian entspannte sich wieder.

„Ja?“, meldete sich Paul.

Er lauschte einen Moment und wurde dabei, wenn möglich, noch eine Spur blasser. Sydney und Damian tauschten einen Blick.

„In Ordnung“, murmelte ihr Vater und hängte den Hörer ein. Sein verwirrter Blick traf Sydney. „Deine Mutter will heute Abend vorbeikommen.“ Zerstreut fuhr er sich durch das kurze Haar. „Was soll ich nun tun?“, fragte er in seiner Verwirrung hilflos und wäre die Situation nicht so angespannt, hätte Sydney womöglich darüber geschmunzelt. So jedoch empfand sie das Verhalten ihrer Mutter schlichtweg rücksichtslos Paul und überhaupt der gesamten Familie gegenüber.

Damian trat vor. Vater und Tochter richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Hünen. „Jetzt“, begann er, „solltet ihr gar nichts weiter tun, Paul.“

Langsam nickte ihr Vater. Er räusperte sich, wischte die Verwirrung mit einer Handbewegung aus dem Gesicht und kam langsam zur Ruhe.

„Du hast Recht“, sagte er, doch Sydney kannte ihren Vater. Sie erkannte die schwelende Unsicherheit und den Zweifel in seinen Zügen. Keine Spur war zu sehen vom ehemaligen Marinegeneral und Sydney ging durch den Kopf, dass der Besuch ihrer Mutter unmöglich Gutes mit sich bringen konnte.

Magie der Welten

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