Читать книгу Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil II) - Hedwig Courths-Mahler - Страница 4

Annedores Vormund

Оглавление

Inhaltsverzeichnis

Mitten im herrlichen Buchenwald lag ein großes Haus. Das ganze blitzsaubere Anwesen atmete Wohlhabenheit und schien die Wohnung glücklicher Menschen zu sein.

Drei Menschen wohnten in dem schönen Waldgut in glücklicher Einsiedelei. Georg Buchenau, und seine Frau Leanore, eine sanfte Blondine, hausten die ganze Liebe ihrer reichen Herzen auf ihr einziges Kind.

Annedore Buchenau war siebzehn Jahre alt. Ihr goldblondes Haar war mit breitem Seidenband aufgebunden. Wunderschöne, sanfte blaue Augen und ein feingezeichneter Mund gaben ihrem Gesicht süßen Reiz. Wie alle einsamen Menschen, so lachte auch sie selten — aber wenn sie lustig war, klang ihr Lachen wie Lerchenjubel, und ihr ganzes Gesicht war dann in Jugend und Frohsinn getaucht.

Diese drei seltenen Menschen hingen mit so inniger Liebe aneinander, daß sie gar keinen Verkehr suchten. Die Einsiedler von Buchenau hießen sie in der ganzen Nachbarschaft, und die umwohnenden Gutsbesitzer sagen oft ein wenig spöttisch auf das glückliche Familienleben in Buchenau.

Und dann kam ein Tag, der mit einem Schlag das Glück der drei Einsiedler zerstörte.

Leonore Buchenau war an einem heißen, schwülen Gewittertag mit ihrem Mann ausgeritten.

Annedore hatte auf der kleinen Freitreppe gestanden und nach einem zärtlichen Abschied den Eltern mit einem Gefühl eigenartiger Beklemmung zugesehen, wie sie ihre nervösen, unruhigen Pferde bestiegen.

Leonore Buchenau ritt mit ihrem Mann in ruhigem Schritt ein ganzes Stück des Weges. Mit tiefen, durstigen Atemzügen trank sie den mit tausend taumelnden Düften gefüllten Hauch des Waldes. Ihre strahlenden Augen richteten sich auf ihren Mann:

»Schön — Georg — wunderschön!«

»Ja — Leonore — es war eine gute Idee von dir — im Zimmer war es fast nicht mehr zum Aushalten, wenn das Gewitter nur endlich herunterwollte.«

»Georg — aber doch nicht gerade jetzt, während wir unterwegs sind!« rief sie lachend.

Lange ritten sie durch den stillen Wald.

Plötzlich schreckte sie ein heftiger Windstoß aus ihrer Träumerei. Er heulte, pfiff und zauste die jahrhundertealten Bäume, daß sie sich jammernd und ächzend der stärkeren Gemalt beugten.

Ehe Leonore sich von ihrem Schrecken erholt und die Gewalt über sich wiedererlangt hatte, folgte dem Windstoß ein Blitz und ein Schlag von so ungeheurer Kraft, daß Leonore aufschreiend die Züge ihres scheuenden Pferdes fallen ließ.

»Halt dich im Sattel — Leonore.« Außer sich vor Angst rief Georg es seiner Frau nach. Und die Sporen seinem Tier in die Weichen schlagend, versuchte er, das scheuende Pferd seiner Frau einzufangen.

Leanore ah ihr Ende vor sich. Das Pferd würde über eine starke Wurzel straucheln, sich überschlagen und sie unter sich begraben.

Georg sah noch eine andere Gefahr für sie. Wie in einem entsetzlichen, quälenden Traum bemühte er sich vergeblich, seiner Frau eine Warnung zuzurufen. Die furchtbare Aufregung, die leidenschaftliche Angst um Leonore raubten ihm die Kraft, Worte zu formen. Er konnte nur immer Schreie namenloser Angst ausstoßen.

So sehr er seinen Gaul antrieb —- er erreichte das fliehende Pferd doch nicht — und da kam au das Entsetzliche — der Baum —, der Leonores Verhängnis werden sollte. — Ziemlich tief wuchs ein starker Ast einer vielhundertjährigen Buche quer über den Weg!

Jeder Reiter mußte sich bücken, um ungefährdet unter der Blätterpracht durchzukommen.

Georg sah das Entsetzliche— und wieder rang sich ein verzweifelter Schrei aus der Brust.

Angstvoll starrte Leonore rückwärts — da war es auch schon geschehen! Ein heller Schrei — und leblos lag Leonore am Boden. Für Georg Buchenau war diese schreckensvolle Sekunde zu viel! Ein gnädiges Schicksal erlöste ihn von seinem Jammer. Ein Herzschlag machte seinem Leben ein Ende.

Viele Stunden später fanden Waldarbeiter das verunglückte Ehepaar. Auf rohen, tannengezimmerten Bahren schleppten sie die Verunglückten heim-.

Zitternd vor Aufregung wartete Annedore auf die Heimkehr der Eltern. Stunden vergingen — da hörte sie zögernden Hufschlag, und im strömenden Gewitterregen trabte herrenlos das Pferd ihrer Mutter vor das Haus.

Tieferblaßt starrte Annedore auf das Pferd.

»Ein Unglück!« schrie es in ihrem Herzen.

Die Knechte und die Dienerschaft hatten sich, von dem herrenlos heimkehrenden Pferd der Herrin alarmiert nach allen Seiten auf die Suche nach den Verunglückten gemacht, als ihnen der traurige Zug begegnete.

Und wenige Minuten später sah ihn auch Annedore mit versagendem Herzschlag dem Hause nahen.

An ihr vorbei trugen die schreckensblassen Leute die verunglückte Herrschaft. Und langsam — mechanisch folgte Annedore, mit jenem stumpfen Begreifen, das einer leidenschaftlichen Trauer vorauszugehen pflegt.

Georg Buchenau war tot. Leonore Buchenau lebte noch — wenn auch nur matte Lebenszeichen davon zeugten.

Die umsichtige Haushälterin hatte einen Boten zum Arzt gesandt. Dann hatte sie behutsam das Blut von dem bleichen Gesicht der Herrin gewaschen und eine Art Notverband angelegt. Jetzt flößte sie ihr einen belebenden Trank ein und blickte dabei innig besorgt auf Annedore, die stumm und starr am Fußende des Bettes saß.

»Annedore — Sie sollten sich ein bißchen zusammennehmen, wenn Sie Ihre liebe Mutter so sieht, wird sie sich erschrecken.«

Gedankenlos antwortete Annedore mit tonloser Stimme: »Ja —- Frau Nehren!«

Und saß wieder stumm und starrte, die kleinen Hände krampfhaft verschlungen, viele, viele, endlos schleichende Minuten, bis man unten durch den jetzt demütig stummen, erschöpften Wald den Doktorwagen heranrollen hörte.

Da sprang Annedore auf, lief wie gejagt hinunter und flog dem Arzt, dem einzigen Freund ihrer Eltern, jammernd um den Hals.

»Onkel Doktor — Onkel Doktor!« Dann kam eine Ohnmacht und erlöste das erschütterte, junge Menschenkind auf wenige Minuten von seiner großen Pein.

Frau Nehren kam auf Dr. Frensens Ruf schnell herunter und nahm dem Arzt das arme Mädchen ab.

»Frau Nehren — halten Sie das Kind in ihrem Zimmer fest. Ich will sehen, ob ich noch retten kann.«

Damit stieg Peter Frensen eilig hin zu den Verunglückten.

Peter Frensen war innig befreundet mit den Buchenaus. Eine Freundschaft, die ihre Feuerprobe in dem stillschweigenden Verzichte erhielt, den Peter auf Frau Leonore leistete.

Aug einer Reise nach dem Süden hatten sich Frensen und Buchenaus kennengelernt, und eine seltene Freundschaft war aus der flüchtigen Reisebekanntschaft erwachsen. Nie hatte Peter mit einem Wort oder Blick seine innige Liebe für Leonore verraten. Aber an einem mondhellen Juliabend, als man auf der Veranda saß, hatte ein einziger kleiner Augenblick Leonore Peters Leiden und sein Heldentum verraten, und mit einem gerührten Lächeln hatte sie sein großes Geheimnis in ihrem eigenen Herzen eingesargt.

Später bewarb sich Peter Frensen um die Kreisarztstelle in der Nähe Buchenaus, und als er sie erhalten, war er ein oft und gern gesehener Gast in Buchenau.

Mit Annedore, die ihm mit ihren siebzehn Jahren im Vergleich zu seinen fünfunddreißig wie ein Kind vorkam, verband ihn eine keine, eifersüchtige Freundschaft. Peter liebte und verwöhnte in Annedore ihre heimlich angebetete Mutter und beide stritten sich lustig um den ersten Platz bei den Eltern.

Bleischwer waren Peter Frensen die Füße, als er hinauf zu den Verunglückten stieg.

»Herrgott im Himmel — gib mir einmal — ein einziges Mal Wunderkraft — erlaube mir zu retten, was unrettbar scheint!« Dies Gebet stieg aus seinem Herzen zum Himmel empor.

Mit festen Schritten trat er an das Lager Leonores, und dem geübten Auge des Arztes enthüllte sich die Hoffnungslosigkeit des Falles sofort. Blaß bis in die Lippen wendete er sich um, um erst nach seinem Freund Georg zu sehen.

»Tot!«

Er konnte nichts anderes tun, als die treuen, gebrochenen Augen mit zitternden Händen zu schließen — der Jammer wollte ihn schütteln — aber fest biß er die Zähne zusammen und murmelte: »Später —- Georg, später — jetzt darf ich noch nicht — Leonore ist vielleicht nach zu retten!«

Nach langem Bemühen gelang es ihm endlich, das fliehende Leben in Leonore festzuhalten. Illusionen gab er sich nicht hin. Leonore war eine Todgeweihte, und alles, was er dem grimmigen Gegner abringen konnte, waren ein paar Minuten — in denen nach einmal Leonores Augen strahlten, noch einmal ihre Stimme erklingen würde.

Langsam hob sie die schweren Lider.

»Peter — Sie?«

Peter gab ruhig die Antwort: »Ja — Frau Leonore — Sie wollen mir ja Arbeit geben?«

Leonore griff nach dem Verband um ihren Kopf und stammelte leise:

»Ich habe unerträgliche Kopfschmerzen —- können Sie mir nichts dagegen geben?«

»Ich gab Ihnen schon Brom, Leonore.«

»Sagen Sie, Peter — wo ist Georg?«

Einen Augenblick zögerte Peter nur mit der Antwort, schon weiteten sich Leonores Augen in schreckvollem Erinnern, und leise flüsternd klang es angstvoll:

»Jetzt — jetzt weiß ich — der Unfall — Peter, wo ist Georg -— er lag so stumm neben mir — und ich konnte ihm nicht helfen — wo ist er, Peter —«

»Liebste Frau Leonore, er liegt oben in seinem Zimmer, auch mit einem Verband um den Kopf.«

»Ich möchte zu ihm! Ob er wohl auch so unerträgliche Kopfschmerzen hat?«

»Nein, Frau Leonore, er ist vollkommen schmerzlos. —

Ganz starr und mit unheimlicher Gewißheit, wie schon aus einer anderen Welt, antwortete Leonore: »Dann — ist er ja tot —«

Peter starrte die blasse Frau mit den unnatürlich hellen Augen angstvoll an:.

»Kommen Sie doch zu sich, Leonore!«

»Ich bin ganz klar — nur so sonderbar, ich kann gar nichts mehr empfinden. Peter, sehen Sie mich an — ich muß auch sterben?«

Und als Peter verneinend antworten wollte, hob sie matt die blasse Hand: »Nicht lügen, Peter — ich sterbe doch!«

Da glitt der starke, große Peter Frensen wie ein Kind in die Knie.

»Peter — nicht weinen! Ich möchte noch etwas mit Ihnen besprechen —! Hören Sie mich an. Bei Ihrer Liebe zu mir, verlassen Sie meine arme, kleine Annedore nicht!«

Peter blickte erschauernd in das unnatürlich starre Gesicht, dessen Ausdruck in gar keinem Verhältnis zu den schwerwiegenden Worten stand.

»Sie wußten — Leonore?«

»Ja — armer Peter —- bleiben Sie bei Annedore — versprechen Sie mir das!«

»Ich schwöre es bei meiner Liebe zu Ihnen — bei meiner Freundschaft zu Georg — Annedore ist mir Ihrer beider heiliges Vermächtnis, nie, nie trenne ich mich von dem Kind!«

Ein kaum verständliches:

»Dank — Peter!«

Dann streckte sich Leonore, und der letzte Seufzer entfloh dem halb geöffneten Munde.

Wie erstarrt blieb Peter sitzen —- er fand nicht einmal die Kraft, die gebrochenen Augen zu schießen, bis ihn dann der elementare Jammer überfiel. Mit leidenschaftlicher Gebärde warf er sich über die tote, geliebte Frau.

Mit beiden Armen umklammerte er Leonore, bis ihn plötzlich ein sonderbarer Laut, ein heller Warnungsruf aus seiner schmerzvollen Ekstase riß. Er blickte auf. In der Tür stand Annedore, fast feindlich kreuzte ihr Blick den seinen, und ihre Kinderstimme klang spröde und hart: »Was tust du da?« ’

Schuldbewusst stand Peter vor dem Mädchen — einen Augenblick, dann war er Herr der Situation. »Annedore — Liebling — komme einmal zu mir —«

Zögernd kam Annedore herbei, und alle Feindschaft wandelte sich in ihren sprechenden Zügen in Angst. »Was ist mit Mutti?«

»Sieh, Annedore — wir beide müssen nun fest zusammenhalten —«

»Onkel Doktor —- ist Mutter — ist Mutter — o mein Gott — Mutter auch!«

Einen furchtsamen Blick warf Annedore auf die tote Mutter, dann brach ein jammervoller Schrei über ihre Lippen, und ehe Peter sie halten konnte, stürzte sie mit einem dumpfen Laut zusammen. Die Erkenntnis dieses neuen Jammers war zuviel für Annedore — eine lange, schwere Krankheit kam über das erschütterte junge Menschenkind. —- — — —- —

Endlich war Annedore wieder genesen. Ihre Wangen begannen sich erneut zu röten, allein mit ihrer Gemütsstimmung wollte es nicht besser werden, auch nicht, als Schnee und Eis draußen einem drängenden Frühling wichen.

Teilnahmslos verbrachte sie ihre Tage.

Da entschloß sich Peter, der dauernden Aufenthalt in Buchenau genommen glatte, zu einer scharfen Kur. Eines Tages trat er bei Annedore ein — zwei Totenkränze hingen an seinem Arm, und mit fester Stimme, der er absichtlich Härte verlieh, gebot er ihr: »Annedore — mach dich fertig — wir müssen nun endlich einmal die Gräber einer Eltern besuchen!«

Annedore taumelte in die Höhe. Einen kurzen, armen Augenblick zeigte ihr Gesicht Leben und Verstand, dann ging sie, sich fertig zu machen.

Mit Herzklopfen hatte Peter jeden Wechsel ihrer Mienen beobachtet, und langsam zog die Hoffnung ein in sein Herz. Er würde Annedore retten!

Durch den herbkühlen Frühlingsmorgen wanderte er mit Annedore nach dem mitten im Wald ruhenden Kirchhof.

Hand in Hand schritten sie durch die stummen Gräberreihen, bis sie endlich die neuen Hügel, die Buchenaus Gräber deckten, erreichten.

»Leg’ deinen Kranz nieder, Annedore, hier schläft deine liebe Mutter.«

Wie erwachend sah sich Annedore um, ein belebter Ausdruck trat in ihre Augen.

»Sagtest du etwas zu mir?«

»Leg’ deinen Kranz nieder auf deiner Mutter Grab!«

Einen Augenblick herrschte starkes Schweigen — dann schrie Annedore jammernd auf: »Nein —- nein — sag’ doch, daß das nicht wahr ist!«

»Annedore — mein liebes, armes Mädel!«

Da warf sich Annedore schmerzlich weinend über das Grab . . .

Peter Frensen stand daneben, und ein dankbares Gebet stieg zum Himmel. Annedore war gerettet, die Lethargie gebrochen, und wenn sie sich jetzt auch unglücklicher fühlen mochte, als in dem krankhaften Dämmerzustand, so war sie doch auf dem Wege der Besserung. — — —

Von diesem Tage ging es aufwärts mit Annedore Buchenau. Nur manchmal, wenn sie allein war, trat ein Zug quälerischen Grübelns in ihr Gesicht. Dann ging sie einer schlummernden Erinnerung nach, die mit ihrer Mutter und Peter Frensen irgendwie zusammenhing, und deren Kernpunkt sie nie finden konnte.

Peter sag traurig, daß er seinem jungen Schützling näher kommen konnte. Wie eine Mimose verschloß, sie sich seinem treuen Bemühen. Nach einem energischen Aufschwung trat in ihrem Befinden dann ein Stillstand ein. Sie war nicht mehr eigentlich krank, aber sie kannte auch keinen Jugendfrohsinn wiederfinden.

Da kam Peter in seiner Angst um das junge Menschenkind auf den Gedanken, sie in eine andere Umgebung zu bringen, um sie endlich wieder ganz in die alte Annedore zu verwandeln.

An einem rosendurchdufteten Nachmittag saß er neben ihr in dem kleinen Gärtchen und machte ihr seine Reisevorschläge.

Annedore sah ihn lange träumend an, dann sagte sie leise: »Onkel Doktor — wenn du mir einen wirklichen Liebesdienst erweisen willst, dann schicke mich fort —«

»Nun ja, Kind, wir wollen reisen —«

»Nein, Onkel Doktor —- du verstehst mich noch immer falsch, ich möchte —«

»Nun, was denn, Annedore?«

Laut klopfte Peters Herz, wie immer, wenn ihn Annedore, so wie in diesem Augenblick, an ihre verstorbene Mutter erinnerte.

»Du wirst böse sein, Onkel Doktor —«

Ein wenig unbeholfen versuchte er ihr väterlich die Wange zu klopfen: »Rede, Kind — ich verspreche dir, nicht böse zu sein.«

»Auch nicht traurig, Onkel Doktor?«

»Ich kann mir nicht denken, daß mich meine kleine Annedore betrüben will.«

Und da kam endlich leise und zaghaft die bange — Bitte: »Laß mich allein fort —«

»Du wünschest meine Begleitung nicht?«

Peter sprach ganz ruhig, obgleich ihm das Herz recht weh tat, wenn er an die Trennung von Annedore dachte.«

»Onkel Doktor — ich fülle selbst, daß ich noch nicht wieder im alten Fahrwasser bin! Mein Zustand ist mit selbst lästig, und ich möchte nun wirklich bald damit fertig sein. Deshalb habe ich mir gedacht, wenn ich einmal Fortginge in eine andere Gegend und fremde Umgebung — meinst du, daß mir das helfen könnte?«

»Ich verspreche mir sogar sehr viel davon. Aber wie das machen, dich so ganz ohne Begleitung reisen lassen?«

»Könntest du mich nicht in eine Pension geben — oder bin ich dazu zu alt?«

»Wie alt bist du eigentlich?«

»Achtzehn Jahre, Onkel!«

»Dann kann ich dir noch eine sehr angenehme Pension verschaffen. Dort wirst du leichten Unterricht genießen, kannst dich im Kochen ausbilden oder sonst irgendein Spezialfach zu deinem näheren Studium wählen.«

»O, Onkel Doktor, ich danke dir!«

Und seit langem traf ihn aus Annedores Augen wieder einmal der ruhig vertrauende Kinderblick.

»Teuer bezahlt!« dachte Peter, und mit Grauen malte er sich die langen Wochen aus, in denen er Annedore nicht sehen konnte.

Mit Schrecken merkte er erst jetzt so ganz, was ihm Annedore in den vielen sorgenvollen Wochen geworden war. Wie alle Sorgenkinder war auch, sie ihm fest in das Herz gewachsen, und ihre verblüffende Ähnlichkeit mit ihrer Mutter gab seinen Gefühlen für Annedore eine tiefe Innigkeit, die ihn selbst erschreckte.

Die nächsten Tage vergingen mit eifrigsten Reisevorbereitungen Peter hatte eine gute Pension für Annedore ausfindig gemacht, und Frau Nehren, die auch Annedores Mutter oft auf Reisen begleitet hatte, durfte Annedore in das, vornehme Pensionat begleiten.

Peter Frensen verließ wenige Stunden später Buchenau, um seine Tätigkeit als Kreisarzt wieder aufzunehmen.

Erstaunt sahen ihn seine alten Patienten an. War das noch ihr alter Dr. Frensen?

Das Haar an seinen Schläfen war grau geworden und sein Gesicht schmal, nur in den Augen brannte das alte Feuer noch. Wortkarger und zerstreuter ging er seiner Praxis nach.

»Er muß draußen in Buchenau sehr gelitten haben!« Keiner hätte geglaubt, daß seine Freundschaft für Georg Buchenau so innig war, daß sein Verlust ihn zum müden Manne machen würde. Daß Peter außer dem Freund die Frau verloren hatte, die er heimlich mit zäher, herzlicher Liebe geliebt hatte, und von den neuen Kämpfen, die ihm im steten Zusammenleben mit Annedore erwuchsen, ahnten seine Patienten nichts.

Die Männer seines Kreises konstatierten: »Ein guter Kerl«, den Frauen wurde er nur immer interessanter.

Auffällig und unauffällig wurden dem stattlichen Dr. Frensen Avancen gemacht. Manche Mutter sähe ihn gern als Schwiegersohn, und manches Mädchenherz pochte heftiger, wenn seine stattliche Gestalt auftauchte.

Peter Frensen ging durch alles das vollkommen unberührt und uninteressiert. Er schalt sich selbst, daß seines Lebens Inhalt die spärlichen steifen Briefchen wurden, die Annedore aus dem Pensionat pflichtschuldigst an ihn schrieb. Aber Peter wartete von einem Posttag um anderen auf diese ungelenken, kleinen Zeichen, daß Annedore sich des guten Doktors erinnere.

Stetig führten ihre Briefe auch die ihr so geläufige Anrede »Onkel Doktor«. Peter aber war es, als richtete sich mit diesem »Onkel« wieder und immer wieder von neuem eine Schranke vor seinen Wünschen auf. Sein ganzes Denken war unablässig um Annedore beschäftigt, und weil Annedore ihm nicht so unbedingt unerreichbar war, wie es Leonore als seines treuesten Freundes Frau gewesen war — so konzentriere sich all sein Hoffen auf Annedores Besitz. Aber in all diesen schimmernden Hoffnungsträumen störte ihn immer wider das kleine dumme Wort Onkel!

Es legte ihm beredtes Zeugnis dafür ab, welch weiten Weg seine Wünsche noch gehen mußten. Das »Onkel« war wie eine Barrikade, die er nicht einmal im Sturm nehmen durfte — nein —- er mußte warten, ob sie kapitulieren würde.

Trotz aller unruhevollen Stimmungen kräftigte sich seine Gesundheit wieder und seine Nerven spannten sich in neuer Elastizität. Und das war gut, denn der Herbst brachte schwere Epidemien, und der arme Peter Frensen hatte keine Zeit für eine eigenen Angelegenheiten. Nicht einmal regelmäßig konnte er Annedores Briefe beantworten, obwohl er sich das zur Pflicht gemacht hatte. Sooft er schrieb, warf er immer wieder neue Fragen an Annedore auf, und es war ihm eine Freude, daß langsam aus den Kleinmädelsbriefen eine immer zunehmendere Reife sprach.

Er hätte viel darum gegeben, Annedore jetzt bei sich zu haben — aber als dann die verheerenden Epidemien, eine immer schlimmer als die andere, kamen, war er doch froh, sie so weit fort zu haben.

Annedore lebte in dem Pensionat still und gleichmäßig dahin. Die Briefe vom Onkel Doktor waren für sie die einzig frohe Unterbrechung im täglichen Einerlei — und sonderbar, wie sie ihm immer reifer und älter zu werden schien, so verjüngte ich sein Bild für sie und er wandelte sich ihr unmerklich von der Respektsperson zum guten Kameraden.

Sie war schon einige Monate in dem Pensionat und wieder einmal in ihrem netten, kleinen Zimmer mit dem Lesen eines Romans beschäftigt, der sie sehr ergriff, schon weil darin geschildert war, wie ein Kind am Totenbette seiner Mutter steht. Diese Schilderung hatte Annedore mit grausamer Deutlichkeit den Tod ihrer Mutter wieder vor Augen geführt. Bei der Schilderung des Sterbens dieser Mutter, die der verzweifelnde Gatte nicht aus seinen Armen lassen wollte, tauchte vor Annedore jene Szene wieder auf, in der sie Peter Frensen an der Leiche ihrer Mutter fand — in derselben Verzweiflung wie der trauernde Witwer in dem Roman.

Mit einem Schlag war ihr nun klar, warum das so verwirrend auf sie gewirkt hatte, Peter Frensen in dieser Stellung zu finden. Onkel Doktor hatte ihre Mutter liebgehabt — viel lieber, als er eigentlich gedurft hätte.

Sie erschrak darüber heftig. Es wollte ihr scheinen, als habe der Freund mit diesem Abschied von der Toten ein Unrecht gegen ihren Vater begangen. Langsam erst — ganz allmählich klärte sich das Chaos ihrer Gefühle und inniges Mitleiden mit Onkel Doktor nahm von ihr Besitz.

Ob Peter Frensen die tote Mutter noch immer liebte, ob er sie je vergessen konnte?

Nach einem kühleren herben Brief, den Annedore in der ersten Verwirrung dieser neuen Gewißheit geschrieben hatte, bekam Peter nun wunderschöne Briefe von ihr, die ihm etwas rührend Mütterliches aussprachen, dessen Ursprung er sich nicht zu erklären vermochte, das ihm aber unbeschreiblich wohltat und ihm die Schreiberin noch liebenswerter erscheinen ließ.

Eines ihrer nächsten Schreiben sprach von brennendem Heimweh. Als Peter dieses in Händen hielt, schlug sein Herz in tollem Tempo, und ein glückliches Lächeln verklärte sein Gesicht. Annedore verlangte heim. Die Krisis in Annedores Gemütsleben war mithin vorüber. Der jammervolle Heimwehbrief war schon als ein Zeichen ihrer vollständigen Gesundung ein freudiges Ereignis für Peter Frensen.

Herrgott im Himmel, wenn du es gut mit mir meinst, dann führe Annedore in meine Arme, laß mich glücklich machen, laß mich glücklich werden!«

Nach dieser kurzen Bitte setzte fing Peter an seinen altmodischen Schreibtisch und schrie Annedore einen Brief, der trotz aller Beherrschung noch reichlich jubelnd und glückstrahlend ausfiel. Annedore durste heimkommen, und Onkel Doktor freute sich darauf.

Der Brief flog dann eines Morgens in dem Pensionat auf den Frühstückstisch und sein Jubelton trieb eine feine, schimmernde Freudenröte in Annedores blasse Wangen.

Und dann ging es heim!

Der Zug, der nur so durch die verschneite Landschaft jagte, fuhr Annedore noch immer nicht schnell genug. Endlich tauchten die wohlbekannten Türme auf — und nun hielt der Zug, und unten auf dem Perron stand die gute alte Frau Nehren.

Und daneben ein eleganter, schlanker Herr in einem flotten Sportpelz — aber das war ja — wahrhaftig — das war Onkel Doktor! Prachtvoll sah er aus! Und eine lebhafte Röte stieg Annedore in das Gesicht — sie ärgerte sich darum, was gab es nur in aller Wellt zu erröten, wenn man seinen guten alten Onkel Doktor wiedersah! Mit einer graziösen Bewegung schwang sich Annedore von dem hohen Trittbrett des Wagens auf den Perron. Da stand sie nun und blickte halb scheu, halb freudig mit ihren blauen Augen auf Peter Frensen.

Und Peter schlug das Herz so hart gegen die Brust, daß es ihm eine feine, schnelle Röte über die Stirn jagte — und dann nahm er Annedores Hand und führte sie an die Lippen. Seine angenehme, tiefe, weiche Stimme klang ein wenig vibrierend, als er Annedore jetzt begrüßte:

»Willkommen daheim, liebe Annedore. Du glaubst gar nicht, welche Freude uns dein Heimwehbrief machte. Wir haben dich nun gesund und tapfer wieder, und darum nochmals herzlich willkommen. Und nun begrüße auch Frau Nehren, die sich gleich mir freut, daß du wieder bei uns bist.«

Herzlich schlang Annedore ihren Arm um Frau Nehrens Hals und gab ihr einen Kuß auf den zitternden Altfrauenmund.

Und während sie alle drei zu dem bequemen Schlitten schritten, berichteten Peter und Frau Nehren, was es Neues aus Buchenau gab.

Peter ließ seine Augen während der ganzen langen Fahrt heimlich auf Annedore ruhen. Er trank ihr liebes Bild in sich hinein.

Wie herrlich hatte sie ich entfaltet. Nichts, gar nichts mehr erinnerte an dass blasse, seelenkranke Mädchen des vergangenen Jahres. Frisch und gesund saß sie da, und nur ein paar ganz seine Schmerzenslinien auf der Stirn und um die weichen Mundwinkel legten noch Zeugnis jener schweren Trauertage ab.

Mit einer leichten, entzückenden Verlegenheit vermied Annedore die Anrede »Onkel Doktor«.

Der Mann, der ihr da im Schlitten gegenübersaß der mit nimmermüder Geduld um sie bemüht war und ihrem sprunghaften Plaudern mit so ungeteilter Aufmerksamkeit folgte, hatte so wenig Onkelhaftes an sich — daß Annedore die ihr sonst so geläufige Anrede einfach nicht mehr über die Lippen wollte.

In Buchenau wartete eine Überraschung aus Annedore.

Peter Frensen hatte eines Tages bei einem Rundgang durch das aus auch Annedores Stübchen betreten. Ein richtiges kleines Puppenheim.

Beim Anblick dieses Zimmerchens war ihm dann ein hübscher Einfall gekommen, den er in die Tat umsetzen ließ.

Ein paar Wochen rumorten die Handwerker dann in Buchenau herum. Große Kisten und Kasten kamen an —- und eines Tages war das Werk vollbracht!

Aus Annedores Kinderstübchen war ein reizendes Biedermeierzimmer geworden, das Heim einer verwöhnten jungen Dame. Über dem altmodischen kleinen Sofa aber hingen als Extraüberraschung in ovalem Goldrahmen wundervoll gelungene Porträts der verstorbenen Eltern Annedores. Ein sehr geschickter junger Maler hatte sie nach kleinen Bildchen im Auftrag Frensens gefertigt.

Und in dieses Zimmer trat Annedore nun vollkommen unvorbereitet, ihr weißes, englisches Zimmerchen vermutend.

Wie benommen blieb sie einen Augenblick stehen. Tränen traten ihr in die schönen blauen Augen. Langsam wandte sie sich um, sie wollte Peter danken, so recht aus Herzensgrund. Da erst bemerkte sie, daß er und Frau Nehren heimlich davongeschlichen waren — um sie in dieser Stunde der Heimkehr nicht zu stören.

Als sich Annedore allein sah, nahm sie sich nicht mehr zusammen. Sie brauchte sich ja nun der Tränen nicht mehr zu schämen. Ein unendliches Dankbarkeitsgefühl für Peter nahm Besitz von ihr. Vor den Bildern ihrer Eltern stand sie lange — die Hände gefaltet wie in innigem Gebet.

Eine Weile darauf klopfte Frau Nehren an ihre Tür.

»Fräulein Annedore, ob Sie noch herunterkommen möchten, Herr Doktor muß fort.«

Hastig trocknete Annedore die letzten Tränen und rief mit ihrer tiefen, klangvollen Stimme:

»Ich komme im Augenblick — er soll ja nicht fortfahren.«

Als Annedore jetzt mit der eleganten Modefrisur und ohne Hut in das Zimmer zu Peter trat, wirkte sie auf ihn viel damenhafter als vorher in dem flotten Reisehütchen.

Vor seinen geistigen Augen hatte sie immer mit der großen Schleife aus breitem, schwarzem Seidenband im Haar und dem dicken Mozartzopf bestanden. Das fehlte ihm nun für den ersten Augenblick, bis er sich an ihre neue kleidsame Frisur gewöhnt hatte.

Annedore kam schnell auf ihn zu, die großen blauen Augen richteten sich dankbar auf ihn, und mit beiden.Händen umklammerte sie Peters Hand. »Ich danke dir!«

Was alles klang aus den drei einfachen Worten, so viel, daß es der blitzschnellen Bewegung, mit der Annedore seine Hand küssen wollte, gar nicht bedurft hätte.

Erschrocken zog Peter seine Hand fort und nahm ihren Kopf zwischen beide Hände, sie sehr erstaunt ansehend: Annedore — das darfst du nie wieder versuchen — hörst du?«

»Bist du mir böse?«

Einen Augenblick hielt Peter das feine Köpfchen mit den süßen bangen Augen dicht vor seinen Mund. » Die Versuchung, Annedore zu küssen, befiel ihn. Aber sich bezwingen, ließ er sie los.

»Böse — nein, Annedore — ich glaube, es gibt s gar keinen Menschen, der dir böse sein könnte.«

»Ach — du kennst mich nur nicht richtig!«

»Doch, Annedore, ich kenne dich, wie mich selbst.«

Die Worte gruben sich in Annedores Erinnerung — sie verwirrten sie — gaben ihr zu denken. Eine kleine, beklommene Pause, dann fragte Annedore hastig: »Du mußt fort?«

»Leider — Annedore — die Praxis ruft.«

»Schade — und kommst du bald wieder herauf?«

»Sooft ich kann, Annedore! Buchenau ist doch mein, Heim — oder darf ich das jetzt nicht mehr sagen? Greif ich damit in deine jungen Herrinnenrechte ein?«

»Nein, auf so eine dumme Frage sollte ich gar keine Antwort geben. Ich freue mich immer, wenn du kommst — du bist doch der einzige Mensch, den ich habe, Onkel Doktor!«

Ein wenig zuckte Peter nun doch bei dem alten Prädikat zusammen.

Annedore bemerkte das wohl — ein wenig scheu sah sie ihn an — und doch guckte ihr der Schelm aus den Augen. — — — —- —

Wochen vergingen. Buchenau lag in seiner verschneiten Pracht wie ein Märchenschloß, und Annedore war die verwunschene Prinzessin. Die Rolle des Drachen würde dann allerdings der guten Frau Nehren zufallen — aber die würde sich schön bedanken.

So beschwerlich der Weg von der Stadt durch den dick verschneiten Wald auch für Peter war, wenn es seine Praxis erlaubte, scheute er ihn nicht, um in Annedores Biedermeierstübchen Tee trinken zu können.

Auch jetzt saßen sie behaglich plaudernd beim Schein der rotverschleierten Lampe an Annedores Teetisch. Frau Nehren saß strickend in der Sofaecke und diente den Doktor und ihr Prinzeschen abwechselnd mit Tee. Sie war stolz auf dieses Amt und hätte es wie eine Löwin verteidigt, wenn sich jemand gefunden hätte, der es ihr hätte streitig machen wollen.

Erstaunt hörte sie jetzt auf das Gespräch zwischen Peter und Annedore.

Im Frühjahr möchte ich anfangen zu reiten — willst du so gut sein, mir ein Pferd besorgen?«

Peter sprang bei diesen Worten hastig auf: »Nie — Annedore!«

»Aber warum nicht?«

Peter nahm sich zusammen, setzte sich wieder an den zierlich gedeckten Tisch und nahm beschwörend ihre Hände in die seinen.

»Ich will es dir erklären — du wirst mich dann verstehen, Annedore — und mir die Unruhe ersparen, die ich leiden müßte, wüsste ich dich zu Pferde draußen. Ich muß Wunden aufreißen. Ich kann den Tod deiner lieben Eltern nicht vergessen — und wenn ich denken könnte, du befändest dich einmal in einer Gefahr, wie sie deiner lieben Mutter todbringend begegnete, Annedore — nicht wahr — du willst doch nicht, daß ich mit Unruhe und Angst herdenke während ich bei meiner Praxis bin. Versprich mir, Annedore, von diesem Wunsche Abstand zu nehmen?«

Peter hatte leidenschaftlich gesprochen, mehr als er wollte. Voll flehender Angst richteten sich seine Augen auf Annedore.

»Verzeih mir — ich dachte nicht daran — natürlich reite ich nicht. Ich verspreche es dir.«

Da tat Peter etwas, das gar nicht onkelhaft war — er drückte einen langen Kuß auf Annedores kleine weiße Hand.

»Ich bin ein alter Egoist —- Was, Annedore?«

»Ach — Onkel Doktor — du hast doch vollkommen recht!«

Zuweilen, wenn Peter ihr geistig überlegen handelte, wenn ihr seine feste, sichere Art Respekt einflößte, dann kam noch ab und zu ganz backfischmäßig ein »Onkel Doktor« zutage.

Und Peter konnte sich das törichte, schmerzliche Zusammenzucken darüber nie abgewöhnen. Und dann kam Weihnachten!

Ein schönes Fest verlebten Peter und Annedore.

Am Nachmittag waren sie durch den träumenden, schneebedeckten Märchenwald zum Kirchhof gewandert und hatten auf den lieben Gräbern Weihnachtskränze niedergelegt, und ganz spontan kindlich kam ihr dort die Bitte:

»Ich möchte in die Kirche, Onkel Doktor — aber mit dir, wollen wir?«

Obgleich Peter, wie fast alle Mediziner, der Kirche ablehnend gegenüberstand, konnte er der rührenden Bitte Annedores doch nicht mit einem schroffen Nein begegnen.

Sein Herz klopfte hart und schwer, wenn er an die Schlittenfahrt zu zweien hinein nach der Stadt dachte. Da hieß es, den Kopf oben behalten.

Hand in Hand liefen sie durch den Wald nun heim, um den Schlitten anspannen zu lassen.

Peter Frensen hatte einmal vor langen Wochen erzählt, wie heilig ihm die schönen Weihnachtsfeste auf Buchenau immer gewesen waren. Und wie sehr er sie in dem Jahr, da Annedore fort von der Heimat war, vermisst hatte. Nun sollte Onkel Doktor sein Buchenauer Weihnachten wieder haben.

Gerührt blickte Peter in Annedores festlich geheimnisvolles Gesicht.

Unten klingelten die Schlittenglocken, und dicht in die Pelze vermummt stiegen Peter und Annedore ein, um nach der Kirche zu fahren.

Der Weg wurde Peter, der mit allen Versuchern an der Seite der ahnungslosen Annedore rang, endlos lang — ihr verflog die Fahrt im Handumdrehen. Ehe sie’s gedacht, flog der Schlitten über das holperige Pflaster der kleinen Stadt.

Endlich hielt der Schlitten vor dem kleinen Kirchlein. Die Buchenauer hatten eine Art Herrschaftsstuhl — ein Rest lang vergangener Tage — in der Kirche inne.

Erstaunt sahen die Neugierigen jetzt erst einmal Peter dem Schlitten entsteigen und dann erst, von seiner Hand gestützt, folgte eine junge Dame.

»Das soll die Annedore Buchenau sein?«

»Herrjeh — aus Kindern werden Leute!«

»Ein hübsches Mädchen, und reizend angezogen.«

Und nun, nachdem Wohlgefallen und Überraschung genugsam geäußert waren, kam der Neid, die Mißgunst, der Klatsch! Ein feines Summen, wie von einem Bienenschwarm, schwebte durch das Kirchlein, das erst die donnergewaltige, das alte Weihnachtsmärchen verkündende Stimme des greisen Pfarrers verstummen machte.

Peter Frensen war es mit dem Augenblick, da er das nicht endende Interesse der Kleinstädter, die mehr oder weniger diskreten Blicke seiner Patienten bemerkte, klar geworden, daß er mit dem Kirchenbesuch an Annedores Seite eine Dummheit gemacht hatte, die möglicherweise einen törichten, sinnlosen Klatsch entfesseln konnte.

Annedore bemerkte weder von dem Staunen der gläubigen Gemeinde noch von der Beunruhigung ihres Begleiters etwas, sie gab sich ganz dem Zauber der Weihnachtsmesse hin.

Ihre süße Stimme bei dem großen Gesang weckte Peter aus weltlichen und noch dazu unangenehmen Gedanken.

Ach, jetzt das Mädel hernehmen können und lächelnd den dummen klatschsüchtigen Gaffern sagen-:

»Ja —- staunt nur und schaut her — sie ist mein — mein!«

Aber nein — er mußte sich gedulden, bis Annedore wirklich ganz ausgereift war. Bis sie aus eigener Kraft eine so schwerwiegende Frage mit Ja oder Nein beantworten konnte, wenn er nicht eines Tages ihr und sein verfehltes Leben bereuen wollte. —

Die Messe war aus. Ein paar Familien, die nahe am Buchenauer Stuhl vorbeigegangen, konnten hören, wie Annedore froh sagte:

»Nun geht es heim — Onkel Doktor!«

Sie quittierten darüber mit ein paar Randbemerkungen: »Ei — ei — der Doktor in der Kirche, wer mag denn das Meisterwerk fertig bekommen haben?«

»Wer denn wohl? — Im übrigen finde ich es albern, daß sie ihn kindisch noch Onkel Doktor nennt.«

Der Onkel Doktor war aber das erste mal seit langem froh, daß sie ihn so arglos und offiziell mit dem Prädikat belegte. Weil der Wunsch der Vater des Gedankens war, und weil er sich durch Nachdenken die Feststimmung nicht verderben wollte, wollte er sich selbst glauben machen, dies »Onkel Doktor« zerstreue all den dummen Klatsch, den er wie giftige Wucherpflanzen auftauchen sah. — —- —

Die kleine Feier, die Annedore nun Peter Frensen daheim bereitete, war stimmungsvoll. Sie sang ihm uralte Weihnachtslieder. Die dicken Wachskerzen am duftenden Tannenbaum knisterten.

Taktvoll hatte Peter es unterlassen, Annedore zu reich zu beschenken. Er brachte unter drolliger Umständlichkeit eine Menge Kleinigkeiten zutage und empfing dafür von Annedore ein Kissen in einer schwierigen feinen Nadelarbeit.

Frau Nehren kam bei dieser Bescherung am besten weg.

Annedore und Peter hatten ihr alle großen und kleinen Wünsche abgelauscht und erfüllt.

Nach diesem Weihnachtsfest rannte Peter Frensen mit seinem Kissen fest verpackt im Arm wie ein verliebter Primaner durch den Wald und baute an einem märchenschönen Luftschloß.

Annedore blieb noch eine ganze Weile, nachdem Peter fort war, unter dem brennenden Baum sitzen und vergrub ihr glühendes Gesicht in seine kleinen, bescheidenen Gaben.

Sie war so selig gerührt und wußte nicht warum — ganz erstaunt blickte sie auf eine große Träne, die ihr unmerklich aus den strahlenden Augen auf die Hand getropft war.

Verlegen und erstaunt schüttelte sie über ihre wunderliche Stimmung den Kopf und löschte nachdenklich die Lichter am Baum, eines nach dem anderen. Ein feines, seidenes Tuch, das ihr »Onkel Doktor« geschenkt hatte, nahm sie mit hinauf.

Es war ein Glück, daß Annedore so einsam auf ihrem Buchenau lebte. Mit den jungen Damen aus der Stadt pflegte sie keinen Verkehr. Ein paar besonders liebe Kameradinnen aus der Pension kamen einige Wochen zu ihr. So blieb sie von all den häßlichen Redereien verschont, und jene Stimmung, die am Weihnachtsabend begonnen hatte, reifte immer mehr aus — bis dann ein Tag kam, an dem es Annedore gewiß, wurde, daß sie Peter Frensen innig liebte.

Von diesem Tage an wartete sie mit Herzklopfen auf sein Kommen, sah ihm mit bang sehnsuchtsvollen Augen entgegen. Gerade in jenen Tagen vergällte der Klatsch Peter jede Stimmung. Sollte er mit Annedore offen reden — und damit etwas Erblühendes zerstören, das ihm noch zum vollen Glück ausreifen könnte! Sollte er Annedore meiden — seine Besuche auf Buchenau einstellen — bis die dummen Redereien vergangen sein würden? Aber damit würde er sich seiner einzigen Freude berauben, und Annedore mußte das befremden, sie irre werden lassen. Ganz verzweifelt rannte Peter in seinem Arbeitszimmer herum, und endlich kam er doch zu dem Resultat, daß er seine Besuche in Buchenau unter irgendeinem Plausiblen Grund bis auf weiteres einstellen wollte.

Zum letzten mal für lange Zeit fuhr er nach Buchenau, um seinen Tee bei Annedore zu trinken.

»Annedore — ich möchte dir eine Mitteilung machen. — So leid es mir tut — ich kann jetzt eine ganze Zeit den Tee nicht mehr in deinem gemütlichen Zimmer trinken.«

»O — warum denn nicht«

»Ich habe zuviel zu tun — der Weg heraus nimmt mir viel zu viel Zeit.«

»Das tut mir aber leid. Aber Sonntags kannst du doch wenigstens noch kommen?«

Herrgott, was konnten die lieben, blauen Augen flehen und bitten. Mit großer Anstrengung entzog sich Peter dem Zauber und wehrte kürzer ab, als er wollte.

»Nein —- auch Sonntags geht es nicht, vor der Hand wenigstens nicht, Annedore, zu viel Arbeit —«

»Ja — aber was soll denn aus mir werden?«

Peter lachte gezwungen auf. «Herrjeh — Annedore, tue nur nicht, als wenn du ohne den alten Onkel Doktor nicht leben könntest!«

Annedore hätte ihre unwillkürliche Äußerung am liebsten ungesagt gemacht Sie war Peter für seine Ahnungslosigkeit herzlich dankbar. Totgeschämt hätte sie sich, wenn er aus ihrer unbedachten Rede die Wahrheit enträtselt hätte.

Schweren Herzens schied Peter von Buchenau, und Annedore stand lange fröstelnd im offenen Haustor und sah seinem Wagen nach.

Von nun an verflossen ihre Tage in quälender Einsamkeit. Der Postbote brachte ab und zu einen spärlichen Gruß von Peter Frensen.

Und Peter saß drinnen in der Stadt. Mit zusammengebissenen Zähnen ging er seiner Praxis nach. Abends zur Teestunde nahm er sich dann auf seinem todeinsamen Studierzimmer ein Buch vor und versuchte zu lesen. Ein ganz vergebliches Bemühen, denn es dauerte s nicht lange, dann ließ er das Buch sinken, vor seinem geistigen Auge erschien Annedores Bild, wie sie nun einsam in ihrem Biedermeierstübchen bei ihrem blattdünnen weißen Porzellan dasaß und traurig ihren Tee allein trank.

Wenn nur endlich die dummen Anspielungen aufhören wollten, die ihm fast jeder Patient, den er besuchte, machen zu müssen glaubte. Er durfte noch nicht einmal seinem Zorn Lust machen, denn dann würde er der ganzen Affäre eine Wichtigkeit beimessen, die seine Sache nur schlimmer machen konnte.

Annedore versuchte indessen auf alle möglichen Arten ihrer Einsamkeit und ihrer brennenden Sehnsucht nach Peter beizukommen. Als gar nichts mehr verfangen wollte, ließ sie den leichten Selbstkutschierer anspannen und fuhr an einem Spätnachmittag nach der Stadt.

Eigentlich sollte Frau Nehren mitkommen, aber im letzten Augenblick kam ihr eine Wirtschaftsangelegenheit dazwischen und so fuhr Annedore kurz entschlossen allein nach der Stadt, um Peter Frensen einen Besuch zu machen.

Unbekümmert fuhr Annedore ihrem Ziel entgegen, ahnungslos, welch eine Auslegung dieser ihr Besuch erfahren würde.

Sie fuhr nicht zu Peter Frensen, die fuhr zu ihrem Onkel Doktor — zu dem einzigen Menschen, der noch zu ihr gehörte in der ganzen weiten Welt.

Peter saß an seinem Schreibtisch in seinem Ordinationszimmer und hielt eben seine Sprechstunde ab, als draußen im schlanken Trab Annedore vorfuhr.

War denn das Mädel des Teufels? Eine Gefühlswirrnis durchwogte ihn — atemraubende Freude kämpfte mit beklemmender Unruhe.

Vor allen Dingen durfte er den Kopf nicht verlieren, sonst war alles gründlich verfahren.

Nachdem er den Patienten entlassen hatte, öffnete er die Tür zum Wartezimmer, das noch voller Patienten aus allen Ständen stoß, und mitten drinnen harmlos und unbekümmert Annedore.

Als er in die Tür trat, rief sie ihm fröhlich entgegen: »Tag, Onkel Doktor!«

»Nanu — Annedore — bist du krank?«

»Nein — Gott sei Dank nicht — warum denn?«

Sie stürzte ihn von einer Verlegenheit in die andere und hatte keine Ahnung davon. Peter wußte nicht mehr, was er sogen sollte.

»Was führt dich denn hierher — willst du nicht zuerst hereinkommen — die Herrschaften werden eine Ausnahme machen lassen.«

»Nein — ich kann warten — ich möchte nur meinen Tee mit die trinken!« Das klang so vollkommen unbekümmert, so herzzerreißend naiv aus ihrem Munde, daß Peter der Gefahren vergaß und ihr glücklich zunickte:

»Dann auf nachher! — Der Nächste, bitte!« — — Endlich war die Sprechstunde zu Ende.

Peter entließ seinen Assistenten und konnte nun endlich, nachdem er bei seiner Haushälterin den Tee für zwei Personen bestellte, Annedore in sein Studierzimmer führen.

»Sag’ mir nur, Annedore, wie kamst du auf den Einfall?«

»Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, kommt der Prophet zum Berg. So kann ich dir auch Gesellschaft bei deinem Tee leisten — und du sparst die Zeit der Hin- und Herfahrt nach Buchenau. Das können wir öfter machen, nicht?«

Peter zog es vor, die Frage vorläufig einmal offen zu lassen. Er wurde von der Freude über das Beisammensein und von der Angst um den neu und heftig entfesselten Klatsch noch immer hin und her gerissen.

Lange saßen sie beim Schein der grünen Lampe beisammen und genossen auf gleiche Art die trauliche Stunde, und doch sollte noch keine Brücke zwischen ihnen geschlagen werden.

Plötzlich tönten die tiefen Schläge von der nahen Turmuhr lang ausholend neunmal.

Einen Augenblick starrten sich beide ganz verblüfft an — dann sagte Peter ganz unwillkürlich:

»Was nun?«

»Ja — ich muss schleunigst heimwärts fahren!«

»Auf keinen Fall!«

»Ja — was sonst — hier kann ich doch nicht bleiben?«

»Nein — Annedore, hier kannst du nicht bleiben — oder — «

Ein hartes Schellen an der Nachtglocke unterbrach Peter in seinem Vorschlag. Man hörte die Haushälterin öffnen — erschrocken aufschreien und eilig die Tür zum Operationszimmer öffnen. Schwere Schritte klangen im Hausflur, da riß auch schon die Haushälterin die Tür auf.

»Herr Doktor — ein Verunglückter!«

»Ich komme!«

Und ohne sich weiter um Annedore zu kümmern, folgte Peter der Frau.

Totenstill war es plötzlich in dem Studierzimmer. Annedore stand wie gelähmt — da wenig Schritte von ihr in dem anderen Zimmer wurde vielleicht über Leben und Tod entschieden.

Hastig hörte sie eine Tür öffnen, und plötzlich stand Peter vor ihr. »Annedore, traust du dir zu, mir behilflich zu sein, ich kann meinen Assistenzarzt nicht erreichen, Eile ist dringend geboten — meinst du deiner Nerven so sicher zu sein, mir ein paar Handreichungen tun zu können?«

»Ich soll dir helfen?« Annedore sah sehr hilfsbereit aus. »Ganz gewiß kann ich das — ich werde bestimmt tapfer sein.«

»Dann komm, bitte.«

Eilig gingen sie hinüber in das Operationszimmer. Der Verunglückte lag bewußtlos.

Annedore mußte schnell die Leinenschürze des Assistenten umbinden und ihr Haar mit einem sauberen Tuch umwinden. Dann erklärte ihr Peter kurz und klar die Reihenfolge, in der sie ihm die Instrumente zureichen mußte, und dann gingen sie beide an die Arbeit.

Endlich war das Werk getan — der arme Verunglückte war gerettet und wurde mit Hilfe der Haushälterin vorsichtig auf Peters eigenes Bett gelegt.

Annedore mußte sich gründlich desinfizieren, dann führte Peter sie wieder hinüber in sein Studierzimmer. Die Turmuhr schlug lang ausholend elf Uhr.

Annedore setzte sich, doch ein wenig abgespannt, auf den breiten Diwan. Peter telephonierte nun vor allem einmal an die Angehörigen des eben geretteten Patienten und dann nach Buchenau, an Frau Nehren. Ihr teilte er mit, daß Annedore am nächsten Morgen zurückkehren und daß er sie für die Nacht im Hotel einquartieren würde.

Dann holte er aus einem Wandschrank eine Flasche uralten Weines, davon mußte Annedore ein Glas trinken. Als er mit ihr anstieß, sagte er: »Annedore, du würdest eine famose Doktorsfrau!«

Leise, fast unwillkürlich kam es über ihre Lippen: »Möchte ich ja auch werden — Peter.«

Ehe sich Annedore recht besann, riß Peter sie in seine Arme und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. »Du hast mich lieb, Annedore?«

»Schon sehr lange, Peter!«

»O, ich dummer, blinder Mann! Was haben wir uns gequält!«

Das war eine sonderbare Verlobung um Mitternacht mit der Erschlaffung der eben geleisteten Arbeit in den Nerven. Wie ein schöner, wie ein unfaßbar schöner Traum zog sie an ihnen vorüber. Sie saßen lange noch erzählend und Pläne schmiedend beisammen, und als der Morgen schon mit kahler Blässe durch die Vorhänge schimmerte, erzählte Peter Annedore die Geschichte seiner Liebe zu ihrer Mutter und von ihrer letzten, leidenschaftlichen Bitte: »Verlaß mein Kind nicht!«

»Ob sie nun wohl beruhigt über das Schicksal ihres Lieblings sein würde?«

»Sicher — Peter —- ganz sicher.«

Innig schmiegte sich Annedore an Peter, und als der Tag endlich voll am Himmel stand, lief Peter in den, Stall, schirrte das Pferd vor Annedores Selbstkutschierer und fuhr sein Lieb glückstrahlend durch den herben, schimmernden Morgen hinaus nach Buchenau.

Frau Nehren war schon wieder fleißig am Werk. Mit feuchten Augen hörte sie die Kunde von Annedores Verlobung und all den Ereignissen der vergangenen Nacht.

Annedore mußte sich dann auf Peters Geheiß trotz ihrer anderen Wünsche sich von Frau Nehren in das Bett packen lassen, um in einem langen Schlummer die anstrengend durchmachte Nacht einzuholen.

Am Abend konnte er nur telephonisch mit Annedore sprechen da er eines Schwerkranken wegen nicht aus der Stadt gehen konnte und wollte.

Erst am nächsten Morgen konnte Peter hinauf nach Buchenau. Seine Sprechstunde mußte der Assistenzarzt abhalten.

Mit einem großen Strauß wunderschöner Moosrosen kam Peter in Buchenau an. Annedore kam ihm glückstrahlend entgegen.

Im Biedermeierstübchen saßen sie dann beieinander und machten Pläne.

Buchenau sollte ein Waldsanatorium werden. Sie wollten eine kleine, nette Villa neu erbauen die sie selbst bewohnen wollten, und das schöne, alte Haus sollte ganz den Kranken und Rekonvaleszenten gehören.

Seine Praxis drinnen in der Stadt wollte Peter dann gänzlich seinem Assistenten abtreten und im Sanatorium Buchenau auch einen Operationssaal einrichten.

Erst) am Ende ihres Beisammenseins beschlossen sie, ihre Verlobung noch vor Ablauf der Woche zu proklamieren, und Peter erzählte Annedore, wie ihn der dumme Stadtklatsch um seine gemütlichen Teestunden in ihrem Biedermeierzimmer gebracht hatte.

Die Hochzeit sollte der Verlobung schon nach sechs Wochen folgen. Dann wollten sie eine lange, schöne Reise machen, und wenn sie heimkehrten, sollte mit dem Bau der Villa begonnen werden.

Annedore überraschte Peter noch mit dem Entschluß, einen gründlichen Ausbildungskursus auf seiner Krankenstation mitzumachen — um ihm auch eine wirkliche Hilfe werden zu können, nicht nur so eine Nothilfe, wie in der Nacht mit dem Verunglückten.

Spät in der Nacht fuhr er in die Stadt zurück. Eine drängende, glückselige Unruhe saß ihm im Blut. Er beschloß noch nicht heimzugehen, sondern in das kleine Weinlokal einzukehren, in welchem seine Bekannten allabendlich zu finden waren.

Mit einem fröhlichen Gruß betrat er das verrauchte Lokal. Im bläulichen Zigarrendampf konnte er kaum die Gesichter der um den Tisch Sitzenden erkennen — aber ein lebhaftes Gespräch brach wie auf Verabredung ab, als er die Gaststube betrat. Mit merkwürdig verlegenen Gesichtern starrten ihn seine Freunde an. Assessor Müller aber — ein junger Mann, der Peter von jeher unsympathisch war — setzte mit hochrotem Kopf sein Glas an den Mund und trank Peter ostentativ freundlich zu.

Es wollte sich Peter etwas beklemmend auf seine frohe Stimmung legen; aber energisch schüttelte er das Unbehagen ab.

»Na —- Kinder — ihr macht Gesichter, als hättet ihr eben von mir gesprochen —?«

Damit setzte ich Peter und bestellte sich händereibend einen Schoppen bei der Kellnerin — ein wenig mokant die eifrigen Beteuerungen der ertappten Sünder, sich nicht mit ihm beschäftigt zu haben, belächelnd.

»Ehrenwort?« fragte er plötzlich — der Teufel mochte ihm den Unsinn eingegeben haben.

Betroffenes Schweigen antwortete der scharfen Herausforderung Peters. Ihm tat es leid, die Situation damit auf die Spitze getrieben zu haben, und etwas gezwungen lachend brach er ab:

»Na — und wenn schon — ich hab’ mir’s ja gleich gedacht — um Ehr und Reputation wird es so nicht, gegangen sein! Prost!« Und freundlich stieß er mit jedem an. Trotzdem konnte er das Gefühl nicht loswerden, daß da irgendwie eine Tücke lauerte.

Der Abend stand deshalb unter einem ziemlich ungemütlichen Zeichen. Peter ärgerte sich, daß er nicht gleich nach Hause gegangen war, daß er sich hier eine wunderschöne Stimmung verderben ließ. Das Gefühl, gegen eine unsichtbare Gemeinheit anzukämpfen machte ihn aggressiver, als das sonst seine Art war. Er konnte das niederziehende Gefühl nicht los werden, sich, ohne es zu wollen, etwas vergeben zu haben. Er trank mehr und hastiger, als es seine Gewohnheit war, und die anderen Herren folgten ihm darin. Bald saßen alle mit roten Köpfen um den Tisch herum. Assessor Müller schien am meisten geleistet zu haben. Sein Blick war schon unsicher, und die Zunge wollte ihm offenbar nicht mehr gehorchen. Ein paar Worte, die er im Trunk über den Tisch lallte, machten die nüchternen Herren darüber klar.

Peter taumelte von seinem Sitz auf. Das, was der halb betrunkene Mensch da eben gelallt hatte, war eine maßlose Beleidigung Annedors.

Gott mochte wissen, wie es herumgekommen war, daß Annedore die eine Nacht über in seinem Haus geblieben war. Das mußte wie ein Lauffeuer durch das verdammte Klatschnest gekommen sein — daß es ein Werk der Barmherzigkeit gewesen, das sie in seinem Hause über Gebühr festgehalten hatte — das zu verbreiten bemühte der Klatsch natürlich nicht.

Peter sah und hörte nichts - blutrote Nebel wallten vor seinen Augen, und ehe die anderen ihn hindern konnten, schlug er den Assessor mit der Faust in das Gesicht.

»Fräulein Buchenau ist meine Braut — merken Sie sich das — und seien Sie mit Ihren Infamien in Zukunft vorsichtiger — Lümmel!«

Der Tumult, der dieser Szene folgte war unbeschreiblich. Im Nu teilte sich die Tafelrunde in zwei feindliche Lager. Peter Frensen nahm seinen Hut und verließ, von seinen Getreuen gefolgt, das Lokal.

Draußen in der frischen, klaren Luft kam ihm dann erst die Besinnung wieder. So streng er sich auch prüfte — das Endresultat war immer, daß Müller die Ohrfeige gründlich verdient hatte.

Müller würde ihm natürlich mit Tagesgrauen eine Forderung schicken. Peter ging in der unbehaglichsten Stimmung nach Hause.

Im Weinlokal saßen die anderen noch am runden Tisch. Müller hielt sich mit wütendem Gesicht seine s brennende Wange.

»Ein brutaler Kerl, der Frensen —-«

»Was kann ich dafür, wenn sich seine Braut unqualifizierbar benimmt!«

»Bisschen exzentrisch waren die Buchenauer immer —-«

Es war ein Segen, daß Peter die gehässigen Bemerkungen nicht hörte, die über seine Beziehungen zu Annedore gemacht wurden.

Nachdem sich in verschiedenen sittlichen Entrüstungsprotesten die Gemüter entladen hatten, wählte Assessor Müller unter den anwesenden Herren seine Kartellträger, denen er eine scharfe Säbelforderung für Peter übergab.

In aller frühester Morgenstunde wurde Frensen von den Sekundanten Müllers ausgesucht, die Ihm die Forderung zu dem Säbelduell überbrachten.

Als Zeit war die Stunde der Abenddämmerung des gleichen Tages bestimmt, als Ort eine Lichtung im Wald nicht weit von Buchenau.

Peter nahm die Forderung mit hohnvollem Achselzucken an.

»Natürlich —- die wohlverdiente Ohrfeige kann Herr Assessor Müller nur mit Blut abwaschen. Ich bitte nur den Platz anders wählen zu wollen. Es ist wohl eine ganz besondere Aufmerksamkeit des Herrn Assessor Müller, den Ort des Rendezvous so nahe bei ein Wohnort meiner Braut zu bestimmen. Ich protestiere dagegen und ersuche darum, einen Punkt auf der entgegengesetzten Seite des Waldes zu wählen, wo es mir erspart bleibt, im Wagen an Buchenau vorbeifahren zu müssen und meine Braut eventuell zu beunruhigen.«

Die Sekundanten wählten gleich einen anderen Platz und bezeichneten ihn Peter Frensen genau.

Der Tag verging Peter in allerlei notwendigen Geschäften. Früh genug, um rechtzeitig am Platz zu sein, brach er dann auf.

In seinen Gedanken segnete er die einsame Lage Buchenaus, hoffend, daß Gerüchte über das Duell Annedore nicht vorzeitig beunruhigen möchten. Ruhig sonst — nur gequält von der Sorge um Annedore, schritt er zum Kampfplatz. Er würde sich schlagen und kämpfen — es gab nicht nur sein armes Leben, es galt Annedore — seine Annedore vor Leid und Kummer zu schützen. Und schließlich mußte die gerechte Sache siegen.

Von seiner Seite und von der seiner Sekundanten sickerte kein Sterbenswörtchen über die Duellaffäre durch. Aber Assessor Müller sorgte dafür, daß schon um die Mittagsstunde an mehreren Stellen von dem Duell gemunkelt wurde. Er wollte auf die Gloriole seines kolossalen Lebemannes nicht verzichten und ließ es an verblümten Bemerkungen nicht fehlen — obgleich ihm im Grunde seines Herzens recht feige und jämmerlich zumute war.

Den Grund des Duells verstanden er und seine Freunde in ein geheimnisvolles Dunkel zu hüllen, und Assessor Müller, der Unbedeutende, von den Damen bisher Bespöttelte, wuchs sich plötzlich zu einer interessanten Persönlichkeit aus.

Von seinen Sekundanten hatte Müller erfahren, daß Peter Frensen alles daran lag, seine Braut von dem Duell in Unkenntnis zu erhalten.

Auf seiner Bitte, den Duellplatz an einen anderen Ort zu legen, klang innige Besorgnis um Annedore — ein Grund mehr für Müller, alles zu versuchen — Annedore, die er wegen der für sie eingesteckten Ohrfeige grimmig haßte, auf irgendeine Art Nachricht von dem Duell zukommen zu lassen.

Während Müller in seinem geschmackvoll eingerichteten Studierzimmer saß und über Mittel und Wege nachdachte, die Nachricht nach Buchenau gelangen zu lassen, trat seine Schwester hastig ein.

»Paul — du willst dich duellieren?«

»Schrei nicht so, Hannchen! Übrigens, woher weißt du?«

»Überall erzählt man sich's — ich hab mich so geschämt —«

»Warum denn?«

»Nun ja — ein Duell ist doch etwas Auffallendes! Aber Reschen Bleier schwärmt nun für dich. Sie hatte eiskalte Hände und behauptete, sie zittere um — dein Leben!«

Ein Schauer rann Müller über den Rücken. »Sterben« —- ihn fror bei dem Gedanken. Auf einmal wandte er sich mit der Frage an seine Schwester, »kennst du Annedore Buchenau?«

»Natürlich kenn’ ich sie —'«

»Kanntest du sie heut Nachmittag nicht einmal besuchen?«

»Nein — warum denn?«

»Warum denn nicht?«

»Ich war noch nie dort. Aber was soll ich denn da?«

»Hannchen — hör’ mal zu — du sollst ihr von meinem Duell mit Frensen erzählen.«

»Ach nee, Paul — in der Stadt erzählen sie sich doch, sie hätte was mit ihm -—«

»Eben darum, Hannchen —«

»Ach —— du meinst, es wäre unsere Pflicht, es ihr schonend beizubringen?«

Und Hannchen Müller fiel Ihrem Bruder, gerührt von seiner wahrhaft großen Menschenliebe, um den Hals. Paul-Müller ertrug es, ohne mit der Wimper zu zucken, wilden Triumph im Herzen, daß er einen Lieblingswunsch seines Gegners so schnöde durchkreuzen konnte. Und ganz heimlich, ohne es sich selbst einzugestehen, hegte er eine unklare Hoffnung, daß Annedore Buchenau das Duell verhindern könne auf irgendeine Weise.

Hannchen Müller zog sich ihr neuestes Kleid an und setzte sich ihren überwältigenden Rosenknospenhut auf. Dann machte sie sich auf den Weg nach Buchenau — ganz erfüllt von ihrer Mission.

So langsam und zögernd sie auch ging — endlich stand sie doch vor der Tür des Hauses Buchenau.Zaghaft hob sie den schweren bronzenen Türklopfer, der hier noch immer die Stelle der elektrischen Klingel vertrat.

Sie hatte wahrhaftig Herzklopfen und hatte doch von der tragischen Schwere ihres Auftrages gar keine Ahnung.

Endlich, als Hannchen schon erleichtert aufatmete, und in der Annahme, daß niemand zu Hause sei, froh, ihres Auftrages ledig zu sein, wieder umkehren wollte, öffnete eine nette alte Frau die Haustür:

»Was wünschen Sie?«

»Fräulein Buchenau ist wohl nicht zu sprechen?«

»Dach — Fräuleinchen — wen darf ich melden?«

»Hannchen Müller ist mein Name.«

»Darf ich bitten?«

Durch das hallende, große Treppenhaus hinauf über die breite, teppichbelegte Stiege, an vielen weißen Türen mit blitzenden Messingklinken vorbei, führte Frau Nehren Hannchen Müller in Annedores Biedermeierstübchen.

»Bitte einen Augenblick Platz zu nehmen, ich rufe Fräulein Buchenau sofort.«

Hannchen Müller saß und sah sich staunend um. Was für ein sonderbares großes Haus, und nun hier das lustige, duftige Zimmer das so recht danach aussah, Glück einzufangen. Und sie saß nun hier und mußte erzählen, daß Dr. Frensen ein Duell haben würde. Dr. Frensen, von dem die Leute erzählten, daß er »etwas« mit der Annedore Buchenau hätte. Es war zum Weinen. Und faktisch kamen dem armen, bedrängten Hannchen Müller ein paar dicke, sentimentale Rührungstränen.

Just in diesem Augenblick trat Annedore ein, erstaunend über den sich ihr darbietenden Anblick.

»Fräulein Müller — was führt Sie zu mir — Sie meinen — kann ich Ihnen helfen? Ist Ihnen in unserem Wald etwas geschehen? Ich kann mir gar nicht denken, was Sie in meine Einsiedelei führt — nur hoffe ich, es ist kein Unglück die Veranlassung.«

»Doch — Fräulein Buchenau — das ist es ja eben! Ach Gott — ich weiß wirklich nicht, wie ich es anfangen soll.«

Annedore wurde langsam blaß — die Gewißheit, daß hier in der Gestalt des halbreifen Mädchens eine ernstliche Unglücksbotin vor ihr saß, legte sich beklemmend auf sie.

»Liebes Fräulein Müller — vor allen Dingen — wer schickt Sie?«

»Mein Bruder! Ach nein — niemand!«

Die Antwort machte nun Annedore um keinen Deut klüger. »Bitte, weinen Sie nicht mehr — haben Sie einen Auftrag?«

Und schluchzend antwortete Hannchen: »Das ist es eben!« Wieder stockte die Verständigung. Annedores Nervosität wurde immer unerträglicher.

»So kommen wir doch nicht weiter! Sagen Sie doch, bitte, endlich kurz und bündig, worum es sich handelt.«

»Ich — wollte Ihnen nur sagen — daß sich mein Bruder heut Abend um sechs Uhr mit Dr. Frensen auf Säbel duelliert!«

Langsam, wie vor etwas Entsetzlichem, wich Annedore vor Hannchen Müller zurück, kaum verständlich murmelte sie:

»Nein — nein!«

Und plötzlich aufschreiend sank sie zu Boden, rang die Hände und flüsterte von neuem: »Hilf Gott, hilf mir doch, lieber Gott.«

»Ratlos und hilflos saß Hannchen Müller wie erstarrt in ihrem Sessel. Wenn die da vor ihr nur aufhören wollte, so zu wimmern — das tat einem ja ordentlich mit weh — ob sie einmal hingehen und die Weinende streicheln durfte? Aber noch während Hannchen mit sich stritt, verstummte das verzweifelte Weinen Annedores plötzlich — hastig richtete sie sich auf und blickte die unglückliche Hiosbbotin aus blassem Gesicht mit großen Augen entsetzt an.

»Wer gab Ihnen diesen Auftrag — Fräulein Müller?«

»Einen eigentlichen Auftrag habe ich gar nicht —- nur mein Bruder meinte, es müßte Sie doch jemand schonend vorbereiten!«

»Das ist ja sehr freundlich von Ihnen gewesen. Kennen Sie den Grund des Duells?«

»Nein, ich fragte Paul darum, aber er antwortete mir: ›Darüber spricht man nicht!‹ Ich habe keine Ahnung.«

Das ist schrecklich — mein liebes Fräulein, — ich glaube, Sie haben kaum eine Ahnung, welche Schreckensbotschaft Sie überbrachten. — Ich danke Ihnen jedenfalls noch einmal.«

So interessant sich Hannchen Müller in ihrer Mission vorkam, und so gern sie noch blieb, sie fühlte auch, daß sie von Annedore verabschiedet wurde, und mit unklaren und doch recht unbehaglichen Gefühlen empfahl sie sich, um nun wieder zurück zur Stadt zu gehen.

Lange noch, nachdem ihr Besuch sie verlassen, stand Annedore an dem Fenster des kleinen altmodischen Zimmers. Plötzlich schlug die kleine Pendüle. Sechs dünnige zittrige Schläge waren es. Annedore fuhr auf und griff mit einem schluchzenden Laut jäh nach dem Halse, wie um jemand abzuschütteln der sie würgen wollte. Ihr verzerrtes Antlitz wurde noch einen Schein blasser, und ohne sich nur auch noch einen Augenblick zu besinnen, lief sie hinunter zum Stall und befahl das Anschirren ihres Selbstkutschierers.

Frau Nehren begegnete ihr auf dem Hof — als sie zitternd vor Ungeduld auf ihr Gefährt wartete.

»Um Gottes willen — Annedore — wie sehen Sie aus? Wo wollen Sie hin?«

»Es geschieht ein Unglück, Frau Nehren —- ich fühle es — Peter ist in Gefahr! Ich muß zu ihm!«

Damit schwang sie sich, wie sie ging und stand, auf den Wagen und, ehe Frau Nehren sich von ihrem Staunen erholt hatte, jagte das Gefährt aus dem Tor und auf der Waldstraße stadtwärts dahin.

Mancher der verspäteten Spaziergänger, der den schönen Abend noch draußen genießen wollte, begegnete dem Gefährt und sah ihm kopfschüttelnd nach.

Die Annedore Buchenau wurde doch immer exzentrischer.

Annedore lenkte mit fliegenden Pulsen ihren Traber — ihr Herzschlag jagte, und vor ihren Augen stand immer ein entsetzliches Bild. Peter, ihr Peter blutüberströmt zusammensinkend!

Zu immer größerer Eile trieb sie ihr Pferd. In einem Tempo, das alle Einwohner der Stadt erschrocken an die Fenster eilen ließ, jagte Annedore durch die Straßen, um mit einem Ruck vor Peters Haus zu halten.

Eilig sprang sie ab — führte den Wagen selbst nach dem Hof — strängte ihr Pferd ab — gab ihm Futter und zu saufen, dann erst betrat sie das Haus — eine ganz andere Annedore, als sie vor wenig Stunden noch war. Sie war sich voll bewußt ihrer Handlungen — aber weder das perfide, erstaunte Gesicht der Haushälterin Peters, noch die neugierigen Gesichter an den Fenstern gegenüber konnten sie irritieren. Sie wußte, wenn Peter heimkam, brauchte er sie, und alle kleinmütigen und kleinlichen Bedenken schwiegen.

Lange stand sie am Fenster in Peters Studierzimmer, mit brennenden Augen die Straße hinabschauend. Endlich nahte sich im Schneckentrab ein Wagen-.

Annedore preßte die Hände vor den Mund, um den todbangen Angstruf zu ersticken. Sie wollte, mußte tapfer sein, sonst hatte sie keine Berechtigung hier zu sein.

Der Wagen hielt langsam vor dem Haus — der Schlag öffnete sich — und mehr getragen von seinen Freunden als gehend erreichte Peter mühsam mit blassem, apathischem Gesicht sein Haustor.

Mit allem Willen, der in ihr war, machte sich Annedore selbst Mut, ehe sie ihrem armen Peter entgegenging. Im Flur traf sie mit den drei Herren zusammen. Betroffene Blicke seiner Begleiter empfingen Peters Braut. Sollte der Müller mit seiner Mutmaßung doch recht haben?

Die Begrüßung fiel sehr kühl aus. Annedore imponierte ihnen dann aber doch. Ruhig, mit einer erstaunlichen Umsicht gab sie er jammernden Haushälterin ein paar Befehle, die im Nu die ganze Verwirrung lösten.

Langsam wurde Peter in sein Schlafzimmer geführt. Ohne Prüderie, ohne an sich selbst zu denken, half Annedore den Verwundeten auskleiden und behutsam zu Bette bringen — ahnungslos, wie niedrig ihr die Selbstverständlichkeit ausgelegt wurde.

Peter hatte mit nichts weiter als mit einem herzzerreißenden Lächeln von Annedores Dasein Notiz genommen. Er war von dem starken Blutverlust und den Schmerzen zu sehr geschwächt, um ein lebhafteres Zeichen seiner Freude zu geben. Aber Annedore bemerkte doch, daß er ihr Dasein angenehm empfand, ja dankbar!

Ein paarmal streichelte sie schmeichelnd sein Haar, hauchte einen liebkosenden Kuß aus seine matten, blassen Hände. Die ganze Umwelt war für sie versunken. Nichts existierte als der liebe, arme Verwundete.

Sie hatte weder Sinn für die befremdenden Blicke der Herren oder die hämischen der Haushalterin. Sie verschaffte Peter jede Erleichterung und verabschiedete die Herren mit kurzem Dank, die sich rasch empfahlen, und nahm dann an dem Bett des Verwundeten Platz, den Kollegen Peters erwartend, den sie telephonisch um seinen Besuch gebeten hatte.

Endlich kam dieser. Seine Untersuchung war bald beendet. — Donnerwetter — ja — sein armer Kollege — war übel zugerichtet — aber wenn keine Komplikationen eintraten, dann würde ihn seine Bärennatur retten. Vor allen Dingen brauchte er Ruhe und durfte so wenig als möglich sprechen.

»Fräulein Buchenau —- ich weiß nicht, ob Sie der schweren Aufgabe, die Ihrer hier wartet voll gewachsen sein werden —- ich weiß auch nicht, ob sie Ihren trotzigen Mut, uns klatschsüchtigen Städtern die Stirn zu bieten, auf der Höhe halten können! Trotzdem muß ich Ihnen aber sagen, da es vielleicht doch klüger wäre, Ihren Platz einer Pflegerin abzutreten — zumal die Ursache des Duells kein Geheimnis blieb — wie Sie sich denken können!«

Was Annedore verführte, zu tun, als sei sie vollkommen unterrichtet, wußte sie im Augenblick selbst nicht zu sagen. Der Doktor ging jedenfalls in die Falle, und mit Keulenschlägen prasselte die Wahrheit aus Annedore nieder. Der Arzt glaubte, keinerlei Rücksicht mehr nehmen zu müssen.

»Ich finde es wirklich kühn von Ihnen als der stadtbekannten Ursache dieses unglückseligen Duells, hier in das Haus zu kommen — wollen Sie damit nun ostentativ Ihre Unschuld beweisen?«

Annedore trat stolz und verletzt zurück:

»Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, daß,Dr. Frensen mein Vormund, mein treuester Freund ist. Und einen Freund in der Not zu verlassen, finde ich niedrig und schlecht. Da dürfen nicht kleinliche Bedenken uns vom rechten Wege abhalten. Zu Ihrer und Ihrer Gesinnungsgenossen Beruhigung möchte ich Ihnen aber noch mitteilen, daß Dr. Frensen seit gestern mein Verlobter ist. Nun wird mir ja niemand mehr den Platz an seinem Lager streitig machen. Ich bin leider nicht in der glücklichen Lage, mich der schirmenden Begleitung meiner Eltern anzuvertrauen. Mein einziger Schutz, mein einziger Freund, der einzige Mensch, der sich um mich in all den Jahren bemühte — und sorgte, ist er. Nun werden Sie hoffentlich begreifen, daß mich kleinliche Bedenken irgendwelcher Art nicht von seinem Krankenbette führen können.«

»Mein liebes, hochverehrtes Fräulein Buchenau — ich stehe beschämt — Sie sind ein prachtvoller, tapferer Mensch, und fortan müssen Sie mir erlauben, zu Ihrer Fahne schwören zu dürfen? Seien Sie meiner Gedankenlosigkeit nicht gram. Der Mensch ist ein Herdentier — und wo einer Pereat oder Vivat schreit — schreien wir alle mit — nur nach eigener Überlegung zu handeln, brauchen wir immer erst einen starken Stoß. Schlagen Sie ein, Fräulein Buchenau. Und lassen Sie mich Ihnen treulich, zur Seite stehen, bis wir unseren prächtigen lieben Patienten, der schon eines Opfers wert ist, über den Berg haben.«

»Mit Freuden —- Herr Doktor!« Und Annedore schlug ehrlich und offen in die reumütig gebotene Hand ein. Nun bekam sie eine Menge Aufträge und Verordnungen, die sie sich gewissenhaft notierte, und erst spät am Abend verließ der Arzt das Doktorhaus.

Annedore versuchte telephonisch Verbindung mit Buchenau. Sie teilte der erschrockenen Frau Nehren mit, daß Peter krank sei, ihrer Hilfe bedürfe. Sie sollte ihr mit einem Knecht das Notwendigste an Wäsche und dergleichen in die Stadt schicken; denn ehe Dr. Frensen nicht über das Schlimmste fort war, würde Annedore um keinen Preis nach Buchenau zurückkommen.

In all der langen Zeit, die Annedore mit seinem Kollegen sprach und Befehle erteilte, lag Peter in seinem Schlafzimmer und starrte trübselig zu der mit Rosen und Amoretten bemalten Decke.

Wenn er auch außerstande war, sich selbst zu behandeln, so konnte er sich doch die Diagnose selbst stellen. Es stand ziemlich ernst um ihn, Assessor Müller hatte sich für seine Ohrfeige gründlich revanchiert.

Daß die Sekundanten sich nachträglich darüber einig wurden, daß Müller sich nicht ganz ordnungsmäßig geschlagen hatte —- machte seine Wunde nicht wieder heil. Es schürte höchstens seinen Grimm, daß er als anständiger Mensch, er für eine gerechte Sache gekämpft hatte, durch eine Gemeinheit erledigt wurde. Außerdem bekümmerte es ihn tief, daß die ganze Sache durch Müllers Vorgehen wohl nach ein Nachspiel haben mußte, das den Grund des Duells an den Tag bringen und Annedores Name nun doch noch durch den ganzen Schmutz eines öffentlichen Skandals geschleift werden würde.

Peter lag unbeweglich, während seine Gedanken fieberhaft arbeiteten. Er war so zerrissen von den letzten Erlebnissen, daß er nicht wußte, sollte er Annedore für ihr Kommen danken, sollte er dem großartigen Leichtsinn, mit dem sie sich dem dummen Gerede preisgab, zürnen? Woher wußte sie überhaupt von seinem Unglück? Wer hatte ihm das angetan, sie zu benachrichtigen? Die Frage war so quälend, so brennend, daß sie nach Worten rang.

»Woher mußtest du darum — Annedore?« Leise und ohne sich zu rühren stellte er die Frage. Annedore, die träumend am Bett gesessen hatte, schrak leise zusammen. Schlief er denn nicht? Sprach er aus Fieberträumen?

»Schläfst du denn nicht, Liebster? Der Arzt hat mir gesagt, daß du möglichst wenig sprechen sollst und dich ja nicht aufregen darfst. Du wirst selbst wissen, wie es um dich steht. Am liebsten spräche mit dir gar nicht von der Sache — aber ich fürchte, du regst dich dann noch mehr auf mit allerlei quälenden Fragen — deshalb will ich dir Punkt um Punkt erzählen, was ich in den letzten Stunden erlebt habe. Du mußt mir aber versprechen Peter, dich nicht aufzuregen — mir zuliebe — ja?«

Peter lag still und flach aus dem Rücken, mit großer Energie unterdrückte er all die heftigen Äußerungen, die ihm die schier unglaubliche Erzählung Annedores « erpressen wollte.

Viel hatte er nie von dem Assessor Müller gehalten, aber daß er so wenig ehrenhaft war, hatte er doch nicht vermutet.

Annedore, seine kleine, tapfere Annedore tat ihm, innig leid. Wieder und immer wieder streichelte er mit seiner matten, erschlafften Hand die ihre, und diese stille schöne Liebkosung sagte ihr mehr, als tausend Worte es vermocht hätten. — — —

Die Duellaffäre hatte natürlich in dem kleinen Städtchen alles gewaltig in Aufruhr gebracht. Die unerhörtesten Gerüchte liefen von Haus zu Haus, Bei den meisten Menschen feierte Müller Triumphe. Er war der Held des Tages. Nur wenige sprachen für Dr. Frensen, denn er hielt es in seiner vornehmen Natur für vollkommen überflüssig, Proselyten für sich zu machen, und seine schwere Verwundung legte ihn sowieso lahm. Da hatte Assessor Müller, der mit schönen Redensarten von Haus zu Haus zog, freies Feld — und bald genug war er auch Herr der Situation. Redereien von »Gottesgericht« und Annedores unbekümmerte Anwesenheit im Doktorhaus waren das Feld, das Müller eifrig bearbeitete.

Es fanden sich sehr wenig Menschen, die es von Annedore nicht schamlos fanden, ihren kranken Verlobten zu pflegen. Man skandalisierte gedankenlos über ihre Anwesenheit, und die Ehrenrettung, die der Peter behandelnde Arzt für Annedore vom Stapel ließ, fand eine einmütige Ablehnung. Das Fräulein Buchenau hatte dem alten Junggesellen eben auch den Kopf verdreht.

So stand es um die Stimmung in der Stadt, als Annedore nach vielen schweren Tagen das erste mal wieder durch die Straßen ging. Annedore war in den Augen der meisten eine Verworfene, und Dr. Frensen, tat jedem einzelnen leid, weil er sich für ihre Sache geschlagen hatte.

Annedore machte die Luft, die sie so lange entbehrt hatte, ganz schwindlig. Es wurde ihr so selig müde zu Sinn. Wie träumend schritt sie durch die Straßen. Sie sah nicht, wenn zwei, die ihr begegneten, einander aufmerksam machend, sich anstießen — sah das hämische, abtuend wissende Lächeln auf so manchem Gesicht nicht.

Erst eine Begegnung mit Hannchen Müller riß sie aus ihren Gedanken. An einer Straßenecke stieß sie unvermutet mit dem jungen Mädchen zusammen. Sie grüßte Fräulein Müller artig und höflich. Was konnte das dumme, kleine Mädel schließlich dafür, daß sie einen so bösen Bruder hatte! Hannchen Müller war durch Annedores Gruß in tödlicher Verlegenheit. Von allen Fenstern konnte sie beobachtet werden. In ihrer Angst tat sie, als sähe sie Annedore nicht.

Heiße Röte zorniger Ungeduld trat in Annedores Gesicht. Energisch vertrat sie dem dummen Mädel den Weg. »Guten Tag, Fräulein Müller — Sie haben mich wohl nicht gesehen?«

»Doch —«

Das Wort zurückzuhalten war zu spät.

»Sie wollten mich nicht sehen —- darf ich fragen warum sie sich so — unerklärlich benehmen?«

»Gott — Fräulein Buchenau — mir ist das wirklich peinlich, kein Mensch würde mit Ihnen sprechen.«

»Und warum nicht, wenn ich bitten darf?«

»Weil — weil —- nun eben weil Sie bei Dr. Frensen sind.«

Annedore erblaßte tief — und gab dem verzweifelt und ängstlich um ich blickenden Hannchen Müller den Weg frei.

Mit beschleunigten Schritten eilte diese davon. Annedore blieb noch lange wie angewurzelt am selben Fleck stehen. Etwas unglaublich Häßliches war jetzt an sie herangekrochen. Hilflos stand sie all den dummen Gedanken gegenüber, die auf sie einstürmten.

Und dann kam wie ein ganz starkes Heimweh die Sehnsucht nach Peter über sie. Trotzdem sie höchstens eine Viertelstunde von Hause fort war, kehrte sie um und eilte zu Peter heim. Wie Nadelstiche fühlte sie, nun sehend geworden, all die bösen, hämischen und verächtlichen Blicke. Das kleine Stückchen Weg zurück war für Annedore schlimmer als Spießruten laufen.

Blaß und außer sich kam sie im Doktorhause an. Peter war sehr erstaunt, daß sie schon zurück war. Annedore nahm ich krampfhaft zusammen, um ihn nichts von ihrer Unruhe merken zu lassen.

Peter bemerkte aber sofort, daß Annedore irgend etwas mit sich herumtrug. Eine ganze Weile ließ er ihr Zeit, dann zog er sie an der Hand an seine Seite und fragte sie ruhig:

»Na — Annedore — kein Vertrauen zu mir?«

»Aber Peter — wie kommst du auf die Frage?«

»Weil ich dir anmerke, Liebling, daß dich etwas bewegt — und doch findest du keinen Mut, mir’s anzuvertrauen.«

»Peter — nein, das darfst du nun wirklich nicht sagen! Gern, nur zu gern möchte ich es von der Seele haben!«

»Dann sprich doch, mein Liebling, vielleicht kann ich dir helfen?«

»Wenn ein Mensch auf der Welt, dann nur du, Peter.«

»Annedore, du bist ja ganz außer dir, du zitterst ja am ganzen Körper. Nur,ruhig, mein armes Vögelchen!«

»Ach Peter —- Peter!«

Und trotz aller Gegenwehr weinte Annedore bittere Tränen. Peter gönnte ihr die Wohltat der Tränenflut und wartete geduldig, bis sie sich wieder gefaßt und beruhigt hatte.

»Was ist nun, meine kleine Annedore?«

Und unter Schluchzen und Erröten erzählte Annedore von ihrer Begegnung mit Hannchen Müller.

Peter war im Innersten getroffen. Leise streichelte er Annedores Haar, und endlich war er Herr seiner Erregung und konnte die ganze Angelegenheit so überlegen behandeln, wie es für Annedore jetzt notwendig war:

»Weißt du, die Familie Müller fängt an, mir fürchterlich zu werden. Das Duell hätte ich mir so nun eigentlich sparen,können. Die dummen Menschen hier lassen sich, scheint es, um keinen Preis überzeugen, was du für ein lieber, kleiner Prachtkerl bist.«

»Peter, ich bin so so außer mir —- mache mir solche Vorwürfe! Ich hätte doch wissen müssen, in welch schiefen Lage ich dich und mich brachte!«

»Nein, das konntest du mit deinem goldenen, reinen Sinn nicht wissen. Und nun paß mal auf, Kleines, ich habe eine herrliche Idee!«

»Ja, Peter?«

»Wir heiraten sofort!«

»Das geht aber doch nicht so geschwind, wie du denkst!«

»Doch Annedore, sehr geschwind. Ich bestelle sofort das Aufgebot. In wenig Wochen können wir heiraten. Du bleibst so lange ruhig in Buchenau. Ganz in aller Stille lassen wir uns dann trauen, und wenn wir schon auf der Hochzeitsreise sind, erfahren die niederen Krähwinkler eines Morgens durch die Annonce in der Zeitung, daß unsere Trauung stattgefunden hat. Und wenn wir dann heimkehren von unserer Reise ins Wunderland — du liebe, süße Frau — stürzen wir uns kopfüber in unsere Aufgabe, Buchenau zum Waldsanatorium zu machen.«

Peter hatte Annedore bei diesen Worten fest im Arm gehalten und sie leicht hin und her gewiegt, wie tröstende Mütter mit ihren Kindern tun. Jetzt sah ihn Annedore halb zagend, halb hoffend an:

»Damit wir aber das Gerede nicht totgemacht, Peter!«

Peter sah sie aus seinen guten-Augen treu und überzeugend an. »Nein — Annedore — das können wir leider mit nichts, mit gar nichts entkräften — aber wir wallen ihnen zeigen, den dummen Krähwinklern, daß wir hoch über ihrem gemeinen Gerede stehen. Du und ich wir wissen, wie unrecht sie uns damit tun, und in dieser Gewißheit ruht unsere Kraft, unsere Überlegenheit. Du wirst meine tapfere Annedore sein, und wir werden sie eines Tages doch so weit haben, daß sie sich ihrer eigen Verleumdung schämen. Kopf hoch, Annedore — und klaren Auges geradeaus! Wir gehen Hand in Hand!«

Alles geschah dann genau, wie Peter Frensen wollte. Und wer Annedore und Peter begegnete, dem wurde es unabweisbar klar: das waren strahlend glückliche Menschen, diese zwei Verfemten!

Dann, als Krähwinkel mit Klatsch kein Unglück mehr anrichten konnte, denn Peter hatte sich eisern in er Gewalt und verlachte ganz einfach die dummen Redereien, da wurden er und Annedore boykottiert.

Auch das sah sich Peter lachend an — er baute auf seine Kraft, baute auf sein Können — als Arzt wurde er in den ernsten Fällen doch immer gerufen, aber gesellschaftlich war er verpönt.

Damit meinte Krähwinkel Peter fürchterlich zu strafen, und sie ärgerten sich über sein strahlend glückliches Gesicht, mit dem er täglich hinaus nach Buchenau fuhr. Es war Ihm anzusehen, daß die vermeintliche Strafe ihm eher eine Herzenswohltat war.

Und dann waren Annedore und Peter plötzlich abgereist — ganz frei und offen vor aller Leute Augen! Das war denn doch — — — Und Krähwinkel wollte sich gerade wieder sittlich entrüsten und einen neuen Skandal in die Welt — in ihre Welt — setzen —, da flatterten die Morgenblätter in die Häuser, und Klatsch und Entrüstung schwiegen verblüfft:

»Ihre Vermählung beehren sich anzuzeigen

Dr. Peter Frensen und Frau

Annedore, geb. Buchenau.«

So stand in der Zeitung.

Als dann nach vielen Wochen die beiden Glücklichen heimkehrten von ihrer Hochzeitsreise, begannen sie mit dem Umbau Buchenaus. Um Krähwinkel kümmerten sie sich überhaupt nicht mehr.

Ein Heer von Handwerkern verwirklichte ihre Pläne. In unglaublich kurzer Zeit war der letzte Hammerschlag getan und über dem einfachen Tor prangte in goldenen Lettern: »Sanatorium Buchenau.

Schneller als es Peter in kühnsten Träumen erhofft hatte, bekam Buchenau einen Weltruf. Und von nah und fern kamen die Patienten, um sich von Dr. Frensen kurieren und von seiner reizenden Frau Sonne in die Herzen zaubern zu lassen. Und Krähwinkel profitierte von dem Glanz. Die Geschäfte hoben sich, und Peter Frensen, der Vielgeschmähte, wurde zum »Wohtäter der Menschheit«, wie ihn in einer Gemeindesitzung ein ganz besonders reumütiger Vater der Stadt nannte, damit das Signal zu einem offiziellen Bedauern der strengen Maßnahmen gegen Dr. Frensen und seine »reizende« Frau gebend. So hoch verstiegen sie sich in Krähwinkel wahrhaftig!

Die Freude bei Peter und Annedore über die reuigen Sünder war nicht so groß, als diese sich eingebildet hatten. Sie kehrten eigentlich alle mit ein wenig unbehaglichen Gefühlen von ihren Bußgängen heim.

Aus Buchenau aber reichten sich zwei Menschen mit glückstrunkenen Augen die Hände. Peter hatte recht behalten Krähwinkel schämte sich!

Im Lauf der langen Zeit war das alles für sie beide so unwichtig geworden, daß sie höchstens noch ein kleines, spöttisches Lächeln gefunden hatten.

Innerlich und äußerlich waren sie längst unabhängig von Krähwinkler Beschlüssen.

Das Glück wohnte in Buchenau, und Peter und Annedore schenkten es sich gegenseitig täglich, stündlich aufs neue.

Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil II)

Подняться наверх