Читать книгу Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil II) - Hedwig Courths-Mahler - Страница 6

Der tolle Hassberg

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Inhaltsverzeichnis

Regina Baldus erhob sich von ihrem Schreibtisch. Durch das offene Fenster erklang von fern Musik – ein Reitermarsch. Sie wusste, gleich würde das Kavallerie-Regiment, das in ihrer Vaterstadt stationiert war, an der Villa Baldus vorüberreiten.

Das war eigentlich nichts Neues für Regina. Aber sie trat doch stets verstohlen ans Fenster und sah hinaus auf die kraftvollen Reitergestalten, die so schneidig im Sattel saßen. Und immer dachte sie dann an den einen, der nicht mehr zu diesen Reitern gehörte, der fern der Heimat, in Südwestafrika den Soldatenrock trug und von dem man nichts mehr gehört hatte, seit er vor zwei Jahren abgereist war.

Eine Weile war in der Gesellschaft noch von ihm gesprochen worden. „Der tolle Haßberg“, wie er allgemein hieß, hatte so viel von sich reden gemacht, dass das Interesse für ihn nicht gleich erlosch. Aber nun, da man nichts mehr von ihm sah und hörte, war das Interesse für ihn doch eingeschlafen, und nur ab und zu tauchte die Erinnerung an einen seiner tollen Streiche auf.

Aber Regina Baldus hatte ihn nicht vergessen.

Nun war die bunte Schar vorbei. Langsam verklang die Musik. Es wurde wieder still in der vornehmen Straße.

Regina ging an den Schreibtisch zurück.

Sie war die einzige Erbin ihres vor mehr als Jahresfrist verstorbenen Vaters, des Kommerzienrats Baldus. Draußen vor der Stadt standen die von ihm ins Leben gerufenen Fabriken, umgeben von den freundlichen Wohnhäusern, die er seinen Arbeitern gebaut hatte. Das alles war längst in ein großes Aktienunternehmen verwandelt. Als Hauptaktionär hatte er den größten Teil seines Vermögens in dem Unternehmen stecken lassen. Regina Baldus galt als eine der reichsten Erbinnen in der an vermögenden Leuten reichen Stadt. War sie schon zu Lebzeiten ihres Vaters viel umworben gewesen, so war sie es jetzt noch mehr.

Seit einigen Wochen wurden in der Villa Baldus wieder Besuche angenommen. Regina hatte den größten Teil des Trauerjahres auf Reisen zugebracht, begleitet von Frau Therese Ruthart, der Schwester ihrer früh verstorbenen Mutter, die seit dem Tod ihres Gatten, dem Kommerzienrat Baldus die Hausfrau und seiner Tochter die Mutter ersetzt hatte.

Seit Reginas Rückkehr galt der Donnerstag wieder als fester Empfangstag in der Villa Baldus. Diese Nachricht war mit Freuden aufgenommen worden. Gleich am ersten Donnerstag war Reginas Haus voller Gäste gewesen.

Sie pflegte zeitig am Morgen aufzustehen. Früher war sie gleich nach dem Frühstück mit ihrem Vater ausgeritten, meist in Gesellschaft des Konsuls Werner, eines Freundes ihres Vaters, und dessen Tochter Gerta. Mit Gerta Werner war Regina sehr befreundet; seit ihrer Rückkehr von der Reise hatte sie sich Gerta und ihrem Vater auf deren regelmäßigen Morgenritten wieder angeschlossen.

Kam Regina von diesem Ritt zurück, so kleidete sie sich um und arbeitete ununterbrochen bis Mittag. Nach Tisch pflegte sie ein gutes Buch zu lesen. Danach trieb sie einige Stunden Sport und Musik.

So waren ihre Tage ausgefüllt, und sie hatte nie über Langeweile zu klagen.

An Bewerbern hatte es Regina nicht gefehlt, sie hatte schon manchen Korb ausgeteilt. Aber obgleich sie nie jemand ermutigte, kamen doch immer wieder neue Freier.

Auch jetzt, nachdem Regina unverlobt von ihrer Reise zurückgekehrt war, bezeichnete man wieder mehrere junge Herren als ihre ernsten Bewerber. Unter ihnen war einer, den Regina schon wiederholt abgewiesen, der aber trotzdem die Hoffnung, sie zu erringen, noch nicht aufgegeben hatte.

Das war Heinz von Tondern.

Sein Vater besaß große Maschinenfabriken. Heinz von Tondern hatte einige Jahre als Offizier in dem Reiterregiment gedient, das in seiner Vaterstadt stationiert war. Dann hatte er den Abschied genommen und war auf Wunsch des Vaters in den Fabrikbetrieb eingetreten. Sowohl sein Vater wie der Reginas hätten es gern gesehen, wenn ihre beiden Kinder eine Verbindung fürs Leben geschlossen hätten. Und Heinz von Tonderns Mutter hatte es für ganz unmöglich gehalten, dass eine junge Dame, die ihr Heinz zur Frau begehrte, „nein“ sagen könnte. Aber Regina Baldus hatte „nein“ gesagt, als Heinz, trotz ihres ablehnenden Verhaltens, um sie anhielt. Seit dieser Zeit grollte ihr Frau von Tondern.

Reginas Vater war ebenfalls unangenehm überrascht, als Regina den jungen Tondern abwies. Er hatte wenig Zeit gehabt, sich um das Seelenleben seiner Tochter zu kümmern. Ihre Erziehung hatte er seiner Schwägerin Therese überlassen und sich darauf beschränkt, Regina in geschäftlicher Beziehung selbstständig zu machen.

Reginas Vater forschte auch nicht weiter, warum sie Tondern und viele andere Freier zurückwies. Er sagte sich: „Wozu habe ich gearbeitet und Reichtümer erworben, wenn ich damit meinem einzigen Kind nicht die Möglichkeit verschaffen kann, sich sein Leben nach seinen Wünschen zu gestalten? Meine Tochter kann sich einen Mann nach ihrem Herzen wählen oder unverheiratet bleiben, wenn sie es will. Sie soll ein freier Mensch sein.“

Und ruhig ließ er Regina ihres Weges gehen, überzeugt, dass sie, wenn sie einmal wählte, eine würdige Wahl treffen würde.

Ob er wohl auch so ruhig geblieben wäre, wenn er geahnt hätte, wohin die Herzenswünsche seiner Tochter flogen?

Der „tolle Haßberg“, das war einer, vor dem die Väter ihre Töchter und die Männer ihre Frauen hüteten, den man aber doch überall empfing, weil er der feudalste unter allen Offizieren des Regiments war. Kommerzienrat Baldus hatte sogar eine kleine Schwäche für ihn. Er sah mit seinen scharfen Augen den Menschen tiefer ins Herz als andere Leute, und er hatte unter Haßbergs Wildheit und Übermut etwas entdeckt, „um das es schade“ war, wie er sagte.

Vor zwei Jahren war Hans von Haßberg ohne lange Vorbereitung nach Südwest gegangen. Warum er das getan hatte, darüber waren die Meinungen verschieden. Die einen meinten, sein unersättlicher Tatendurst habe ihn davongetrieben, die anderen behaupten, einer seiner tollen Streiche habe ihn im Regiment unmöglich gemacht, wieder andere wollten wissen, er habe schuldenhalber die Stadt verlassen müssen.

Seine Kameraden behaupteten jedoch, er habe alle seine Schulden vor seiner Abreise bezahlt. Wenn er auch ein wilder übermütiger Draufgänger gewesen, so habe er sich doch nichts zuschulden kommen lassen, was ihn unmöglich gemacht hätte. Woher er aber das Geld genommen hatte, um seine Schulden zu begleichen, das wussten auch die Kameraden nicht. Sein Vermögen hatte er vollständig aufgebraucht, ehe er Schulden machte, und man wusste, dass er von keiner Seite etwas zu erwarten hatte.

Einer wusste es freilich ganz genau, woher Haßberg das Geld hatte – dieser hütete sich aber, es zu verraten. Und dieser „eine“ war Heinz von Tondern.

Er allein hatte mit eifersüchtigen Augen gemerkt, dass Regina Baldus für den Haßberg mehr übrig habe als für jeden anderen. Und deshalb hatte sich Heinz besonders an Haßberg angeschlossen, um ihn im Auge zu behalten. Er spielte sich als Haßbergs Freund auf. Das hinderte ihn jedoch nicht, Regina und ihrem Vater alle Torheiten zuzutragen, die Haßberg anstellte, und das meistens in entstellter Weise.

Und so kam es schließlich auch zur Katastrophe. Einer von Haßbergs Gläubigern, der wohl irgendeinen Groll auf ihn haben musste, wie Haßberg glaubte, hatte alle Forderungen an ihn aufgekauft und drang nun unerbittlich auf Zahlung. Als sie nicht erfolgte, wandte er sich an den Obersten des Regiments. Dieser musste den jungen Offizier vor die Alternative stellen, entweder seine Schulden zu bezahlen oder den Dienst zu quittieren.

Haßberg war nun doch erschrocken.

In Gedanken versunken war Haßberg nach Hause gegangen. Als er seine Wohnung betrat, fand er Heinz von Tondern vor.

Haßberg entging es, dass Tondern ihn insgeheim scharf beobachtete. Er hatte ja keine Ahnung, dass Tondern hinter dem Geldmann steckte, der seine Schuldscheine aufgekauft und dass er es Tondern zu verdanken hatte, wenn er jetzt vor ein Entweder – Oder gestellt war.

Offen und herzlich begrüßte er den vermeintlichen Freund und erzählte ihm rückhaltlos, in welcher Klemme er sich befand und dass der Oberst ihm geraten hatte, nach Südwest zu gehen.

„Manchmal habe ich auch schon daran gedacht. In den Kolonien wärst du am rechten Platz, Hans. Solche Männer wie dich können sie da brauchen.“

„Ja, ja, Heinz, ich würde auch auf der Stelle gehen. Aber da ist dieser Manichäer, der sich so liebevoll bemüht hat, meine Schuldscheine aufzukaufen, um mir ein Bein zu stellen. Ich weiß nicht, was ich dem elenden Krämer getan habe. Vielleicht besitzt er eine hübsche Frau oder eine hübsche Tochter, die ich mal angelächelt habe. Persönlich kenne ich die edle Seele nicht, die es sich dreißigtausend Mark kosten lässt, mich über die Klinge springen zu lassen. So hoch belaufen sich nämlich meine Schulden – das läppert sich zusammen, man weiß nicht wie. Natürlich wird der edle Menschenfreund mich nicht ohne weiteres ziehen lassen.“

„Sonst würdest du nach Südwest gehen?“, fragte Tondern lauernd.

Haßberg nickte. „Würde ich!“

Tondern richtete sich hastig auf. „Lieber Hans, ich werde deinen Gläubiger bezahlen, damit du ungehindert nach Südwest gehen kannst.“

Haßberg sah ihn verblüfft an und lachte wie über einen guten Witz. „Lieber Heinz, du hast wohl nicht gehört, dass meine Schulden sich auf dreißigtausend Mark belaufen?“

„Doch, das habe ich gehört.“

„Und diese Summe wolltest du mir leihen?“

„Jawohl, vorausgesetzt, dass du nach Südwest gehst.“

Haßberg sah ihn mit erstaunten Augen an. „Hast du ein besonderes Interesse daran, dass ich nach Südwest gehe?“, fragte er langsam.

Tondern holte tief Atem. „Ja.“

„Und welches?“

Einen Moment zögerte Tondern. Dann sagte er: „Lieber Hans, ich sehe schon, dass ich am besten tue, offen mit dir zu reden. Also: Ich liebe eine junge Dame und habe bemerkt, dass sie auf dem besten Weg ist, ihr Herz an dich zu verlieren. Kämst du ihr aber aus den Augen, dann würde sie dich gewiss bald vergessen, und mir würde es leicht sein, ihr Jawort zu erringen.“

In Haßbergs Gesicht ging eine seltsame Veränderung vor. Seine Züge wurden hart, und die Augen funkelten wie geschliffener Stahl. Eine Weile starrte er Tondern sprachlos an.

Dann lachte er plötzlich auf: „Ach so! Das ist des Pudels Kern! Und ich dachte einen Moment ernstlich, du wolltest mir dein Anerbieten aus Freundschaft machen.“

Tondern zuckte die Achseln. „Jeder ist sich selbst der Nächste.“

Wieder lachte Haßberg schneidend auf. „Natürlich. Und welche Sicherheit verlangst du, dass ich auch wirklich reise?“

„Du brauchst mir nur dein Ehrenwort zu geben, dass du sofort die Vorbereitungen zu deiner Abreise triffst und nicht vor – nun, sagen wir – nicht vor zwei Jahren hierher zurückkehrst. Dafür stelle ich es deinem Ermessen anheim, ob und wann du mir das Geld zurückzahlen willst.“

Haßberg atmete schwer, um seinen Mund grub sich ein bitterer Zug. Mit einem Blick, der Tondern das Blut in die Stirn trieb, sagte er langsam, jedes Wort betonend: „Jetzt erkenne ich zum ersten Mal klar und deutlich, wohin mein wildes Leben mich geführt hat. Der Ekel vor mir selbst könnte mich packen, dass ich dieses Anerbieten von dir annehmen muss. Aber ich habe mir das Recht zu solchen Luxusgefühlen verscherzt. Ich gehe also auf dein Anerbieten ein. Aber eine Bedingung stelle ich noch.“

„Nenne sie.“

Haßberg sah Tondern scharf an. „Ich will den Namen der Dame wissen, um deretwillen du mich forthaben willst.“

Unsicher blickte Tondern auf. „Und wenn ich ihn dir nenne – wer bürgt mir dafür, dass du dann nicht zu ihr gehst und sie um ihre Hand bittest?“

Haßberg sah ihn an, als sähe er ihn heute zum ersten Mal. Die Adern an seiner Stirn schwollen an. „Ich bürge dir dafür! Wenn ich auch der tolle Haßberg heiße, einer niedrigen Handlungsweise hat mich noch nie ein Mensch zeihen dürfen.“

„Warum willst du den Namen wissen?“

„Aus Neugier – nur aus Neugier. Ich möchte doch wissen, ob diese Dame ein so großes Opfer deinerseits wert ist.“

„Und du gibst mir dein Wort, dass der Name unter uns bleibt?“

„Das brauche ich nicht erst zu geben. Ich stelle keine Dame bloß.“

„Nun denn – es ist Regina Baldus“, sagte Tondern heiser.

Einen Moment zuckte Haßberg betroffen zusammen. Seine Augen sahen starr ins Leere, als suchten sie da etwas. Da sah er ein Bild vor sich – Regina Baldus, wie er sie zuerst gesehen hatte.

Ganz klar stand das Bild in seiner Erinnerung. Als er, um den ersten Besuch in Villa Baldus zu machen, dort durch den Garten ging, sah er ein junges, schlankes Geschöpf in weißem Kleid vor einer Taxushecke stehen. Das braune, gelockte Haar, das die weiße Stirn umgab, glänzte im Sonnenlicht und hob sich ganz eigenartig von dem dunklen Grün ab. Große Augen sahen ihn aus dem fein geschnittenen Gesicht mit einem so unschuldigen Vertrauen an, wie sonst die Menschen nicht auf den tollen Haßberg blickten.

Wie seltsam, dass dieses Bild jetzt so deutlich in seiner Erinnerung auftauchte!

Später hatte er Regina Baldus noch oft gesehen. Aus dem Backfisch war eine junge Dame geworden, die nicht minder schön und anmutig war. Aber trotzdem hatte er ihr nie viel Beachtung geschenkt. Wenn er mit ihr zusammentraf, sah sie ihn nicht mehr so vertrauend an. In ihren Augen lag es immer wie eine ernste Mahnung, die ihn irritierte. Er hatte stets das unbehagliche Gefühl, als wolle sie mit dieser Mahnung in die Tiefen seiner Seele dringen. Das war ihm unbehaglich gewesen – so, als übe sie im Stillen scharfe Kritik an seinem Tun.

Wo er konnte, war er ihr ausgewichen, und voll Übermut hatte er sie im stillen „die kritische Regina“ genannt. Ganz bestimmt hatte er geglaubt, dass sie sich im Stillen vor seiner „Verworfenheit“ bekreuzige und ihn zu den verlorenen Schafen rechne.

Und nun erfuhr er plötzlich von Tondern, dass die „kritische Regina“ auf dem besten Weg sein sollte, ihr Herz an ihn zu verlieren.

Wie seltsam! War es möglich, dass es noch Frauen gab, die ihre Liebe scheu verbargen und sie still und verschwiegen im Herzen trugen? Wie begehrlich hatten andere Frauen ihn angesehen, die ihn zu lieben vorgaben. Und diese eine sollte es ihm so gut verborgen haben, dass er nichts, gar nichts gemerkt hatte?

Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube, du hättest dir die dreißigtausend Mark sparen können. Fräulein Baldus hat mich immer nur mit großer Reserve behandelt.“

Tondern zuckte die Achseln. „Es ist ja möglich, dass ich mich täusche, aber Eifersucht macht scharfe Augen. Kurz und gut, ich habe das bestimmte Gefühl, als seiest du meinen Absichten hinderlich.“

Mit einem Ruck richtete sich Haßberg da auf und lachte ironisch. „Nun gut, gehen wir darüber hinweg. Du wärst aber auch vor mir sicher gewesen, wenn ich geblieben wäre. Diese junge Dame ist nicht mein Geschmack. Sie ist mir zu ernsthaft. Und Frauen, die ich ernst nehmen muss, sind mir lästig.“

Tondern zwang sich zu einem leichten Ton. „Ei, wenn das die schöne Frau Melanie von Hausen hörte!“

Mit einer raschen Bewegung wandte sich Haßberg ab. „Es ist nicht ritterlich, den Namen einer Frau zu nennen.“

„Ich weiß schon lange, dass Herr Justizrat von Hausen eifersüchtig auf dich ist und dass seine schöne Frau ihm Veranlassung dazu gibt. Warum heirate er als Sechzigjähriger eine Frau von zweiundzwanzig Jahren!“

Sonst hatte Haßberg stets in diesen Ton miteingestimmt. Heute missfiel er ihm sehr, zumal der etwas heftige Flirt mit Melanie von Hausen ihm bereits lästig geworden war.

„Lass das, wir wollen unser ’Geschäft’ abschließen“, sagte er hastig. Und er dachte dabei, dass es ganz gut sei, wenn er Frau von Hausen jetzt aus den Augen käme; die leidenschaftliche Frau brachte sich sonst noch um ihren Ruf.

Die beiden Herren erledigten nun schnell die geschäftlichen Formalitäten, dann verabschiedete sich Tondern.

Wie sonst reichten sie sich die Hände, aber Haßberg gab die Tonderns ohne den sonstigen warmen Druck frei. Seit dieser Stunde sah er in ihm nicht mehr den guten Freund, den er bisher in ihm erblickt hatte.

Mit finster gefurchter Stirn starrte er Tondern nach. Dann ging er im Zimmer auf und ab. Seine Gedanken suchten Regina Baldus. Er sah sie im Geist vor sich, und ihm war, als sähe sie ihn mit ihren großen Augen ernst und traurig an. Ja, traurig war ihr Blick gewesen, wenn sie ihn ansah, jetzt wusste er es mit einem Mal – nicht kritisch und forschend, sondern traurig und mahnend. Aber nach kurzer Zeit warf er den Kopf zurück.

Fort mit diesem Bild! Was sollte ihm das?

Und kurze Zeit darauf sprach man in der ganzen Stadt davon, dass der tolle Haßberg nach Südwest gegangen sei.

Regina Baldus erfuhr es erst, als er schon abgereist war. Was sie bei dieser Nachricht empfunden hatte, erfuhr nie ein Mensch. In Gesellschaft sprach man davon, und Heinz von Tondern beobachtete sie scharf, ohne dass sie es ahnte. Er allein hatte bemerkt, wie Regina sich verfärbte, wie sie zusammenzuckte. Da war er doppelt froh gewesen, dass der gefürchtete Rivale aus dem Feld geräumt war.

Aber erreicht hatte er damit nichts. Reginas Liebe war nicht daran gestorben, dass ihr Tondern allerlei Schlimmes über Haßberg zutrug und dass sie auch von anderer Seite tolle Geschichten über ihn hörte. Diese Liebe starb auch nicht in den Jahren, da er in Südwest weilte.

***

Heute war Reginas Empfangstag besonders gut besucht. Als erster Gast stellte sich, wie fast immer, Heinz von Tondern ein. Er war ein hübscher, schlanker Mensch. Seine Züge waren gut geschnitten, aber ziemlich unbedeutend, und in seinen dunklen Augen lag ein flackerndes Feuer, zumal wenn sie auf Regina Baldus ruhten.

Heute war sein Blick besonders unsicher, in seinem ganzen Wesen verriet sich eine mühsam gedämpfte Unruhe.

Frau Therese Ruthart begrüßte ihn herzlich. Er war ihr ausgesprochener Günstling, und sie hatte wie er die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass aus ihm und Regina ein Paar würde. Wenn sie es irgend einrichten konnte, gab sie Tondern Gelegenheit zu einem kurzen Alleinsein mit Regina. Auch heute verschwand sie unter einem Vorwand kurz nach seinem Eintreffen aus dem Empfangszimmer. Regina musste zu ihrem Leidwesen mit ihm allein bleiben.

Heute begnügte sich Tondern nicht damit, Regina bittend anzusehen und ihr mit leisen Andeutungen seine Gefühle zu verraten. Sobald Frau Ruthart das Zimmer verlassen hatte, trat er an Regina heran, sah ihr flehend in die Augen und sagte:

„Mein gnädiges Fräulein, zwei Jahre sind vergangen, seit ich das erste Mal um Ihre Hand anhielt. Sie sagten damals, Sie würden nie heiraten. Trotzdem habe ich die Hoffnung nicht aufgeben können, dass Sie anderen Sinnes würden. Als Ihr Herr Vater gestorben war, dachte ich, die Einsamkeit Ihres Herzens werde Sie meinen Wünschen geneigt machen. Ich habe geduldig gewartet. Nun ist das Trauerjahr um Ihren unvergesslichen Vater, der meines Vaters bester Freund war, längst vergangen, und so wage ich es heute noch einmal, Sie mit der ganzen Inbrunst meines Herzens zu bitten: Werden Sie mein Weib, Regina. Sie würden mich durch Ihr Jawort unaussprechlich glücklich machen.“ Es lag ein heißes Drängen in seinen Worten.

Regina zog die Stirn zusammen. „Warum ersparen Sie uns das nicht, Herr von Tondern?“, sagte sie traurig. „Sie wissen doch, so freundschaftlich ich Ihnen auch zugetan bin, Ihre Frau kann ich nicht werden. Sie sind mir ein lieber Freund, aber mehr als ein freundschaftliches Gefühl kann ich Ihnen nicht geben.“

Er fasste ihre Hand. „Und wenn ich Ihnen sage, Regina, dass ich mich als Ihr Gatte mit diesem Gefühl begnügen würde?“, drängte er.

Regina schüttelte den Kopf. „Nein, Herr von Tondern, ich bin nicht die Frau, die ihre Hand mit einem so unzulänglichen Gefühl verschenkt.“

Er ließ ihre Hand sinken und strich sich über die Stirn. In seinem Antlitz zuckte es gequält. „Trotzdem – ich kann die Hoffnung nicht aufgeben. Ich kann nicht! Solange Sie noch frei sind, solange noch kein anderer Rechte an Sie hat, werde ich hoffen.“

Regina machte ein unbehagliches Gesicht. „Versuchen Sie doch, Ihre Gedanken von mir abzulenken, Herr von Tondern! Es gibt so viele liebenswerte, hübsche Mädchen, die Sie beglücken könnten. Seien Sie doch vernünftig, versuchen Sie, mich zu vergessen.“

„Glauben Sie, es sei so leicht, Sie zu vergessen? Ich habe mir schon so viel Mühe gegeben. Während Sie auf Reisen waren, habe ich mich bemüht, meine Gedanken von Ihnen loszureißen. Es ging nicht. Immer stärker wurde meine Sehnsucht nach Ihnen.“

Etwas in seinem Wesen erschütterte Regina. Aber zugleich fühlte sie ein tiefes Unbehagen, wenn sie in seine flimmernden Augen sah, aus denen ihr jetzt viel mehr ein wildes, sinnliches Begehren als eine tiefe, wahre Herzensneigung entgegenblickte. Sie zuckte hilflos die Schultern.

„Es tut mir so Leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann.“

„Sagen Sie lieber, nicht helfen will! Es ist doch wohl nur eine Mädchenlaune, was Sie hindert, meine Frau zu werden?“

„Sie irren, es ist keine Laune.“

„So haben Sie einen triftigen Grund, meine Bewerbung auszuschlagen?“

„Ja, ich habe einen triftigen Grund.“

Seine Augen bohrten sich in die ihren. „Regina, lieben Sie einen andern?“

Das Blut schoss ihr ins Gesicht. Sie warf stolz den Kopf zurück. „Herr von Tondern, zu dieser Frage sind Sie nicht berechtigt“, sagte sie.

Er biss die Zähne zusammen. Dann stieß er gequält hervor: „Ich flehe Sie an – sagen Sie mir die Wahrheit – lieben Sie einen andern?“

Sie trat rasch von ihm fort, hinüber an den Marmorkamin. Dort stand sie eine Weile, von ihm abgewandt.

Dann wandte sie das erblasste Gesicht nach ihm zurück und sagte mit verhaltener Stimme: „Diese Frage beantworte ich nicht einmal mir selbst, viel weniger einem anderen Menschen. Ich bitte Sie dringend, dieses Gespräch zu beenden. Wenn ich Ihnen noch Rede und Antwort stehen soll, so wählen Sie ein anderes Thema.“

Aber Tondern schnürte die Erregung momentan die Kehle zu, und da auch Regina nicht sprach, entstand eine Stille, die erst durch den Eintritt Frau Rutharts und einiger Besucher unterbrochen wurde.

Auch Frau Ruthart fiel es auf, dass Tondern heute besonders erregt war. Sie sah, dass er einige Male mit großer Unruhe nach der Tür blickte, als erwarte er jemand und fürchte doch, diesen Jemand eintreten zu sehen. „Was hat er nur?“, dachte sie.

Sie ahnte nicht, dass Heinz von Tondern unterwegs einen Bekannten getroffen hatte, der ihn gefragt hatte: „Haben Sie schon gehört, Tondern, der tolle Haßberg soll wieder da sein?“

Heinz von Tondern hatte bei dieser Frage ein Gefühl gehabt, als verliere er den Boden unter den Füßen.

Wie im Fieber starrte er nun wieder und wieder nach der Tür, als fürchte er, Haßberg dort eintreten zu sehen. Ganz sicher würde mindestens eine Kunde von ihm in Reginas Salon dringen. Und so sah Tondern in jedem neu eintretenden Gast den Verkünder einer Hiobsbotschaft.

Aber niemand sprach von Haßberg; schon begann Tondern aufzuatmen, als derselbe Herr erschien, den er vorher getroffen hatte. Regina begrüßte ihn in ihrer ruhigen, sicheren Art.

„Sie haben uns lange nicht besucht, Herr Assessor“, sagte Regina zu dem Angekommenen.

Der Assessor verneigte sich. „Ich war einige Wochen verreist, mein gnädiges Fräulein, und bin erst gestern zurückgekommen.“

Sie plauderten über Alltägliches, und einige andere Gäste gesellten sich hinzu. Auch Tondern trat zu ihnen.

Plötzlich zuckte er zusammen. Der Assessor sagte: „Haben die Herrschaften schon gehört, dass der tolle Haßberg wieder hier ist?“

Alles fuhr überrascht nach ihm herum. Dabei entging den anderen allen, was Tondern ganz genau sah – dass Regina Baldus sich in auffallender Weise verfärbte und wie in jähem Schrecken die Hand auf das Herz presste. Ihre Augen waren weit geöffnet und blickten wie gebannt in des Assessors Gesicht.

Der Assessor hob abwehrend die Hände. „Bitte, meine Herrschaften, fragen Sie mich nicht! Ich kann Ihnen leider keine Auskunft geben, ich habe die Neuigkeit ja selbst nur durch Leutnant von Trebin erfahren, der wohl gestern mit Haßberg zusammentraf. Wie Trebin mir sagte, wolle er heute auch hier herkommen. Gedulden Sie sich also noch ein Weilchen! Trebin wird Ihnen mehr berichten können.“ Damit trat er von der Gruppe zurück und gesellte sich zu Therese Ruthart, die sich etwas abseits mit Frau Konsul Werner und ihrer Tochter Gerta unterhielt. Gleich darauf kam auch Regina hinzu. In ihr Gesicht war nach dem jähen Erblassen eine Röte getreten. Ihre Augen leuchteten wie in unterdrückter Erregung.

Zerstreut hörte sie der Unterhaltung eine Weile zu. Dann wandte sie sich ab und schritt langsam ins Nebenzimmer hinüber. Am Fenster blieb sie stehen und sah gedankenverloren hinaus.

Da trat Tondern zu ihr. „Nun, mein gnädiges Fräulein, was sagen Sie dazu, dass der tolle Haßberg zurückgekehrt ist?“, fragte er mit heiserer Stimme.

Sie wandte sich nach ihm um. Ihr Gesicht war ganz ruhig. „Ich habe weder ein Recht noch eine Veranlassung, etwas dazu zu sagen.“ Seine Augen bohrten sich in die ihren. „Nun, die ganze Stadt wird wohl in Aufregung geraten. Haßbergs schlimme Streiche sind ja noch in aller Gedächtnis.“

Es zuckte um Reginas Mund. „Ich weiß nur von übermütigen Streichen, nichts von schlimmen, Herr von Tondern.“

Er biss sich auf die Lippen. Dann sagte er hämisch: „Ja ja, vor den Ohren reiner Frauen spricht man nur von den übermütigen Streichen. Die schlimmen verschweigt man. Haben Sie übrigens bemerkt, wie erregt Frau von Hausen bei der Nachricht wurde, dass Haßberg wieder im Land ist?“

Reginas Blick zuckte erschrocken zu Frau Melanie hinüber. „Nein, ich habe nichts bemerkt“, erwiderte sie fast schroff.

Tondern ließ sich aber nicht abschrecken. „Aber ich habe es bemerkt – vielleicht, weil ich mehr weiß als andere. Ich weiß sogar positiv, dass zarte Bande zwischen Frau von Hausen und Haßberg bestanden, ehe er nach Südwest ging.“

„Aber damals lebte doch Herr von Hausen noch?“

Tondern zuckte die Achseln. „Allerdings, aber darüber machte sich Haßberg keine Skrupel. Da Frau von Hausen nun Witwe ist, und zwar eine reiche junge Witwe, wird Haßberg wohl sein verfahrenes Lebensschiff in einen sicheren Hafen retten und sie heiraten.“

Mit ernsten Augen sah Regina ihn an. „Ich glaube nicht, dass Herr von Haßberg danach fragt, ob die Frau, die er heiraten will, reich oder arm ist.“

Tondern lachte hämisch. „Da irren Sie sich sehr, mein gnädiges Fräulein. Ich weiß von Haßberg selbst, dass er schon damals, ehe er fortging, damit rechnete, sich durch eine reiche Heirat aus seinen finanziellen Nöten zu retten. Aber Frau von Hausen ließ ihn wohl nicht dazu kommen. Die Frauen gelten einem Menschen wie Haßberg nicht eben viel. Er betrachtet sie als Spielzeug oder als Rechenexempel.“

Regina strich sich über die Stirn. „So kann man ihn nur bedauern, dass er nicht Frauen kennen lernte, die ihm eine bessere Meinung beibrachten“, erwiderte sie.

Tondern lachte gereizt auf. Es ärgerte ihn, dass sie Haßbergs Partei nahm. „Es wundert mich, gnädiges Fräulein, dass Sie so mild über einen Menschen urteilen, der es nicht wert ist, dass Sie auch nur einen Gedanken an ihn verschwenden.“

Es war, als wolle Regina mit raschen Worten darauf antworten. Ihre Augen flammten auf, und ihre Lippen bebten. Aber zum Glück wurde sie durch die Ankunft des Leutnants von Trebin daran gehindert. Mit einer hastig hervorgestoßenen Entschuldigung wandte sie sich von Tondern ab und ging Trebin entgegen. Dieser wurde von allen Seiten um Auskunft über den tollen Haßberg bestürmt. Hauptsächlich Frau von Hausen erkundigte sich nach ihm. Wie er aussähe, wollte sie wissen, ob er noch so übermütig sei und ob er bereits wieder die Uniform seines alten Regiments trage.

Leutnant von Trebin beantwortete ihre Fragen, aber dabei sah er mit einem Blick zu Fräulein Greta Werner hinüber, als wolle er sagen: Erlöse mich von dem Übel.

Aber Frau von Hausen ließ ihn nicht los, bis er alles erzählt hatte, was er über Haßberg wusste. Dann erst konnte er sich mit einem erleichterten Aufatmen zu Gerta Werner gesellen.

Während die beiden jungen Menschen eifrig über all die Nichtigkeiten plauderten, hinter denen sich oft eine tiefe Neigung versteckt, beleuchtete die übrige Gesellschaft das Thema „Haßberg“ von allen Seiten.

Mit einem wehen Gefühl lauschte Regina den Worten, die über ihn gesprochen wurden. Man wärmte seine tollen Streiche wieder auf. Heinz von Tondern sorgte geflissentlich dafür, dass Haßbergs Sündenregister um einige besonders gravierende Nummern bereichert wurde.

Regina krampfte in stummer Qual die Hände zusammen. Aber sie schwieg und wünschte nur sehnlichst, dass alle diese Menschen fortgehen möchten, damit sie allein sein konnte mit ihrem durch die Kunde von Haßbergs Rückkehr aufgestörten Empfindens. Sie kam sich so unsagbar fremd und einsam vor zwischen all den Menschen, von denen ihr doch manche lieb und wert waren.

***

Leutnant von Trebin hatte Frau Konsul Werner und ihre Tochter, nachdem sie die Villa Baldus verlassen hatten, bis zu ihrer Wohnung begleitet. Dort verabschiedete er sich.

Trebin hatte noch keine Lust, nach Hause zu gehen; er begab sich in die Grunowsche Weinstube am Markt.

Als Trebin in das gemütliche Lokal eintraf, fand er es wenig besucht. Vorn an dem großen, runden Stammtisch saßen einige ältere Herren und politisierten mit von Rotwein und Eifer geröteten Köpfen. In den kleinen Seitennischen saß hier und da ein einsamer Gast. Trebin ging suchend durch das ganze Lokal. Allein hier zu sitzen, dazu hatte er keine Lust. Er hatte gehofft, Gesellschaft zu finden.

Da entdeckte er ganz hinten in der letzten Nische ein bekanntes Gesicht. Hans von Haßberg saß dort, ganz allein, mit aufgestütztem Kopf.

Trebin trat heran. „Störe ich, Herr Rittmeister?“

Haßberg fuhr jäh aus seinem Sinnen empor und sah den jungen Offizier an. „Ach, Sie sind’s Trebin! Nein, Sie stören mich nicht – oder doch nur in wenig erfreulichen Gedanken. Wie Sie sehen, bin ich in der denkbar schlechtesten Gesellschaft, die ein Mensch haben kann – in meiner eigenen. Bitte, setzen Sie sich zu mir! Ich hatte gehofft, einige Kameraden zu treffen, und sitze nun schon seit einer Stunde solo hier.“

Trebin legte ab und nahm Haßberg gegenüber Platz. Nachdem er dem Kellner seine Bestellung gemacht hatte, sagte er lächelnd. „Ich komme eben aus einer Gesellschaft, Herr Rittmeister, in der Sie den interessantesten Gesprächsstoff bildeten.“

Haßberg lachte ironisch und tat einen Zug aus seinem Glas.

„Mir ist, als hätte ich zugehört, lieber Trebin“, sagte er spöttisch. „Der tolle Haßberg ist wohl wieder mal gehörig zerzaust worden?“ Trebin lachte.

„Man interessiert sich sehr für Ihre Rückkehr, Herr Rittmeister. Freilich, ein paar tolle Histörchen von Ihnen wurden bei dieser Gelegenheit aufgefrischt. Sie sind nun mal als der ’tolle Haßberg’ bekannt.“

Wieder lachte Haßberg ironisch. „Die guten Leute werden enttäuscht werden, wenn ich ihnen keinen ’interessanten’ Gesprächsstoff mehr gebe. Vom tollen Haßberg ist nicht viel übrig geblieben. Der hat seine Wildheit bei den Hottentotten gelassen. Also man sprach über mich in der Gesellschaft, die Sie besuchten? Darf ich fragen, wo Sie waren?“

„In der Villa Baldus“, entgegnete Trebin und trank Haßberg zu. Der tat ihm Bescheid. Aber als er den Namen Baldus hörte, setzte er plötzlich sein Glas auf den Tisch und richtete sich mit einem Ruck empor. „So? In der Villa Baldus? Wohnt denn das junge Paar mit dem Herrn Kommerzienrat Baldus zusammen?“

Trebin sah ihn verwundert an. „Wissen sie nicht, dass Kommerzienrat Baldus schon über ein Jahr tot ist?“

„Kommerzienrat Baldus tot? Nein, das wusste ich nicht. Schade um ihn! Er hatte so etwas – etwas, das mich zu ihm zog. Also tot? Und seine Tochter lebt mit ihrem Gatten in der Villa Baldus?“

Trebin schüttelte erstaunt den Kopf. „Fräulein Regina Baldus ist unvermählt.“

Haßberg legte die Hand auf den Tisch und neigte sich vor. „Sie ist nicht verheiratet?“

„Nein.“

„Aber doch wohl verlobt?“

„Auch das nicht. Sie lebt mit ihrer Tante, Frau Ruthart, in der Villa Baldus. Heute hatte sie ihren üblichen Empfangstag. Eine Menge Leute waren da, auch viele alte Bekannte von Ihnen, Herr Rittmeister. Besonders interessierte sich Frau von Hausen für Ihre Rückkehr.“

Haßbergs Stirn zog sich ein wenig zusammen. „Wie geht es Herrn Justizrat von Hausen?“, fragte er ablenkend.

„Der ist auch tot. Frau Melanie ist eine viel umworbene junge Witwe, die Universalerbin ihres Gatten, der ihr ein beträchtliches Vermögen und die schöne Villa in der Taubenstraße hinterlassen hat.“

Haßberg stützte den Kopf in die Hand. Ihn interessierte Melanie von Hausen offenbar sehr wenig. „Und Heinz von Tondern? War der auch da?“, forschte er.

„Natürlich. Er gehört doch zu den eifrigsten Verehrern von Fräulein Baldus. Aber er scheint ebenso wenig Glück zu haben wie die anderen Bewerber.“

„Da lachte Haßberg schneidend auf, dann presste er die Lippen fest aufeinander, als wolle er dies Lachen ersticken. „Soso! Also hat es ihm nichts genützt“, stieß er nach einer Weile, mehr zu sich selbst sprechend, hervor.

„Wie meinen Sie, Herr Rittmeister?“, fragte Trebin.

Haßberg machte eine abwehrende Bewegung. „Achten Sie nicht auf mich! Ich habe da unten die schlechte Gewohnheit angenommen, zuweilen mit mir selbst zu sprechen. Prosit, lieber Trebin! Es lebe, was wir lieben! Wissen Sie, dass es ein ganz wunderliches Gefühl für mich ist, hier in der gemütlichen alten Weinstube zu sitzen, als sei ich nie fortgewesen? Nichts ist hier verändert. Da drüben hängt noch immer der alte Bismarck in seinem verräucherten Goldrahmen, darunter die von einem Kitschmaler verbrochene italienische Landschaft mit dem ultramarinblauen Himmel, und hier auf dem Tisch steht sogar noch derselbe Aschenbecher mit der abgeschlagenen Ecke. Weiß Gott, es ist mir wie ein Traum, dass ich zwei Jahre fort war. Können Sie sich denken, dass ich da unten zuweilen von dem unsinnigsten Heimweh gepackt wurde?“

„Gewiss, Herr Rittmeister, sehr gut kann ich mir das denken. Muss ja scheußlich einsam sein, so mitten zwischen den Hottentotten. Da muss einem ja die Sehnsucht nach der Heimat packen!“

Wieder sah Haßberg gedankenverloren vor sich hin und sprach zu sich selbst. „Heimat? Ich weiß schon so lange nicht mehr, was eine Heimat ist. Aber mir war immer zumute, als habe ich hier etwas vergessen – etwas, das mich mit allen Fasern zurückzog.“

Trebin machte ein Gesicht, als wisse er nicht recht, was er erwidern sollte. „Vielleicht hielten zarte Bande Sie hier fest, Herr Rittmeister“, sagte er in leichtem Ton.

Aber Haßberg schien ihn nicht zu hören. Er ergriff sein Glas, sah gegen das Licht durch den goldig funkelnden Wein und trank. Dann stellte er das Glas wieder hin.

„Glauben Sie noch an Frauentreue, an Frauenreinheit, Trebin?“, fragte er plötzlich.

Der junge Leutnant sah ihn groß an. „Ich habe eine Mutter und zwei Schwestern, Herr Rittmeister. Es wäre schlimm, wenn mir der Glaube an Frauenreinheit und Frauentreue verloren gegangen wäre.“

Haßberg nickte. „Ja, sehr schlimm ist es, wenn man diesen Glauben verloren hat. Aber manchem Menschen wird er gewaltsam und systematisch genommen, dieser Glaube. So zum Beispiel mir. Als ich vierzehn Jahre alt war, lief meine Mutter, die ich wie eine Heilige verehrte, meinem Vater mit einem anderen Mann davon, mit einem, der nicht wert war, meinem Vater die Schuhriemen aufzulösen. Dieser andere schoss meinen Vater im Duell nieder. Meine Mutter heiratete nach Jahresfrist einen dritten. Ob sie ihm die Treue hielt – wer weiß? Ich habe sie bis zu ihrem Tod nie wieder gesehen. Meine Schwester und ich wurden zu Verwandten gesteckt. Ich kam bald darauf in die Kadettenanstalt. Als ich nach Jahren meine Schwester wiedersah – sie war ein schönes Mädchen geworden – spielte sie mit ihren Verehrern wie die Katze mit den Mäusen. Ein lieber Freund und Kamerad von mir verliebte sich in sie und warb um sie. Meine Schwester gab ihm heimlich ihr Wort, ihm anzugehören. Kurz darauf bewarb sich ein reicher Majoratsherr um sie. Da verriet sie meinen Freund und wurde Majoratsherrin. Mein Kamerad erschoss sich. Seitdem habe ich nie wieder ein Wort mit meiner Schwester gewechselt, sie ist tot für mich. Und all die anderen Weiber? Meine erste Liebe gehörte einem süßen, blonden Ding mit gläubigen, unschuldsvollen Madonnenaugen. Sie waren falsch, die frommen Augen. Ich wurde betrogen. Dann habe ich noch einmal geglaubt und geliebt. Wieder wurde ich schmählich betrogen – ich fand die Geliebte in den Armen eines anderen. Von jener Stunde an gab ich es auf, an die Frauen zu glauben. Sie gelten mir alle nur noch als Spielzeug für müßige Stunden. Aber denken Sie nicht, Trebin, ausgerechnet da unten in Südwest kamen mir Bedenken, ob ich nicht doch den Glauben an Frauenreinheit mit Frauentreue zu schnell aufgegeben hätte, Und ich nahm mir ganz ernstlich vor, nochmals danach zu suchen, wenn ich heimkehrte. Ja ja, auf sonderbare Einfälle kommt man da unten, mein lieber Trebin. Und warum sage ich Ihnen das alles – gerade Ihnen? Ich bin sonst, weiß Gott, keine mitteilsame Natur, und Sie stehen mir doch im Grunde ganz fern. Aber manchmal befällt mich jetzt eine wahre Gier, mich auszusprechen. Vielleicht weil ich da unten oft wochenlang mit niemand sprechen konnte, als mit meinen Leuten, mit denen ich durch endlose, verödete und verdorrte Landstrecken zog. Aber vielleicht auch, weil ich immer so etwas wie Sympathie für Sie gefühlt habe. Sie haben ein so grund-ehrliches Gesicht, Trebin. Sie erinnern mich an meinen Freund und Kameraden, der an meiner Schwester zugrunde ging. Na so – und ein bisschen wunderlich wird man da unten auch.“

Trebin hatte voll Teilnahme und Interesse zugehört. Jetzt war ihm mit einem Mal mancherlei an Haßberg verständlich. Er sah ihm voll Wärme in die Augen. „Das wird sich alles schnell wieder geben, Herr Rittmeister, wenn Sie erst wieder unter Ihren alten Kameraden sind und Ihre Freunde Sie aufgemuntert haben.“

Wieder lachte Haßberg ironisch. „Meine Freunde? Glauben Sie an ehrliche, uneigennützige Freundschaft?“

„Gewiss! Und ich würde jeden bedauern, der es nicht tut.“

„Na, denn bedauern Sie mich, lieber Trebin: Ich glaube nämlich nicht mehr daran.“

Wieder sah Trebin ihn mit seinen ehrlichen Augen ernst an. „Sie müssen schlimme Erfahrungen gemacht haben.“

Haßberg fuhr sich über die Stirn. „Ich habe die Freundschaft früher vielleicht zu hoch bewertet. Das ist überhaupt ein alter Fehler von mir. Aber nun genug davon. Prosit! Erzählen Sie mir noch ein wenig von der Gesellschaft in der Villa Baldus.“

Das tat Trebin. Als er im besten Erzählen war, kamen noch einige Offiziere und nahmen mit am Tisch Platz. Aber in der lustigen Tafelrunde war Haßberg heute der Stillste.

Er warf nur ab und zu einige sarkastische Worte in die Unterhaltung. Früher als die anderen brach er auf.

Als er sich entfernt hatte, sahen ihm die Offiziere mit verwundertem Lächeln nach. „Sonderbar, wie sich der tolle Haßberg verändert hat. Nicht zum Wiedererkennen“, sagte der eine.

„Er scheint sich zum Sonderling ausgebildet zu haben“, bemerkte ein anderer.

Es gab viel zu staunen und zu wundern. Der tolle Haßberg war als ernster, stiller Mann zurückgekehrt, und nichts erinnerte mehr an sein altes Wesen als zuweilen eine starke Dosis Sarkasmus und Ironie.

Die Kameraden gewöhnten sich schnell daran und ließen ihn gewähren. Der Oberst war außerordentlich zufrieden mit ihm; er freute sich, seinen schneidigsten Reiter wieder zu haben und dass er ein so vernünftiger Mensch geworden war. Aber in der Gesellschaft glaubte man noch nicht so recht an Haßbergs Veränderung.

Auch zu Regina war die Kunde gedrungen, wie sehr sich Haßberg verändert haben sollte. Und in ihrer Seele war ein unruhiges Warten.

Noch hatte sie ihn nicht wiedergesehen, er hatte noch nirgends Besuche gemacht. Regina wartete in fieberhafter Unruhe auf die erste Begegnung mit ihm.

Am Morgen nach ihrem Empfangstag war sie auf ihrem üblichen Morgenritt in Begleitung des Konsuls Werner und seiner Tochter Gerta Trebin begegnet.

Er hatte von seinem Zusammentreffen mit Haßberg gesprochen und dabei gesagt: „Ein glücklicher Mensch ist Haßberg nicht, er leidet an einer schlimmen Enttäuschung, die schon seine Kindheit verbittert hat. So ist er, gegen sich selbst wütend, der tolle Haßberg geworden. Aber im Grunde seines Herzens ist keine Spur von Wildheit, im Gegenteil, da lebt wohl eine stille Sehnsucht nach Idealen, die er nicht finden kann.“

Regina hätte Trebin die Hand dafür drücken mögen, dass er so gut von Haßberg sprach.

So waren etwa acht Tage seit Haßbergs Rückkehr vergangen. Wieder unternahm Regina ihren üblichen Morgenritt. Gerta Werner und ihr Vater holten sie ab, dann ging es zur Stadt hinaus in den großen, schönen Stadtpark hinein. Als sie die letzten Häuser der Stadt passiert hatten und auf der breiten Straße nach dem Park hinüberritten, kam eine Schwadron Reiter auf sie zu. An der Spitze ritt Haßberg und neben ihm Trebin.

Regina erkannte ihn sofort. Ihre Hand riss unruhig am Zügel, so dass ihr Pferd einen Satz zur Seite machte. Obwohl sie sich gewaltsam zu beherrschen versuchte, merkte sie doch, dass ihr das Blut jäh ins Gesicht schoss.

Hans von Haßberg sah zu ihr hinüber, während er grüßte, und seine grauen Augen leuchteten hell in ihr Antlitz.

Sie erwiderte seinen Gruß scheinbar gelassen. Aber die Röte in ihrem Gesicht konnte sie nicht bannen, und die Unruhe ihres Pferdes verriet ihm doch, dass sich in ihrer Zügelführung eine gewisse Nervosität bemerkbar machte. Und da weiteten sich seine Augen und hielten einen Moment ihren Blick mit zwingender Macht fest.

Regina erbebte unter diesem Blick, die Röte in ihrem Antlitz wich einer jähen Blässe. Dann waren sie auch schon aneinander vorbei. Ihre Gedanken jedoch folgten einander. Regina war durch diese Begegnung aus ihrem seelischen Gleichgewicht gerissen worden. Wie sie an diesem Morgen nach Hause kam, wusste sie nicht. Sie konnte nichts anderes denken, als dass sie Haßberg wiedergesehen und dass er sie so seltsam angeblickt hatte.

Auch Haßberg hatte diese Begegnung mehr erregt, als er es für möglich gehalten hätte. Er gab Trebin auf sein Reden nur kurze, zerstreute Antworten.

Zum ersten Mal hatte er Regina Baldus mit dem wachen Interesse des Mannes am Weib betrachtet, und zum ersten Mal hatte er ihre Reize auf sich einwirken lassen. Nachdem er seine Schwadron bis zur Kaserne begleitet hatte, ritt er nach Hause, nahm ein Bad und ging dann aus, um einige Einkäufe zu machen.

Als er über den Markt schritt, begegnete ihm eine offene Equipage, in der Frau Melanie von Hausen saß. Er wollte mit einem Gruß vorübergehen, aber Frau Melanie gab dem Kutscher ein Zeichen und ließ halten. So musste Haßberg an den Wagen herantreten und die schöne Frau begrüßen. Er tat es ungern, in seinem Gesicht prägte sich deutlich eine gewisse Reserve aus. Frau Melanie streckte ihm die Hand entgegen.

„Also Sie sind wirklich zurückgekehrt, Herr von Haßberg! Ich wollte es nicht glauben, weil Sie sich bei mir noch nicht sehen ließen“, rief sie ihm in vorwurfsvollem Ton entgegen.

Er zog ihre Hand formell an die Lippen.

„Ich habe noch keine Zeit gehabt, Besuche zu machen, gnädige Frau. Sonst wäre ich gekommen, um Ihnen noch nachträglich zu kondolieren. Ich hörte, dass ein schwerer Verlust Sie betroffen hat“, sagte er förmlich.

Sie blitzte ihn mit ihren schönen Augen an. „Mein Mann ist schon seit anderthalb Jahren tot, Herr von Haßberg. Ich hätte Ihnen eine Todesanzeige geschickt, aber ich konnte ihre Adresse nicht ermitteln, so sehr ich mich auch darum bemühte.“

„Ich hatte keine Adresse hinterlassen, gnädige Frau; ich habe in keinerlei Verbindung mit der Heimat gestanden.“

Sie beugte sich vor, damit der Kutscher sie nicht hören solle, und flüsterte ihm zu: „Das war grausam, Hans! Hast du nicht geahnt, was du mir damit angetan hast?“

Es zuckte nervös in seinem Gesicht. Er erinnerte sich des Zusammenseins mit Melanie von Hausen, kurz bevor er den Plan fasste, nach Südwest zu gehen. Er war in ihrem Haus zu Gast gewesen; als sie sich plötzlich in einem Nebenzimmer allein gegenüber standen, da hatte er die schöne Frau in seine Arme gerissen und sie geküsst. In jener Stunde hatten sie „du“ zueinander gesagt. Haßberg hatte das längst vergessen; nun berührte es ihn sehr peinlich, dass sie ihn Du und beim Vornamen nannte.

„Gnädigste Frau!“, sagte er betreten.

Ihre Augen flammten auf. „Ich erwarte dich bestimmt heute oder morgen Nachmittag und werde um fünf Uhr nur für dich zu Hause sein“, sagte sie leise.

Kein Zug in seinem Gesicht veränderte sich. Kühl sah er ihr in die Augen. „In den nächsten Tagen bin ich dienstlich stark in Anspruch genommen, gnädige Frau. Aber sobald ich mich freimachen kann, werde ich Besuche machen und mir selbstverständlich auch die Ehre geben, bei Ihnen vorzusprechen.“

Voll brennender Unruhe sah sie ihn an. „Hans, ich muss dich sprechen!“, stieß sie leidenschaftlich hervor.

Da trat er mit einer Verbeugung zurück. „Ich will Sie nicht länger aufhalten, gnädige Frau, und gestatte mir, mich Ihnen zu empfehlen.“

Sie wurde bleich, und in ihrem Gesicht zuckte es. Aber wenn sie kein Aufsehen erregen wollte, musste sie das Zeichen zum Weiterfahren geben. Drohend und bittend zugleich sah sie in sein Gesicht.

„Ich warte!“, rief sie ihm noch zu, dann fuhr der Wagen davon. Haßberg ging mit finster gefurchter Stirn weiter.

***

Heinz von Tondern saß in der Fabrik seines Vaters in seinem mit gediegener Eleganz eingerichteten Privatkontor. Es war ein heller, großer Raum, mit dunklen, schweren Eichenmöbeln und Klubsesseln ausgestattet. Der große Schreibtisch stand quer vor dem einen Fenster, dahinter in der Ecke eine hohe Standuhr. Ein schöner alter Perser bedeckte den Fußboden, und auch auf dem Diwan lag ein kostbarer Teppich.

In diesem ernsten und doch behaglichen Raum verbrachte Heinz von Tondern täglich mehrere Stunden in fleißiger Arbeit. Er war keiner von den jungen Leuten, die in süßem Nichtstun das vom Vater verdiente Geld durchbrachten, er arbeitete ernsthaft mit seinem Vater zusammen, seit er den bunten Rock ausgezogen hatte. Ein leichtsinniger Mensch war er auf keinen Fall, bisher war er auch ein sehr anständiger Charakter gewesen bis die Eifersucht ihn aus seinem seelischen Gleichgewicht gebracht hatte.

Auch heute saß er bei der Arbeit. Vor ihm auf dem Schreibtisch lag ein Stoß geschriebener Briefe, die ein Bürodiener aus dem Kontor herübergebracht hatte. Diese Briefe musste er durchsehen und unterzeichnen.

Soeben hatte er seinen Namen unter den letzten gesetzt, als ein Diener eintrat. Er brachte eine Karte. „Herr Rittmeister von Haßberg wünscht vorgelassen zu werden. Soll ich ihn eintreten lassen?“

Tondern zuckte leicht zusammen und sah mit zusammengekniffenen Augen auf die Karte, als überlege er.

„Eintreten lassen“, sagte er dann kurz und schroff.

Der Bürodiener verschwand. Gleich darauf erschien Haßberg in seiner schmucken Uniform, eine prachtvolle, vornehme Erscheinung vom Scheitel bis zur Sohle.

Das konstatierte auch Tondern mit eifersüchtigem Empfinden. Er erhob sich und trat Haßberg entgegen. Mit Mühe zwang er sich zu einem Lächeln.

„Also du bist wirklich zurückgekehrt, Hans! Ich hörte davon und hätte dich gern aufgesucht. Aber ich hatte so viel zu tun. Also: Willkommen daheim!“, sagte er und reichte Haßberg die Hand.

Dieser erfasste sie, ließ sie aber schnell wieder aus der seinen gleiten. Um seinen Mund spielte das herbe ironische Lächeln, das seinem Gesicht ein so seltsames Gepräge gab.

„Streng dich nicht an, Heinz! Du kannst ruhig bekennen, dass du mich dahin wünschst, wo der Pfeffer wächst. Ich nehme es dir nicht übel“, sagte er, seine Mütze auf den Tisch werfend und sich auf seinen Säbel stützend.

Tondern machte ein verlegenes Gesicht und hielt das erzwungene Lächeln fest. „Alle, die dich bisher sahen, sagten mir, du seiest so ernst geworden. Ich wollte es nicht glauben. Nun sehe ich, dass ich Recht hatte. Du bist der alte Spaßvogel geblieben. Bitte, nimm Platz! Willst du rauchen? Hier sind Zigarren und Zigaretten. Auch Kognak oder ein Glas Wein kannst du haben.“ Tondern sprach in leichtem Ton, obwohl er sich jedes Wort abringen musste.

Haßberg ließ sich in einen Klubsessel sinken. „Danke! Vorläufig verzichte ich. Erst möchte ich geschäftlich mit dir sprechen.“

„Wie du willst. Wie ist es dir in Südwest ergangen? Man hat nichts von dir gehört.“

Haßberg starrte vor sich hin.

„Wie es mir erging? Mal so – mal so. Aber das wird dich wenig interessieren. Ich glaubte dich als glücklichen Gatten von Regina Baldus wiederzufinden und war sehr erstaunt, als ich hörte, ihr wärt noch unvermählt und unverlobt. Du hast deine Zeit schlecht genutzt, lieber Heinz.“

Das sagte Haßberg mit kühler Ironie, aber in seinen Augen leuchtete etwas wie Kriegsbereitschaft.

Tondern bekam eine rote Stirn. „Mein lieber Hans, es bleibt hoffentlich unter uns, was wir damals gesprochen haben. Wir wollen es vergessen.“

Haßberg zog die Stirn zusammen. „Das ist auch mein Wunsch. Ich bemühe mich schon seit unserer letzten Unterredung vor meiner Abreise, zu vergessen. Heute bin ich in der Absicht zu dir gekommen, unsere Angelegenheit zu einem gedeihlichen Abschluss zu bringen.“

„Wie meinst du das?“

Haßberg zog seine Brieftasche aus dem Waffenrock und entnahm ihr ein Blatt Papier. Das legte er vor Tondern hin.

„Hier ist ein Scheck über zweiunddreißigtausendvierhundert Mark.“

Betroffen sah Tondern in Haßbergs Gesicht. „Was soll das heißen?“

„Das soll heißen, dass ich dir hiermit die dreißigtausend Mark nebst vier Prozent Zinsen für zwei Jahre zurückzahle.“

Tondern machte ein betretenes Gesicht.

„Aber das eilt doch nicht“, versuchte er abzuwehren.

Haßberg atmete tief auf. „Mir eilt es sehr. Am liebsten wäre ich gleich am ersten Tag nach meiner Rückkehr zu dir gekommen, um dir das Geld zurückzuzahlen. Aber da waren noch einige Formalitäten zu erledigen, und ich musste bis heute warten.“

„Ich hatte ja mit dem Geld gar nicht gerechnet. Du hättest dich nicht zu beeilen brauchen, Hans.“

„Ich sagte dir ja schon, es eilte mir sehr. Seit ich das Geld von dir nahm, kraft dessen du mich zwei Jahre aus der Heimat verbanntest, habe ich keine frohe Stunde mehr gehabt. Wie ein Sklave kam ich mir vor, der den Nacken unter ein Joch beugen musste, geknebelt und gefangen – ein unfreier Mensch. Und die zwei Jahre sind mir so lang geworden wie zwanzig – diese zwei Jahre, über die ich mir das Verfügungsrecht von dir hatte nehmen lassen. Ich hatte mich ja ehrenwörtlich verpflichtet, der Heimat fern zu bleiben. Du glaubst nicht, was für ein fürchterliches Gefühl es ist, in der Verbannung zu leben. Aber trotzdem wäre ich auch jetzt noch nicht hierher gekommen, wenn ich nicht in der Lage gewesen wäre, dir das Geld zurückzuzahlen.“

Tondern rang mühsam die Erregung nieder, die ihn bei Haßbergs Worten überkam. „Du hast anscheinend dein Glück gemacht da unten?“, fragte er.

Haßberg lachte schneidend auf. „Mein Glück? Ach so, du meinst, da unten könne man in zwei Jahren Reichtümer erwerben?“

„Du kannst ja auch eine reiche Partie gemacht haben, hast dich vielleicht mit einer vermögenden Dame verlobt.“

Kopfschüttelnd sah Haßberg ihn an. „Nein, ich bin so unverlobt wiedergekommen, wie ich gegangen bin. Aber da ist ein entfernter Verwandter von mir auf den wundervollen Gedanken gekommen, mir in seinem Testament fünfzigtausend Mark zu vermachen. Ich danke es dem alten Herrn bis an mein Ende, denn er hat mich dadurch von einer erdrückenden Last befreit. Also hier ist dein Geld zurück, und nun ist wieder reiner Tisch zwischen uns, nicht wahr?“

„Gewiss“, erwiderte Tondern gepresst.

Haßberg erhob sich und richtete sich straff empor. Seine Augen fest auf Tondern richtend, sagte er: „Und nun möchte ich eine Frage an dich richten: Wie stehst du mit Regina Baldus? Bist du vielleicht heimlich mit ihr verlobt oder hat sie dir sonst irgendein Anrecht an ihre Person eingeräumt?“

Auch Tondern erhob sich. Sein Gesicht war fahl und seine Augen flackerten unheimlich. „Ich gesteh dir kein Recht zu dieser Frage zu“, sagte er heiser.

Haßberg stützte sich auf seinen Säbel und machte eine formelle Verbeugung. „Wie du willst. Du brauchst mir natürlich keine Antwort zu geben. Gibst du sie mir aber nicht, so nehme ich an, dass ich keinerlei Rechte deinerseits auf die junge Dame zu respektieren brauche. Es war nur eine Höflichkeitspflicht von mir, dir diese Frage vorzulegen.“

Tondern zuckte die Achseln und spielte den Gleichmütigen. „Ich kann sie dir ja schließlich auch beantworten. Also nein, noch habe ich keine Rechte an Regina Baldus. Sie hat mir damals auf meine Werbung geantwortet, dass sie überhaupt nicht heiraten wolle. Trotzdem habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, sie mir zu erringen.“

In Haßbergs Augen blitzte es auf. „Gut! Offenheit gegen Offenheit. Ich teile dir mit, dass ich mich gleichfalls um Fräulein Baldus zu bewerben gedenke. Auch ich habe keine Verpflichtung, dir das mitzuteilen, aber du sollst mir nicht vorwerfen können, dass ich dich hintergangen habe.“

Tondern war zusammengezuckt, in seinem Antlitz arbeitete eine mühsam unterdrückte Erregung. „Das willst du tun?“, stieß er hervor.

Haßberg nickte. „Ja, das will ich tun! Und ich wüsste nicht, wer oder was mich an diesem Vorsatz hindern könnte.“

Tondern zwang sich zu einem spöttischen Lächeln. „Du wirst ebenso wenig Glück haben wie die anderen. Ich sage dir, sie will nicht heiraten, sie hat alle Bewerber um ihre Hand abgewiesen. So wird es auch dir ergehen. Sie weiß sehr wohl, dass nur ihr Reichtum die Bewerber anlockt.“

Mit einem sonderbaren Blick sah Haßberg ihn an. „Dann muss Fräulein Baldus eine sehr bescheidene Meinung über den Wert ihrer Persönlichkeit haben. Glaubst auch du, dass nur ihr Reichtum die Bewerber anlockt?“

„Ja, das glaube ich.“

„Dann schätzest du sie sehr gering ein.“

Tondern fuhr auf. „Ich? Von mir ist doch nicht die Rede!“

„Ich denke doch, da du zu ihren Bewerbern gehörst.“

Tondern wehrte heftig ab. „Bei mir ist das etwas anderes. Sie weiß, dass ich ihr Geld entbehren kann und nicht danach trachte. Aber die anderen alle – na – und du? Für dich kommt sie doch als Persönlichkeit gar nicht in Betracht, du siehst in ihr doch nur die reiche Partie – die reichste in dieser Stadt.“

Ein unbeschreibliches Lächeln spielte um Haßbergs Mund. „Meinst du? Nun, ich ziehe es vor, dir darauf die Antwort schuldig zu bleiben. Jedenfalls weißt du nun, dass ich die Absicht habe, mich um die junge Dame zu bewerben.“

Die beiden jungen Männer sahen sich eine Weile scharf an, als wollten sie sich bis ins innerste Herz sehen. In Tonderns Augen glühte der Hass.

„Tu, was du nicht lassen kannst!“, sagte er endlich.

Haßberg griff nach seiner Mütze. „So sind wir im Klaren. Nun will ich dich nicht länger deiner kostbaren Zeit berauben.“

Tondern murmelte ein paar höfliche Worte. Am liebsten wäre er Haßberg an den Hals gesprungen, aber er bezwang sich, er durfte es nicht zu einem Bruch kommen lassen. Er sagte sich, dass eine offene Feindschaft auch für ihn Nachteile bringen würde. Die Hauptsache war, Haßberg im Auge zu behalten und unverzüglich Gegenmaßregeln zu treffen, um ihn als Bewerber Reginas unschädlich zu machen.

Als Haßberg sich kurz verabschieden wollte, kam Tondern plötzlich ein Gedanke. „Was wird denn aber Frau von Hausen sagen, wenn du als Bewerber um Fräulein Baldus auftrittst?“, fragte er.

Haßberg zog die Stirn zusammen, und um seinen Mund zuckte es seltsam. Dann sagte er mit einem überlegenen Achselzucken: „Frau von Hausen gestehe ich keinerlei Berechtigung zu, bestimmend auf meine Entschlüsse einzuwirken.“

„Sie wird sich aber vielleicht ein Recht dazu nehmen. Ihr Interesse für dich ist nicht erloschen. Sie hat eifrig nach deiner Adresse geforscht, und als sie hörte, du seiest zurückgekehrt, war sie sehr erregt.“

Haßberg wurde nachdenklich. Schon glaubte Tondern, ihn bei einer schwachen Stelle gepackt zu haben. Er trat rasch zu ihm und fasste seinen Arm. „Wenn du auf den Rat eines Freundes hören willst, Hans, so hüte dich, Frau Melanie zu reizen. Sie ist eine temperamentvolle, unberechenbare Frau. Ich glaube, sie ist zu allem fähig, wenn sie erfährt, dass du dich um eine andere bewirbst.“

„Ich danke dir für diesen Freundesrat. Aber sorge dich nicht! Was ich mir eingebrockt habe, löffle ich auch selbst aus. Mit Frau von Hausen werde ich ohne deine Hilfe fertig werden.“

„Du willst sie also nicht heiraten? Sie ist dir wohl nicht reich genug?“

Haßberg sah ihn fast verächtlich an. „Nein, sie ist mir nicht reich genug“, sagte er mit grimmigem Hohn. „Und nun – lebe wohl.“

„Lebe wohl – wir sehen uns wohl bald wieder“, versetzte Tondern.

„Warum nicht? Wenn du Lust hast, mich wiederzusehen – ich habe meine alte Wohnung in der Weststraße wieder bezogen. Außerdem sitzen wir fast jeden Abend bei Grunow, das weißt du ja.“

„Gewiss. Auf Wiedersehen also!“

„Auf Wiedersehen!“ Haßberg zog die Tür hinter sich zu.

Tondern stand mit geballten Fäusten und verzerrtem Gesicht und starrte die Tür wie einen Feind an.

„Du sollst sie dennoch nicht erringen – du nicht! Ich werde kein Mittel scheuen, Regina vor dir zu bewahren – vor keinem Mittel“, knirschte er zwischen den Zähnen.

Mit einem Ruck richtete er sich empor und drückte auf die Klingel. Als der Diener eintrat, rief er ihm zu: „Mein Auto soll vorfahren. Bringen Sie mir Mantel und Hut. Wenn mein Vater nach mir fragt, sagen Sie, ich habe einen eiligen Weg.“

***

Regina Baldus saß in ihrem Arbeitszimmer, als Heinz von Tonderns Auto draußen vorfuhr.

Er ließ sich den Damen melden. Tante Therese empfing ihn sofort, während Regina ein Weilchen auf sich warten ließ. Am liebsten hätte sie Tondern gar nicht empfangen, denn ihr war in seiner Gegenwart jetzt immer so unbehaglich zumute.

Als sie ihn begrüßt hatte, sagte sie: „Heute kommen Sie zu einer so außergewöhnlichen Zeit, Herr von Tondern. Sonst sind Sie doch um diese Zeit in der Fabrik. Führt etwas besonderes Sie her?“

Er atmete tief auf. „Ja, mein gnädiges Fräulein. Die Besorgnis um Sie trieb mich hierher. Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen eine vertrauliche Mitteilung zu machen, die mir für Sie von Wichtigkeit erscheint.“

Regina sah ihn unruhig an.

Er holte tief Atem. „Ich bitte Sie dringend, meine verehrten Damen, meine Mitteilung als einen Beweis meiner innigsten Sorge um Sie, mein gnädiges Fräulein, aufzufassen. Um ihnen verständlich zu sein, muss ich ganz rückhaltlos sprechen. Es handelt sich um Herrn von Haßberg.“

Regina wollte etwas erwidern, aber er hob die Hand und fuhr fort: „Bitte, lassen Sie mich erst ausreden! Neulich sagte ich Ihnen, dass ich Haßberg vor seiner Abreise dreißigtausend Mark zur Verfügung stellte, damit er seine Schulden bezahlen konnte. Heute war er bei mir, um mir diese Summe zurückzuzahlen.“

„Ah! Da können Sie von Glück reden, lieber Herr von Tondern. Wie kam es denn, dass Herr von Haßberg Ihnen das Geld zurückgab?“, fragte Frau Ruthart interessiert.

„Er erzählte mir, er habe eine kleine Erbschaft gemacht. Ich sagte ihm, es habe keine Eile mit dem Zurückzahlen, aber er meinte, er könne das Geld entbehren, da er bald eine reiche Heirat zu machen gedenke. Kurz und bündig teilte er mir mit, dass er die Absicht habe, sich um Fräulein Regina Baldus zu bewerben.“

Regina zuckte zusammen, glühende Röte schoss ihr ins Gesicht. „Das hat er gesagt?“, fragte sie tonlos.

„Na, da hört aber alles auf!“, rief Frau Ruthart entrüstet.

Tondern wandte sich Regina zu. „Ja, mein gnädiges Fräulein, das hat er gesagt – klipp und klar, ohne jede Verschleierung. Ich sagte ihm ins Gesicht, dass er es nur auf Ihren Reichtum abgesehen habe. Darauf erwiderte er ironisch, er werde mir hierauf die Antwort schuldig bleiben. Ich erinnerte ihn nun an Frau von Hausen. Es ist ja offenes Geheimnis, dass zwischen ihr und Haßberg Beziehungen bestehen. Aber er versetzte brüsk, mit Frau von Hausen werde er schon fertig werden. Sie sei ihm nicht reich genug. Und er blieb dabei, dass er sich um Sie mein gnädiges Fräulein, bewerben wolle.“

„Das ist aber doch stark!“, entrüstete sich Tante Therese.

Tondern nickte heftig mit dem Kopf. „Es ist empörend! Ich wäre außer mir, dass Haßberg es überhaupt wagte, seine Augen zu Ihnen zu erheben. Und obwohl ich eine Indiskretion begehen muss, drängte es mich doch, sofort zu Ihnen zu fahren und Sie zu warnen. Sie stehen mir zu hoch, als dass ich es dulden würde, dass man Sie zum Gegenstand niedriger Spekulation macht. Sie werden meine Warnung beherzigen, mein gnädiges Fräulein, nicht wahr?“

Regina hatte reglos, mit blassem Gesicht dagesessen und zugehört. Ihre Augen brannten, ein Etwas in ihr empörte sich – aber sonderbarerweise galt diese Empörung nicht Haßberg, sondern Tondern. Sie hatte das bestimmte Gefühl, als habe Tondern ihr nur in selbstsüchtiger Weise diese Eröffnung gemacht. Sicher sprach mehr die Eifersucht aus ihm als die Besorgnis um ihr Wohl.

Mit stolzer Miene richtete sie sich auf.

„Ich will annehmen, Herr von Tondern, dass Sie mir diese Mitteilung aus ehrlicher Besorgnis um mich gemacht haben, aber danken kann ich Ihnen nicht dafür. Es wäre besser gewesen, wenn Sie mir meine Unbefangenheit Herrn von Haßberg gegenüber gelassen hätten.“

„Aber, liebes Kind, ich finde es im Gegenteil sehr umsichtig von Herrn von Tondern, dass er dich gewarnt hat. Haßberg ist doch als Herzensbrecher bekannt. Wer weiß, was für eine Komödie er dir vorgespielt hätte, um dich zu umgarnen. Ohne diese Warnung wärst du vielleicht sein Opfer geworden. Jedenfalls sind wir Herr von Tondern zu Dank verpflichtet, und ich bin ihm auch sehr dankbar.“

So sagte Frau Ruthart und reichte Tondern die Hand.

Regina blickte unbehaglich vor sich hin. „Wenn Ihnen an meinem Dank etwas liegt, Herr von Tondern, so spreche ich ihn Ihnen hiermit aus. Im Übrigen glaube ich kaum, dass Herr von Haßberg Ihnen solche Mitteilung im Ernst gemacht hat. Vielleicht war es einer seiner alten, übermütigen Streiche, um Sie zu düpieren.“

Tondern schüttelte den Kopf. „Nein, nein, es war sein Ernst. Sie werden ja sehen, wie er sich Ihnen jetzt nähern wird. Jedenfalls sind Sie gewarnt.“

„Wir werden Herrn von Haßberg nicht lange im Zweifel lassen, dass er hier nichts zu hoffen hat, nicht wahr, Regina?“, sagte Tante Therese kampfbereit.

Regina machte ein gequältes Gesicht und strich sich über die Stirn. „Das alles ist mir so unsagbar peinlich. Bitte, lass uns von etwas anderem sprechen.“

Sie begann nun selbst ein anderes Gespräch, und die Tante und Tondern mussten darauf eingehen. Tondern hatte das Gefühl, als habe seine geschickt aus Wahrheit und Lüge gemischte Mitteilung nicht den gewünschten Erfolg gehabt. Er hatte gehofft, Regina werde in heller Entrüstung aufflammen. Das war durchaus nicht geschehen. Er musste auch ferner auf der Hut sein. Haßberg sollte und durfte sein Ziel nicht erreichen. Tondern nahm sich vor, Frau Melanie von Hausen bald zu besuchen. In ihr würde er ganz gewiss eine Bundesgenossin finden.

Als Tondern sich entfernt hatte, sahen sich die beiden Damen eine Weile stumm an.

Endlich sagte Tante Therese aufatmend: „Ich bitte dich, Regina! Was sagst du zu dieser Unverschämtheit Haßbergs? Was er sich einbildet! Er glaubt wohl, du habest nichts Eiligeres zu tun, als seine Bewerbung anzunehmen.“

„Was soll ich dazu sagen, Tante Therese? Ich kann dir nur erklären, dass ich Herrn von Haßberg wohl der unsinnigsten Streiche, aber keiner niedrigen für fähig halte. Alles, was ich bisher von ihm gehört habe, hat ihn mir nur im Licht eines unbesonnenen Stürmers gezeigt. Aber nie habe ich gehört, dass er etwas Niedriges getan hätte.“

„So glaubst du nicht, obwohl er es selbst zu Tondern gesagt hat, dass er sich um dich bewerben wird?“

Regina zuckte die Achsel. „Möglich, dass er es tut. Aber ich bin überzeugt, dass er mir dann keine Komödie vorspielt. Heucheln und lügen wird er nicht. Jedenfalls war es sehr überflüssig, dass Herr von Tondern uns diese peinliche Eröffnung machte. Er hätte uns das ersparen können.“

„Aber Kind, er meint es doch gut. Du weißt, dass er dich liebt. Kannst du es ihm verdenken, dass er dich vor einem Mitgiftjäger bewahren will? Er kann natürlich nicht wissen, dass Haßberg mit einem Korb abziehen muss, falls er die Kühnheit hat, um dich anzuhalten.“

Regina wandte der Tante ihr Gesicht zu. „Scheint es dir so ganz unmöglich, Tante Therese, dass ich auf eine Werbung Haßbergs eingehen könnte?“, fragte sie leise.

Die alte Dame sah sie betroffen an.

„Regina! Mein Gott, Kind, du erwägst doch nicht etwa so eine Möglichkeit?“

Die junge Dame richtete sich empor. Sie wollte etwas erwidern, presste aber dann die Lippen fest aufeinander und schwieg.

Erst nach einer Weile sagte sie mit erzwungener Ruhe: „Lass uns nicht mehr davon reden, Tante Therese, ich finde, es ist schon viel zu viel davon gesprochen worden! Du entschuldigst; wenn ich mich jetzt zurückziehe, ich habe noch zu arbeiten.“ Damit verließ sie das Zimmer.

Schon am nächsten Tag fand sich Hans von Haßberg in der Villa Baldus zur Besuchsstunde ein und ließ sich den beiden Damen melden.

Regina zuckte leise zusammen, als ihr der Diener die Karte überreichte.

Frau Ruthart war vielleicht noch erregter als Regina. Sie befand sich gerade unter den Händen ihrer Schneiderin bei einer Anprobe und konnte nicht gleich abkommen. Am liebsten hätte sie Haßberg abweisen lassen, aber dazu war es zu spät, da Regina schon anderen Befehl gegeben hatte. So kam es, dass Regina Haßberg allein empfangen musste.

Ein leises Zittern lief über sie hin, als sie nach dem Empfangszimmer hinüberschritt, und als sie über die Schwelle trat, war ihr zumute, als stocke ihr Herzschlag. Haßberg stand hoch aufgerichtet mitten im Zimmer und sah ihr mit einem Blick entgegen, der ihr tief in die Seele drang. Es war ein suchender, zweifelnder und doch flehender Blick, und Regina wurde wundersam von ihm berührt.

Mit einer tiefen Verbeugung trat er an sie heran. „Mein gnädiges Fräulein, ich wollte mir erlauben, Sie und Ihre verehrte Frau Tante nach meiner Rückkehr zu begrüßen. Zugleich wollte ich Ihnen nachträglich meine herzlichste Teilnahme ausdrücken. Sie haben Ihren Vater verloren, während ich in Südwest war.“

Impulsiv reichte ihm Regina die Hand.

„Es freut mich, Sie wiederzusehen, Herr von Haßberg. Und ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme. Bitte, nehmen Sie Platz! Tante wird sogleich erscheinen.“ Sie zeigte auf einen Sessel, und er ließ sich ihr gegenüber nieder. „Sie sind, wie ich hörte, in Ihr altes Regiment eingetreten, Herr Rittmeister“, fuhr Regina fort.

„So ist es, gnädiges Fräulein. Es trieb mich hierher zurück, obwohl ich wusste, dass man hier noch nicht vergessen haben würde, dass ich der tolle Haßberg hieß und war.“

Sie sah ihn mit ihren ernsten Augen groß an. Das war der Blick, wegen dem er sie bei sich die kritische Regina genannt hatte. Aber heute erschien ihm dieser Blick bei allem Ernst doch nicht ohne Güte und Wärme. Nicht kritisch war er, sondern besorgt. Das berührte ihn ganz seltsam.

„Man erzählte mir schon, Herr Rittmeister, dass Sie sich sehr verändert haben sollen“, sagte Regina mit einem leisen Lächeln.

„Ich glaube nicht, mein gnädiges Fräulein, dass jemand so recht ermessen kann, wie sehr ich mich in den letzten zwei Jahren verändert habe. Ich bin ein ganz anderer Mensch geworden, ich verstehe heute selbst nicht mehr, wie ich so toll und sinnlos in den Tag hineinleben konnte.“

Regina atmete auf. „Es kommt wohl für jeden Menschen die Stunde, da er Einkehr in sich selbst hält. Ich freue mich, dass diese Stunde für Sie gekommen ist. Wissen Sie, was mein Vater sagte, als er erfuhr, dass Sie nach Südwest gingen? Er hat gesagt: „Nun, da unten wird sich’s ja zeigen, ob noch etwas in ihm steckt. Entweder geht er nun ganz vor die Hunde oder er besinnt sich auf sich selbst. Ich hoffe das letztere, denn es wäre schade um ihn.“

Eine Weile blieb es still zwischen ihnen.

Dann richtete er sich straff empor. „Ich danke Ihnen, gnädiges Fräulein, dass Sie mir diesen Ausspruch Ihres Herrn Vaters wiederholten. Ich habe nicht geahnt, dass man in diesem Haus meiner so mild gedacht hat. Zwar hatte ich stets das Gefühl, dass Ihr Herr Vater ein verehrungswürdiger Mensch sei, aber nie hätte ich geglaubt, dass er mich seiner Beachtung würdigte. Und Sie, mein gnädiges Fräulein, hielt ich für eine strenge, kritische Sittenrichterin. Wissen Sie, wie ich Sie bei mir nannte?“

„Nun?“

„Sie müssen mir aber vorher Absolution erteilen.“

„Das will ich gern tun. Also wie nannten Sie mich?“

„Die kritische Regina.“

Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. „Wie kam ich denn zu diesem Namen?“

„Ich bildete mir ein, Ihre Augen sähen all mein Tun und Lassen mit kritischer Missbilligung an.“

Sie schüttelte den Kopf. „Kritische Missbilligung? O nein, die hat sicher nie in meinen Augen gelegen.“

„Wirklich nicht?“

„Nein, wirklich nicht. Vielleicht hat in meinem Blick zuweilen das Bedauern gelegen, dass Sie sich selbst so viel Schaden zufügen. Und vielleicht – vielleicht hätte ich Sie gern zuweilen ein wenig ermahnt und verwarnt – wie eine vernünftige große Schwester ihren unartigen Bruder.“

Er fasste schnell nach ihrer Hand und zog sie an seine Lippen. „Wenn Sie wüssten, wie wohl Ihre Worte mir tun“, stieß er hervor.

Hastig zog sie ihre Hand zurück. Sie erinnerte sich an Heinz von Tonderns Worte. Und wieder wuchs die Angst in ihr empor, Haßberg könne etwas tun, das ihn in ihren Augen herabsetzen musste. Wollte er wirklich um sie werben? Dann sollte er es offen und ehrlich tun, indem er ihr seine Lage schilderte und ihr eingestand, dass er nur nach ihrem Reichtum trachtete. Etwas anderes konnte ihn ja nicht zu ihr ziehen, meinte sie. Kam er offen zu ihr – wer weiß, ob sie ihm dann nicht, um ihm zu helfen, die Hand reichte. Aber wenn er ihr in niedriger Berechnung eine Komödie vorspielen wollte, dann würde sie ihn verachten müssen.

Schon wollte sie ein Wort der Abwehr hervorstoßen, aber in diesem Augenblick trat Frau Huthart ein. Sie begrüßte Haßberg höflich, jedoch mit sichtlicher Zurückhaltung. Nun kam ein oberflächliches Gespräch in Gang, und nach einigen Minuten erhob sich Haßberg, um sich zu verabschieden.

„Ich hoffe, Sie lassen sich zuweilen an unseren Donnerstagen bei uns sehen, Herr von Haßberg“, sagte Regina ruhig.

Einen Moment sah er sie mit aufleuchtendem Blick an. „Wenn Sie gestatten, werde ich gern von dieser Erlaubnis Gebrauch machen.“

***

Am nächsten Donnerstagabend war Tondern, wie fast immer, der erste Gast in der Villa Baldus, und seine Augen flimmerten heute noch unruhiger als sonst.

Er war kaum zehn Minuten da, als einige Offiziere eintrafen, darunter auch Trebin und Haßberg.

Tondern blickte scharf zu Regina hinüber, als er Haßberg eintreten sah. Sie hatte sich aber in der Gewalt und begrüßte ihn mit derselben ruhigen Freundlichkeit, wie sie alle ihre Gäste begrüßte.

Das war Tondern jedoch kein Trost, da er bemerkte, dass Haßberg sich an Reginas Seite hielt und sie sich anscheinend lebhaft mit ihm unterhielt.

Aber jetzt blitzte es wie Genugtuung in seinen Augen auf – er sah Melanie von Hausen eintreten und beobachtete sie und Haßberg nun fast unausgesetzt.

Trotz ihrer Leidenschaftlichkeit war aber Frau von Hausen sehr vorsichtig und begrüßte sich mit Haßberg in scheinbar ruhiger Freundlichkeit. Sie wusste ganz genau, dass sie von verschiedenen Seiten beobachtet wurde. Aber bei allem erzwungenen Gleichmut ließ sie Haßberg nicht aus den Augen, immer wieder suchte sie ein kurzes Alleinsein mit ihm herbeizuführen.

Haßberg wich ihr aus, so viel er konnte, er suchte aber, so oft es anging, Reginas Gesellschaft. Ein paar Mal wusste er sie so geschickt zu isolieren, dass er einige Worte allein mit ihr sprechen konnte. Aber das dauerte nie lange. Wie auf geheime Verabredung traten dann entweder Tondern oder Frau Melanie oder auch Frau Huthart an die beiden heran, um sie zu stören.

Mit geheimer Befriedigung bemerkte Tondern, dass Frau von Hausen Haßberg nicht aus den Augen ließ. Im weiteren Verlauf des Abends sah er dann einmal, dass sich Frau von Hausen in unterdrückter Erregung an Haßberg wandte, als er eine Weile allein am Fenster stand.

Er konnte nicht hören, was sie sagte, verstand doch Haßberg selbst kaum ihre hastig geflüsterten Worte: „Wann kommst du endlich zu mir? Ich warte noch immer.“ Tondern sah nur, wie sich Haßbergs Stirn zusammenzog. Ob er etwas erwiderte, konnte er nicht feststellen, aber er sah, dass Haßberg schnell von Frau von Hausen forttrat und sich zu Trebin gesellte, der eifrig mit Fräulein Gerta Werner plauderte. Frau von Hausen stand nun eine Weile allein und nagte nervös an den Lippen. Ihre Augen sprühten in leidenschaftlichem Zorn.

Da trat Tondern zu ihr. „Meine verehrte gnädige Frau, Sie wundern sich wohl auch, dass der tolle Haßberg jetzt einen so überaus soliden Eindruck macht?“

Melanie von Hausen blickte ihn mit blühenden Augen an. „Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich von der viel besprochenen Veränderung zu überzeugen, da ich noch kaum zehn Worte mit ihm gewechselt habe.“

Mit einem seltsam bedeutungsvollen Blick sah Tondern sie an. „Ja ja, er hat kaum noch Zeit für seine alten Freunde. Auch bei mir macht er sich rar. Aber man kann das verstehen – ebenso wie sein Bestreben, solid und vernünftig zu erscheinen. Er geht ja auf Freiersfüßen, er will bald ein ehrsamer Ehegatte werden.“

Jetzt zuckte Frau von Hausen doch zusammen und starrte ihn entgeistert an. Aber dann lachte sie nervös auf. „Sie scherzen natürlich, Herr von Tondern?“

„Keineswegs, gnädigste Frau, es ist mein Ernst.“

„Ach, gehen Sie, das ist Gerede! Das hat man Ihnen aufgetischt, um Sie irrezuführen.“

Er schüttelte den Kopf. „Nein nein, ich weiß es ganz positiv, aus der sichersten Quelle; nämlich von ihm selbst, dass er sich allen Ernstes um eine junge Dame bewirbt.“

Melanie von Hausen zerrte nervös an ihrem Spitzentaschentuch. Ihr Blick war unstet, und ihre Lippen zuckten. Aber sie versuchte sich zu beherrschen. „Der tolle Haßberg hat Ihnen da sicher ein Märchen aufgebunden. Die junge Dame dürfte wohl auf dem Mond zu suchen sein“, stieß sie hervor.

Tondern hielt ihren Blick fest. „O nein – viel näher – in diesem Haus, meine verehrte gnädige Frau“, sagte er langsam, jedes Wort betonend.

Mit einem funkelnden Blick sah Melanie zu Regina hinüber, die eben mit Haßberg ins Musikzimmer trat. Wie ein lebendes Bild hoben sich die beiden stolzen, schlanken Gestalten vom Türrahmen ab.

Tondern folgte Melanies Blick, und auch in seinen Augen glühte der Hass. Aber seiner galt Haßberg, während der Frau Melanies Regina galt.

Eine Weile standen sie schweigend und sahen auf die beiden schönen Menschen. Dann wandten sie sich langsam ab und sahen sich lange Zeit unverwandt an.

Endlich fragte die schöne Frau heiser:

„Warum haben Sie mir das gesagt, Herr von Tondern?“

Er zögerte einen Augenblick. Dann sagte er bedeutungsvoll: „Weil ich bei Ihnen Interesse dafür voraussetze und – weil ich eine Verbündete in Ihnen suche.“

Ihre Augen blitzten ihn an, sie verstand ihn. Mit einer hastigen Bewegung reichte sie ihm die Hand. „Die sollen Sie finden. Das da drüben, das trifft mich wie Sie. Ich weiß, Sie bemühen sich schon lange um Regina Baldus, und ich nun, hier ist nicht der Ort, davon zu sprechen. Aber ich würde mich freuen, wenn Sie mich bald einmal besuchten.“

Er verneigte sich. „Ich werde mir bald die Ehre geben. Ich glaube, wir haben einander mancherlei zu sagen.“

Sie sahen sich fest an. Dann gingen sie ohne ein weiteres Wort hinüber ins Musikzimmer.

Dort stand Regina noch neben Haßberg. Sie hatten über Griegsche Musik gesprochen, für die Haßberg schwärmte.

„Kennen Sie Griegsche Kompositionen, mein gnädiges Fräulein?“, fragte er.

Regina nickte. „Ja, ich kenne sie alle. Und seine Lieder singe ich gern.“

„Sie singen, mein gnädiges Fräulein?“, fragte er interessiert.

„Ein wenig, für den Hausgebrauch. Mein Vater hörte mich gern singen, da habe ich Unterricht genommen.“

„Dürfte ich so unbescheiden sein, Sie zu bitten, ein Griegsches Lied zu singen?“

„Das will ich gern tun“, sagte sie schlicht. „Bitte sagen Sie mir, welches Lied Sie hören wollen. Ich habe sie alle in meinem Notenvorrat.“

„Auch Solveigs Lied aus Peer Gynt?“, fragte er hastig.

Sie sah ihn an und wurde ein wenig rot. „Auch das. Es ist mein Lieblingslied.“

Seine Augen leuchteten auf. „Dann bitte ich darum.“

Sie neigte das Haupt und suchte die Noten heraus. Einer der anwesenden Herren, ein Musikprofessor, übernahm die Begleitung.

Ohne Ziererei, schlicht und einfach trat Regina neben ihn und begann zu singen.

Sie hatte eine klare, weiche, gut geschulte Stimme. Und sie sang Solveigs Lied mit einem wunderbaren Ausdruck, es kam aus einem reinen, gläubigen und vertrauenden Frauenherzen.

Atemlos lauschten die Zuhörer, jeder Laut war verstummt. Und atemlos lauschte auch Haßberg. Er lehnte dem Flügel gegenüber am Kamin und sah zu Regina hinüber.

Haßberg konnte seine Augen nicht von ihr lassen. Wie eine Lichtgestalt erschien sie ihm. Ein seltsam weiches, unbeschreibliches Gefühl stieg in ihm auf, ein Gefühl, wie er es seit seiner Kindheit nicht mehr gekannt hatte.

Als das Lied zu Ende war, fuhr er, wie aus einem Traum erwachend, empor und strich sich über die Augen. Er ließ den Beifall, mit dem man Reginas Vortrag belohnte, erst austoben. Auch dann trat er noch nicht an sie heran. Ihm war zumute, als bringe er zwischen all diesen Menschen kein Wort über seine Lippen. Und doch hätte er ihr mit warmen, herzlichen Worten danken mögen, dass sie dieses Lied gesungen, so gesungen hatte.

Erst als er nach einer Weile Regina allein durch das Nebenzimmer schreiten sah, trat er rasch an sie heran. „Mein gnädiges Fräulein, erst jetzt vermag ich es, Ihnen zu danken.“

Sie sah zu ihm auf. „Wofür wollen Sie mir danken, Herr Rittmeister?“

„Für das Lied, das Sie eben gesungen haben – für Solveigs Lied. Als ich kürzlich in Berlin weilte, habe ich mir im Theater Peer Gynt angesehen und hörte da auch Solveigs Lied singen. Es wirkte schon damals auf mich wie ein Gesang aus einer verschwundenen Zeit, nach der ich mich unbewusst gesehnt habe. Sie haben Solveigs Lied gesungen, als käme es aus Ihrem eigenen Herzen.“

Regina errötete, aber sie behielt sich in der Gewalt. „Mein Vater pflegte zu sagen: Wer nicht aus dem Herzen heraus singen kann, der soll es sein lassen. Wenn ich singe, muss ich mit ganzer Seele dabei sein, sonst tue ich es lieber nicht.“

„Das war es, was mich packte. Ich spürte Ihr warmes Empfinden in Ihren Tönen – das Empfinden einer Solveig. Ob es wirklich noch Frauen gibt wie Solveig? Frauen, die nie müde werden, zu warten, wenn der Mann im dunklen Drang auf falsche Wege gerät? Frauen, die nicht müde werden, Treue zu halten?“

Ihr Blick wich dem seinen nicht aus. Groß und voll sah sie ihn an. „Ja, es gibt solche Frauen“, sagte sie ernst. „Die tragen freudig und ohne Zagen das Martyrium des Wartens – wie Solveig es getragen hat.“

Er atmete schwer auf und sah ihr tief in die Augen.

„Eine, die gedacht –

und einer, der vergessen,

Eine, die entsagt –

und einer, der vermessen.“

Diese Worte Peer Gynts sagte er leise vor sich hin, wie zu sich selbst. Sie zwang ihren Blick los aus dem seinen und sah an ihm vorbei. Und da trafen ihre Augen in die Melanie von Hausens, die mit einem lauernden, hasserfüllten Ausdruck auf ihr ruhten. Sie erschrak und trat unwillkürlich einen Schritt von Haßberg fort.

Er war ihrem Blick gefolgt, auch er sah Frau Melanies hasserfüllten Blick. Fest biss er die Zähne aufeinander.

Regina aber wehrte die weiche Stimmung von sich ab, die sie befallen hatte. Sie musste wieder daran denken, was Tondern ihr gesagt hatte.

„Du bist für ihn nur die reiche Partie“, dachte sie. Und der Stolz zog ihr das Haupt in den Nacken. Vielleicht spielte Haßberg ihr doch nur eine Komödie vor, um sie zu fangen. Welche Gründe sollte er sonst haben, sich um sie zu bemühen, wenn es nicht ihres Reichtums wegen geschah? Bisher hatte er sie nie beachtet. Und jetzt plötzlich befasste er sich so auffallend mit ihr? Warum? Ein brennendes Weh durchzog ihre Seele. Sie hätte weinen mögen. „Hilf, Gott lass mich nicht erleben, dass er meiner Liebe unwürdig ist!“ Wie ein Gebet stieg es in ihr auf.

Mit einer hastig hervorgestoßenen Entschuldigung ließ sie Haßberg stehen und wandte sich einer Gruppe von Herren und Damen zu. Als sie aber verstohlen zu ihm zurückblickte, entdeckte sie, dass er ihr mit dem seltsam suchenden Blick nachsah, der ihr schon wiederholt an ihm aufgefallen war.

***

Einige Wochen vergingen, inhaltsschwere Wochen, in denen sich am Himmel vieler Völker Kriegswolken zusammenballten. Noch herrschte Frieden, aber es gärte gefährlich unter der Oberfläche.

Haßberg hatte sich vollständig wieder in den alten Kreis eingelebt, aber diejenigen seiner Kameraden, die angenommen hatten, er werde die ernsthafte Stimmung abschütteln und wieder der tolle Haßberg werden, sahen sich getäuscht. Er blieb der ernste, stille Mensch, selbst seine sarkastischen und ironischen Ausfälle milderten sich.

Viel Verkehr pflegte er nicht. Er schien Geschmack an der eigenen Gesellschaft gefunden zu haben, wenn er auch nach wie vor im Kasino und in der Grunowschen Weinstube mit den Kameraden ein Stündchen beisammensaß.

Haßberg hatte zu Abend gegessen und warf sich müde auf den Diwan. Er ließ sich von seinem Burschen das Rauchertischchen herbeirücken und zündete sich eine Zigarette an. Das Fenster stand weit offen, und die schwüle Luft von draußen drang ins Zimmer.

Es war ein gewitterschwüler Abend in den letzten Tagen des Juli.

Der Bursche räumte den Tisch ab und bat dann um ein paar Stunden Urlaub. Haßberg bewilligte ihn sofort.

Kaum hatte sich der Bursche entfernt, als draußen die Flurklingel ertönte. Haßberg überlegte erst, ob er öffnen solle. Lust, Besuche zu empfangen, hatte er nicht. Der Einlassbegehrende war sicher ein Kamerad, der mit ihm plaudern wollte. Aber wenn er von unten gesehen hatte, dass in seinen Zimmern Licht brannte, dann sah es doch unfreundlich aus, wenn er nicht öffnete.

Während er noch überlegte, klingelte es zum zweiten Mal und zwar sehr heftig. Da sprang er auf, um zu öffnen.

Als er die Flurtür aufmachte, drängte sich rasch eine tief verschleierte Dame an ihm vorbei in die Wohnung. Sie trug einen langen, dunklen Mantel. Da der Korridor nur schwach erhellt war, konnte Haßberg die verschleierte Dame nicht erkennen. Als er betroffen einen Schritt zurücktrat, warf sie schnell die Tür ins Schloss.

„Meine Gnädigste, Sie haben sich wohl in der Tür geirrt?“, sagte er ruhig in der Meinung, der Besuch gelte seinem Nachbarn.

Da stellte sich die Dame in den Lichtschein, der aus dem Zimmer fiel und schlug den Schleier zurück. „Nein, ich habe mich nicht geirrt“, sagte sie mit gepresster Stimme.

Erschrocken blickte Haßberg in das Gesicht Melanie von Hausens. „Gnädige Frau, welche Unvorsichtigkeit! Wenn man Sie gesehen hätte!“, sagte er unwillig.

Sie warf den Kopf zurück. „Ist das alles, was du zu sagen hast? Ich komme zu dir, weil du nicht zu mir kommst. Ich habe mit dir zu reden. Dein Bursche ist fortgegangen, ich weiß, dass du allein bist. Du siehst, gar so unvorsichtig war ich nicht.“

Sie trat nun ohne weiteres in das offen stehende Zimmer und warf das Schleiertuch, das ihren Kopf verhüllte, auf einen Sessel. Dann entledigte sie sich auch ihres Mantels.

Haßberg half ihr nicht dabei. „Ich dulde nicht, dass Sie hier bleiben, gnädige Frau. Jeden Augenblick kann einer meiner Kameraden kommen“, sagte er fast schroff und hob den Mantel empor, um ihn ihr wieder umzulegen.

Mit einer energischen Bewegung schob sie den Mantel zurück und ließ sich in den Sessel gleiten. „Ich bleibe, bis ich mit dir gesprochen habe, was ich für nötig halte“, sagte sie entschlossen.

Da legte er den Mantel wieder hin, schloss die Zimmertür und stellte sich ihre gegenüber. „So sprechen Sie, gnädige Frau!“

Sie glühte ihn mit ihren leidenschaftlichen Augen an. „Noch immer diese formelle Anrede! Lass doch das lächerliche ’gnädige Frau’ beiseite, wenn wir allein sind! Das ist eine Farce, die im Beisein von anderen am Platz ist. Du hattest doch einmal andere Namen für mich. Hast du das vergessen?“

Kein Zug in seinem Gesicht veränderte sich. Er sah kalt und unbewegt auf sie herab. „Nein, ich habe nicht vergessen, dass wir beide uns einmal verloren hatten in einem Rausch. Aber dieser Rausch ist verflogen, er war es schon, ehe ich nach Südwest ging. Ich habe Ihnen schon damals gesagt, dass alles zwischen uns aus sein muss.“

„Ja, weil du die Rechte meines Mannes respektiertest, so sagtest du damals. Du sagtest mir auch, dass du dich schweren Herzens von mir zurückzögest. Jetzt braucht dich keine Rücksicht mehr von mir fernzuhalten; ich bin frei – und ich bin bereit, dir meine Hand zum Bund fürs Leben zu reichen.“

Haßberg richtete sich hoch auf. „Sie verschwenden Ihre Güte an einen, der sie nicht zu würdigen versteht, gnädige Frau. Ich habe nicht die Absicht, Sie ihrer Freiheit zu berauben. Sie hätten sich und mir diese peinliche Szene ersparen können, denn ich habe Sie über meine Gefühle nicht im Unklaren gelassen. Meine Beziehungen zu Ihnen waren abgebrochen, als ich nach Südwest ging. Es ist für Sie und für mich das Beste, wenn ich das so unumwunden ausspreche, aber wir müssen beide klar sehen, wie wir zueinander stehen.“

Sie sprang auf und trat dicht an ihn heran. „Denkst du, ich weiß nicht, warum ich dir auf einmal nichts mehr gelte? Weil du die Hand ausstreckst nach einer anderen, die dir größeren Reichtum zu bieten hat als ich“, stieß sie erregt hervor.

Er trat einen Schritt zurück. „Ich gestehe Ihnen keinerlei Berechtigung zu, sich in meine privaten Angelegenheiten zu mischen.“

Sie ballte die Hände zusammen. „Ich werde aber nicht ruhig zusehen, wie du dich um Regina Baldus bewirbst.

Er zuckte zusammen, seine Stirn rötete sich jäh. „Ich verbiete Ihnen, diesen Namen zu nennen – er ist mir heilig“, sagte er mit Nachdruck.

Sie lachte zornig. „Heilig? Dem tollen Haßberg eine Frau heilig? Warum war ich es dir nicht, als du mich betörtest?“

In seinem Gesicht zuckte es nervös. Einen Moment zögerte er, dann sagte er ernst: „Weil Sie selbst sich nicht heilig gehalten haben, gnädige Frau. Verzeihen Sie mir – aber ich muss das aussprechen, um mich gegen Ihre Anschuldigungen zu verteidigen!“

Sie war zusammengezuckt, das Blut schoss ihr ins Gesicht. Dass er Recht hatte, wusste sie nur zu gut.

Ihn mit brennenden Augen ansehend, sagte sie: „Wir wollen uns gegenseitige Vorwürfe ersparen. Aber was zwischen uns liegt, verpflichtet dich mir, und ich erwarte, dass du mir Genugtuung gibst, indem du mich zu deiner Frau machst.“

Er biss die Zähne so fest zusammen, dass die Muskeln in seinem Gesicht sich strafften. Seine Augen aber blickten hart und finster. „Dazu erkenne ich keine Verpflichtung an. Wenn ich einer Frau meine Hand anbiete, kann es nur eine sein, der ich volles Vertrauen entgegenbringe und von der ich nicht befürchten muss, dass sie mir untreu wird“, sagte er fest.

Sie hob im maßlosen Zorn die Hand, als wolle sie ihn schlagen.

Er trat zurück.

Sie zitterte vor Erregung am ganzen Körper. „Das mir! Das mir!“, rief sie außer sich.

Er war blass geworden. „Verzeihen Sie, gnädige Frau, ich habe das nicht gern gesagt. Aber da Sie diese Unterredung erzwungen haben, soll auch reiner Tisch zwischen uns gemacht werden. Ich weiß, dass ich eben unritterlich gegen Sie war – aber ich musste es sein. Bitte, lassen Sie uns diese peinliche Unterredung beenden! Sie lieben mich ebenso wenig, wie ich Sie liebe. Ein Rausch hat uns in einer törichten Stunde zusammengeführt in diesem Rausch, der bei mir längst verflogen ist, hat bei Ihnen wohl länger angehalten. Aber auch Sie werden daraus erwachen und mir vielleicht noch danken, dass ich Sie nicht fürs ganze Leben an mich fesselte. Wir passen nicht zusammen, glauben Sie es mir. Ihrer ersten verfehlten Ehe würde eine zweite, noch verfehltere folgen. Ich bitte Sie, gehen Sie nach Hause!“

Sie lachte schneidend auf. „Ich soll mich damit bescheiden, von dir einfach nach Hause geschickt zu werden, damit du dich ungestört um die Millionenerbin bewerben kannst? O nein, mein Lieber. Ehe ich es dulde, dass du kaltblütig über mich hinwegschreitest, um deine Hand nach Regina Baldus auszustrecken – eher schieße ich dich nieder!“

Mit einem raschen Griff zog sie einen Revolver aus ihrem Kleid und hielt ihn Haßberg entgegen. Aber er war schneller als sie und umfasste mit festem Griff ihr Handgelenk. Der Schuss entlud sich und zertrümmerte das Zifferblatt einer kleinen Wanduhr.

Ruhig entwand er ihrer Hand die zierliche Waffe und steckte sie zu sich. „Mit solchen Dingen soll man keinen Scherz treiben, gnädige Frau. Das ist kein Spielzeug für nervöse Frauen. Sie gestatten, dass ich die Waffe in Verwahrung nehme – zu Ihrem eigenen Heil.“

Melanie sank totenbleich in einen Sessel und starrte ihn an. Seine Ruhe wirkte wie kaltes Wasser auf ihre Erregung. Mit starren Augen sah sie dann zu der zertrümmerten Uhr hin.

Sie hatte die Waffe zu sich gesteckt, teils aus Effekthaschereiteils um ihn an den Ernst der Situation glauben zu lassen. Wirklich auf ihn zu schießen, hatte wohl kaum in ihrer Absicht gelegen, und als der Schuss losging, war sie mehr erschrocken als Haßberg. Wenn sie ihn getroffen hätte, wenn er jetzt hier tot vor ihr liegen würde?

Ein Schauder des Entsetzens kam über sie. Sie schloss die Augen. Im Geist sah sie sich als Mörderin auf der Anklagebank. War es Haßberg wert, dass sie sich seinetwegen ins Unglück stürzte?

Sie schüttelte sich wie im Fieber und sah so elend und verfallen aus, dass er Mitleid mit ihr fühlte.

Er trat zu ihr. „Kommen Sie zu sich, gnädige Frau, es ist ja nichts geschehen!“

Sie sah zu ihm wie aus einem schweren Traum erwachend auf, dann erhob sie sich mit zitternden Knien. „Ich will nach Hause“, stieß sie hervor.

Er half ihr in den Mantel und legte ihr das Schleiertuch um. „Sie müssen mir gestatten, gnädige Frau, Sie bis zu einem Wagen zu begleiten. Sie sind erregt und bedürfen eines Schutzes“, sagte er milder als zuvor.

Willenlos fügte sie sich.

Haßberg war schnell ins Nebenzimmer getreten und hatte sich zum Ausgehen fertig gemacht. Nun kam er zurück. Er verneigte sich vor Melanie und bot ihr den Arm. Sie legte ihre bebende Hand darauf.

So führte er sie hinaus. Schweigend schritten sie die Treppe hinab. Im Haus war es still. Aber als sie aus dem Haustor treten wollten, stand plötzlich ein Herr vor ihnen, der das Haus betreten wollte. Es war Heinz von Tondern. Wie im höchsten Erstaunen trat er zurück, lächelte diskret, grüßte Haßberg und ging schweigend davon.

Haßberg war diese Begegnung hauptsächlich Melanies wegen sehr peinlich. Besorgt prüfte er die Dichtigkeit ihres Schleiers, und als sie ein Stück weitergegangen waren, sagte er beruhigend: „Herr von Tondern kann Sie unmöglich erkannt haben. Ihr Schleier ist sehr dicht. Ein Glück, dass er nicht früher kam! Sicher wollte er mich besuchen.“

Sie antwortete nicht.

Haßberg ahnte ja nicht, dass diese Begegnung mit Tondern ein abgekartetes Spiel war. Melanie hatte mit Tondern verabredet, dass er sie in Haßbergs Wohnung überraschen sollte. Dann wäre sie so kompromittiert, dass Haßberg sie heiraten müsste.

Melanies leidenschaftliche Natur war aber mit ihr durchgegangen. So war es gekommen, dass sie früher als verabredet Haßbergs Wohnung verließ. Erst als sie Tondern erblickte, gedachte sie der Verabredung mit ihm. Und da machte sie ihm verstohlen ein Zeichen, er solle sich ohne weiteres entfernen. Haßberg bemerkte es nicht. Aber Tondern verstand und ging davon.

Dass er Melanie und Haßberg anscheinend in schönster Eintracht Arm in Arm das Haus verlassen sah, erfüllte Tondern mit der frohen Hoffnung, dass Frau Melanie ohne seine Beihilfe zum Ziel gekommen wäre.

Er ging befriedigt von dannen.

Haßberg brachte Melanie zu einem Wagen. „Leben Sie wohl, gnädige Frau, und wenn Sie können, so verzeihen Sie mir, dass ich jemals in ihr Leben getreten bin“, sagte er.

Sie warf sich in die Polster des Wagens und machte eine abwehrende Bewegung. Sprechen konnte sie nicht. Sie befand sich in einem jammervollen Zustand. Die Erregung der letzten Wochen, das zermürbende Warten, der eifersüchtige Groll, alles das hatte ihre Nerven aufgepeitscht. Der Augenblick, da sie die Waffe auf Haßberg anlegte, war der Höhepunkt ihrer Erregung gewesen. Beim Krachen des Schusses war ihre Kraft zusammengebrochen; nun war sie wie zerschlagen an allen Gliedern. Das Grauen vor sich selbst und vor dem, was sie beinahe angerichtet hätte, schüttelte sie wie ein Fieber. So fuhr sie nach Hause und warf sich todmatt auf ihr Lager.

Am nächsten Morgen gab sie ihrer Jungfer Befehl, sofort ihre Sachen zu packen. Sie wollte verreisen, nach Ostende.

Heinz von Tondern aber begab sich am nächsten Tag nach der Villa Baldus. Er fand Gelegenheit, Frau Ruthart vertraulich mitzuteilen, dass er den Rittmeister Haßberg gestern Abend Arm in Arm mit einer verschleierten Dame aus seiner Wohnung habe kommen sehen.

Tante Therese nahm diese Mitteilung so auf, wie es Tondern wünschte. Sie war entrüstet und nahm sich vor, Regina alles zu wiederholen.

Das war Tondern die Hauptsache. Er selbst konnte einer jungen Dame gegenüber über diese Begegnung nicht sprechen, dazu war das zu heikel. Aber durch ihre Tante konnte sie es erfahren.

Heute verzichtete Tondern sogar darauf, zu warten, bis Regina erschien, obgleich Frau Ruthart ihm sagte, sie werde bald von einem kurzen Ausgang zurückkehren. Er schützte eilige Geschäfte vor und ging.

Tante Therese wartete ungeduldig auf Reginas Heimkehr. Kaum war sie eingetroffen, erzählte ihr die Tante, was Tondern ihr berichtet hatte.

Reginas Gesicht wurde blass. „Wer hat dir das gesagt, Tante Therese?“, fragte sie tonlos.

„Herr von Tondern, er war soeben hier.“

Regina blickte starr vor sich hin. Sie traute Tondern längst nicht mehr. Alles was er ihr direkt oder indirekt über Haßberg zutrug, war immer dazu angetan, diesen bei ihr herabzusetzen. Er tat das sicher in einer bestimmten Absicht, und deshalb glaubte sie nicht alles!

Am nächsten Morgen unternahm sie, wie gewöhnlich, ihren Spazierritt in Begleitung des Konsuls und seiner Tochter Gerta.

In letzter Zeit hatte Haßberg es oft einzurichten gewusst, dass er mit Regina und Werners bei diesen Ausritten zusammentraf. Meist war er mit Trebin zusammen, mit dem der sich besonders befreundet hatte. Und da Trebin auch ein lebhaftes Interesse daran hatte, dem Konsul und den beiden Damen zu begegnen, so traf es sich oft, dass die beiden Herren der kleinen Gesellschaft begegneten.

So geschah es auch an diesem Morgen.

Regina zeigte sich aber heute wieder kühler, als in letzter Zeit. Tonderns Neuigkeit hatte doch einen Stachel zurückgelassen.

Haßberg merkte sofort, dass sie verstimmt war. Er hatte gelernt, in ihrem Antlitz zu lesen. Trotz ihrer stillen Abwehr richtete er es so ein, dass er an ihre Seite kam. Vor ihnen ritt Gerta Werner zwischen ihrem Vater und Trebin, und ihr helles, frohes Lachen scholl zu den beiden zurück.

Sie ritten im langsamen Tempo, so dass eine Unterhaltung möglich war. Aber zwischen Haßberg und Regina wollte keine aufkommen, obwohl er sich alle erdenkliche Mühe gab.

Schließlich schwieg auch er und sah von der Seite in Reginas schönes, stilles Gesicht. Ihm kam es vor, als läge ein trauriger, müder Ausdruck in ihren Augen. Instinktiv fühlte er, dass sie gegen ihn beeinflusst worden war.

Mit einem tiefen Atemzug neigte er sich vor und sah ihr in die Augen. „Ist Solveig müde geworden? Hat sie den Glauben an Peer Gynt verloren?“, fragte er leise.

Sie sah in seine Augen hinein, die so viel Macht über sie hatten, und um ihren Mund lag ein weher Ausdruck. Aber sie antwortete nicht, sondern trieb ihr Pferd an, um den anderen nachzukommen. Der Konsul wandte sich nach ihr um und ritt nun eine Weile an ihrer Seite. Er plauderte lebhaft mit Haßberg und Regina, während sich Gerta und Trebin ihres Alleinseins freuten.

Regina vermied es, nochmals mit Haßberg allein zu sein. Aber sie konnte es nicht verhindern, dass er sie immer wieder mit seinem flehenden Blick ansah.

Als er sich dann auf dem Heimweg von ihr verabschiedete, sah er sie wieder fest an und sagte leise und flehend: „Solveig!“

Das Blut schoss ihr ins Gesicht. Wieder kam die Angst über sie, er könne ihr Komödie vorspielen.

Als sie dann heimritt, nachdem sie sich stumm von ihm verabschiedet hatte, reifte ein Entschluss in ihr, mit dem sie sich schon lange herumgetragen hatte. Sie wollte diesem unklaren Zustand ein Ende machen.

Zu Hause angelangt, kleidete sie sich um und begab sich in ihr Arbeitszimmer. Dort schloss sie sich ein, um nicht gestört zu werden. Sie musste allein sein bei dem, was sie tun wollte.

Eine Weile stand sie mit auf das Herz gepressten Händen vor ihrem Schreibtisch und starrte vor sich hin. Dann ließ sie sich schnell nieder, legte einen Briefbogen bereit und ergriff die Feder.

Wieder zögerte sie eine Weile, aber dann flog die Feder eilend über das Papier.

***

Haßberg ging vom Dienst nach Hause. Sein Gesicht war sehr ernst. In den Morgenzeitungen hatte die Kunde von Österreichs Kriegserklärung an Serbien gestanden.

Während er nach Hause ging, dachte er, dass jede Minute die Entscheidung bringen könne, ob auch Deutschland zu den Waffen greifen würde oder nicht.

In seine Gedanken hinein drängte sich ein schönes, ernstes Mädchengesicht, das ihn mit großen, bangen Augen ansah.

„Solveig.“ Mit einer tiefen Zärtlichkeit sprach er den Namen vor sich hin. Solveig nannte er Regina jetzt immer bei sich. Sie verkörperte ihm diese Ibsensche Frauengestalt. In ihr sah er mehr und mehr das, was er immer vergeblich gesucht hatte – die reine, gläubige, treue Frau. Ein weiches Gefühl wallte in ihm auf, ein Gefühl, das wie fromme Andacht seine Seele erfüllte.

So kam er nach Hause.

Während er mit Hilfe seines Burschen die Kleider wechselte, fragte er: „War in meiner Abwesenheit jemand da?“

„Zu Befehl, Herr Rittmeister, ein Briefträger mit einem Einschreibebrief. Er will auf dem Rückweg noch einmal wiederkommen.“

Haßberg maß dieser Angelegenheit keine Wichtigkeit bei. „Sonst nichts?“, fragte er.

„Zu Befehl, Herr Rittmeister, sonst nichts.“

Haßberg zündete sich eine Zigarette an. Dann warf er sich auf den Diwan, um ein wenig zu schlafen.

Kaum hatte er die Augen geschlossen, da klingelte es draußen. Der Briefträger war wieder da mit dem Einschreibebrief.

Ohne aufzustehen, schrieb Haßberg seinen Namen unter die Quittung und entließ seinen Burschen damit.

Etwas verwundert sah er auf das schmale, feine Kuvert. Die Adresse war von einer festen Hand geschrieben, die Schriftzüge waren klar und schienen, obwohl sie sehr energisch waren, von einer Frauenhand herzurühren.

Die Schrift war ihm völlig unbekannt.

Schon wollte er den Brief neben sich auf den Tisch legen, um ihn zu lesen, wenn er ausgeschlafen hatte. Aber im letzten Moment besann er sich anders.

Hastig schlitzte er das Kuvert auf und zog zwei Briefbogen heraus. Und als er auf der letzten Seite nach dem Namen suchte, sprang er plötzlich empor und starrte darauf nieder.

Regina Baldus

Da stand ihr Name in festen, klaren Zügen.

Mit einem tiefen Atemzug auf den Diwan zurücksinkend, begann er zu lesen:

Sehr geehrter Herr von Haßberg! Es ist ein sehr ungewöhnlicher Schritt, zu dem ich mich entschlossen habe, indem ich an Sie schreibe. Aber ich weiß mir nicht anders zu helfen. Es ist mir nicht leicht geworden, alle Bedenken beiseite zu setzen, die mich vor diesem Schritt warnten, aber ich tue, was ich muss, und hoffe, es vor mir selbst verantworten zu können.

Herr von Tondern hat mir, noch ehe Sie uns nach Ihrer Rückkehr von Südwest besuchten, mitgeteilt, Sie hätten ihm gegenüber die Absicht ausgesprochen, um mich zu werben.

Als Haßberg soweit gelesen hatte, ließ er einen Moment den Brief sinken. Eine heiße Röte schoss in sein Gesicht, und er stieß zwischen den Zähnen eine wenig schmeichelhafte Bemerkung über Tondern hervor.

Dass dieser schleunigst zu Regina laufen und ihr seine Absicht verraten würde, wäre ihm in seiner Offenheit undenkbar erschienen. Aber da er es von Regina erfuhr, hielt er es auch für möglich, dass Tondern Regina diese Nachricht in entstellender Weise überbracht hatte. Mit finsterer Miene las er weiter:

Ich weiß genau, dass ich Ihnen bis zu Ihrer Abreise nach Südwest gleichgültig war, und kann mir denken, dass die „kritische Regina“, wie Sie mich bei sich zu nennen pflegten, einen wenig günstigen Eindruck auf Sie gemacht hat. Es kann also unmöglich Zuneigung sein – von Liebe gar nicht zu reden –, was Sie zu dem Entschluss, sich um mich zu bewerben, getrieben hat. Als mir Herr von Tondern diese Mitteilung machte, glaubte ich zuerst, Sie hätten ihn in einer übermütigen Laune zum Narren gehalten.

Aber aus Ihrem späteren Verhalten mir gegenüber glaube ich entnehmen zu können, dass Sie wirklich im Ernst diese Absicht haben. Nun suche ich vergeblich nach einem Grund für diese Ihre Absicht. Ich habe Sie stets, trotz allem, was man mir über Sie zutrug, für einen ritterlichen, ehrlichen Charakter gehalten. Das, was Ihnen den Namen „der tolle Haßberg“ eintrug, hat meines Erachtens den wahren Kern Ihres Wesens nicht beeinflussen können. Ich habe stets an das Gute in Ihnen geglaubt, und mein Vater, der ein großer Menschenkenner war, tat es auch. Einer Niedrigkeit hielt ich Sie nie für fähig. Und darum fällt es mir nicht zu schwer, Ihnen jetzt mein unbegrenztes Vertrauen entgegenzubringen. Ich beweise Ihnen das dadurch, dass ich mich mit diesem Brief bedingungslos in Ihre Hände gebe, indem ich Ihnen offen und ohne Rückhalt gestehe, dass ich Sie liebe.

Ich mache Ihnen dieses Geständnis in dem festen Vertrauen auf Ihre Ritterlichkeit und in der festen Überzeugung, dass Sie keinen Missbrauch damit treiben. Dieses Geständnis soll Sie nur überzeugen, dass ich mit meinem ganzen, unbegrenzten Vertrauen zu Ihnen komme.

Meine Liebe zu Ihnen, die ich immer wunschlos und still im Herzen trug, sollte nie einem Menschen offenbar werden, am wenigsten Ihnen. Dass ich sie jetzt preisgebe, muss Sie überzeugen, dass ich zwingende Gründe dafür habe. Immer habe ich gebangt, eines Tages könnte die Stunde kommen, in der ich einsehen müsste, da ich meine Liebe einem Mann schenkte, der dieser Liebe unwert ist. Diese Stunde würde kommen, wenn ich einsehen müsste, dass Sie sich nur meines Geldes wegen um mich bewerben und mir dabei eine Komödie vorspielen, die mir wärmere Gefühle vortäuschen soll.

Es würde mich vor mir selbst erniedrigen, müsste ich erkennen, dass ich einen Mann liebte, der einer niedrigen Berechnung fähig wäre. Ich kann es aber nicht länger ertragen, schweigend zuzusehen, wie Sie sich um mich bemühen.

Es ist eine so heiße Angst in mir, dass ich Ihnen zurufen muss: Soweit dürfen Sie sich nicht verlieren, dass Sie da Liebe heucheln, wo sie keine empfinden! Um das zu verhindern, beuge ich mich in den Staub vor Ihnen mit meinem Bekenntnis, das mir schwer genug geworden ist. Kraft meiner selbstlosen Liebe beschwöre ich Sie, mir keine Gefühle zu heucheln, die Sie nicht wirklich empfinden. Müssen Sie mein Geld haben und wollen Sie nicht als Geschenk oder als Darlehen von einer Frau annehmen, was Sie brauchen, so will ich Ihnen meine Hand reichen, ohne dass Sie darum mit erheuchelten Gefühlen werben müssen. Ich will dann als Ihr guter Kamerad neben Ihnen gehen. Ich verlange nichts, gar nichts von Ihnen, als dass Sie mir in jeder Lage Ihr ehrliches Gesicht zeigen, so dass ich mir sagen kann, dass meine Liebe keinem Unwürdigen gehört.

Bitte, bleiben Sie mir auf alle Fälle einige Tage fern und überlegen Sie in Ruhe, was Sie tun wollen. Auch ich bedarf einiger Zeit, um mein Gleichgewicht wiederzufinden. Ich hoffe dann von Ihnen zu hören. Sie sollen keinerlei Rücksicht auf mein Empfinden nehmen. Nur um eins bitte ich zum Schluss nochmals: Handeln Sie so, dass ich Sie auch in Zukunft hoch achten kann, und ersparen Sie es mir, vor mir selbst erröten zu müssen. Denn wenn ich mein Geständnis einem Unwürdigen gemacht hätte – das würde ich nie verwinden.

Ich bitte Sie um brieflichen Bescheid, wenn Sie zu einem Entschluss gekommen sind. Ich werde Ihnen dann mitteilen, wann ich imstande bin, Sie zu sehen. Erst muss ich die Beschämung über diesen ungewöhnlichen Schritt überwinden, den ich doch tun musste, um Sie vor sich selbst zu behüten.

Regina Baldus

Mit einem tiefen Atemzug ließ Haßberg den Brief sinken und sah lange, in tiefes Sinnen verloren, vor sich hin. In seinen Augen lag ein feuchter Schimmer. Wie in zärtlicher Liebkosung drückte er das Schreiben an seine Wange, an sein Herz.

Am liebsten wäre er sofort zu Regina geeilt und hätte ihr gesagt, was sein Herz bewegte. Aber er sah ein, dass er ihren Willen ehren musste. Was dieses Geständnis sie gekostet hatte, konnte er wohl ermessen. Er wusste, dass sie aus ihrem Gleichgewicht gerissen war und dass er ihr Zeit lassen musste. Aber es trieb ihn doch, ihr wenigstens ein Zeichen zu geben, dass er ihren Brief erhalten und wie er auf ihn gewirkt hatte.

Langsam erhob er sich und trat an seinen Schreibtisch. Dann schrieb er:

Treue, angebetete Regina!

Heißen, innigen Dank für Ihr großmütiges Schreiben. Ich warte in Sehnsucht, dass ich zu Solveig kommen darf, um meine Knie in Andacht vor ihr zu beugen und ihre lieben Hände zu küssen. So viel habe ich Ihnen zu sagen. Werden Sie mich bald rufen?

In tiefster Verehrung Ihr treu ergebener

Hans von Haßberg

Als er das Schreiben kuvertiert und adressiert hatte, rief er seinen Burschen und trug ihm auf, den Brief sofort nach der Villa Baldus zu tragen, ihn aber nur in die Hände von Fräulein Regina Baldus zu legen.

Als der Bursche sich entfernt hatte, lass Haßberg Reginas Brief nochmals durch; dann barg er ihn in seiner Brieftasche.

Mit einem frohen Gefühl, wie er es seit seiner Knabenzeit nicht mehr empfunden hatte, warf er sich wieder auf den Diwan und träumte vor sich hin. Ihm war, als höre er leise aus weiter Ferne Solveigs Lied, von Regina gesungen, zu sich herübertönen. Wie wundervoll sie es an jenem Abend, da er sie darum bat, gesungen hatte! Für ihn, aus ihrem reichen, liebevollen Herzen heraus, hatte sie es gesungen, das wusste er jetzt.

Zu seinem Erstaunen erfuhr Tondern in Frau Melanies Villa, dass sie vor einer Stunde nach Ostende gereist sei. Das Hausmädchen berichtete ihm auf seine Frage, ob die gnädigste Frau nichts für ihn zurückgelassen habe, dass sie selbst einen an seine Adresse gerichteten Brief in den Kasten gesteckt habe.

In Gedanken versunken, ging Tondern davon. Er wusste nicht, wie er sich die plötzliche Abreise Melanies, die sie doch vorher nicht beabsichtigt hatte, deuten sollte.

Was war geschehen, dass sie ihren Entschluss so plötzlich änderte? Sicher hing das mit Haßberg zusammen.

Mit Unruhe erwartete er den Brief, von dem das Hausmädchen gesprochen hatte. Mit der Abendpost kam er zu seiner Enttäuschung nicht. Er musste sich bis zum nächsten Morgen gedulden. Da endlich kam der Brief an, aber er enthielt nur wenige Worte.

Lieber Herr von Tondern! Ich fahre heute für einige Wochen nach Ostende. Meine Nerven verlangen dringend nach Erholung. Die Unterredung mit Herrn von Haßberg hat mich sehr erregt, aber sie hat zu einem friedlichen Abschluss unserer Beziehung geführt. Mehr kann ich Ihnen nicht darüber sagen. Ich bin in großer Eile und begrüße Sie freundlichst

Ihre Melanie von Hausen

Kopfschüttelnd sah Tondern auf den Brief herab. Was sollte das heißen? Ihre Unterredung mit Haßberg hatte sie erregt, hatte aber zu einem friedlichen Abschluss geführt. Was für ein friedlicher Abschluss war das? Hatte sich Haßberg bereit erklärt, sie zu heiraten?“

Weil er hoffte, dass es so sei, wollte er es auch glauben. Aber es konnte auch eine andere friedliche Lösung zwischen Haßberg und Melanie gegeben haben. Weshalb reiste sie so plötzlich ab? Vielleicht um von Ostende aus ihre Verlobung mit Haßberg zu veröffentlichen? Vielleicht wollte sie allzu neugierigen Fragen aus dem Wege gehen. Vielleicht folgte Haßberg ihr nach Ostende? Aber nein, die Offiziere bekamen jetzt keinen Urlaub, da jeden Tag der Kriegszustand für Deutschland erklärt werden konnte.

Tondern war diese Ungewissheit sehr drückend; um sich Aufklärung zu verschaffen, beschloss er endlich, Haßberg aufzusuchen.

Als er an Haßbergs Wohnung die Klingel zog, erschien dessen Bursche.

„Ist der Herr Rittmeister zu Hause?“, fragte Tondern.

Der Bursche kannte Tondern und gab bereitwillig Auskunft, der Herr Rittmeister sei ausgegangen, käme aber spätestens in einer halben Stunde: zurück.

Tondern überlegte. Dann sagte er entschlossen: „Ich werde warten.“

Der Bursche ließ ihn in das Zimmer eintreten, nachdem er ihm Hut und Stock abgenommen hatte.

Tondern setzte sich in einen Sessel und sagte dem Burschen, er könne ruhig an seine Arbeit gehen und brauchte sich nicht um ihn zu kümmern.

Dann zog er einige Zeitungen, die auf dem Tisch lagen, zu sich heran und blätterte darin.

Aber die Lektüre fesselte ihn nicht. Sein Blick schweifte im Zimmer herum. Er verglich es im Geist mit den eleganten Räumen seiner eigenen Wohnung. Sehr anspruchsvoll konnte Haßberg nicht sein, um sich in dieser bescheidenen Wohnung wohlzufühlen.

Wie er die Blicke so umherschweifen ließ, entdeckte er plötzlich unter dem Sessel vor dem Schreibtisch einen kleinen, dunklen Gegenstand, der wohl herabgefallen war. Tonderns Blick schärfte sich unwillkürlich. War das nicht Haßbergs Brieftasche? Ja, er erkannte sie und starrte wie gebannt darauf hin.

Wie magnetisch angezogen blieb sein Blick daran hängen. Sicher war Haßberg die Brieftasche entfallen, ohne dass er es bemerkt hatte.

Ob diese Brieftasche vielleicht etwas enthielt, das ihm Aufschluss geben konnte über das, was zwischen Haßberg und Frau Melanie verhandelt worden war? Seine Augen funkelten.

Einen Moment lauschte er noch hinaus. Draußen war alles still.

Da hob Tondern die Brieftasche auf.

Seine Hände waren eiskalt. In dem Augenblick, als der die Tasche berührte, sagte eine Stimme in ihm: „Das ist ehrlos!“ Aber trotzdem öffnete er sie.

Das erste, was ihm in die Augen fiel, war ein schmales Kuvert mit Reginas Schriftzügen – der Brief, den Haßberg heute von Regina Baldus erhalten hatte. Haßberg war die Brieftasche entfallen, als er die Kleider gewechselt hatte, um schnell einen dienstlichen Gang anzutreten, und er hatte es nicht bemerkt.

Tondern starrte auf Reginas Brief herab. Vergessen war, was er in der Brieftasche suchen wollte. Ihn interessierte nur dieser Brief.

Unsicher sah er zur Tür. Der Bursche würde ihn nicht stören. Und wenn Haßberg heimkam, dann hörte er die Flurtür gehen und konnte die Brieftasche schnell wieder unter den Sessel werfen.

Zögernd fassten seine Hände nach dem Brief. Noch einen Moment überlegte er, dann richtete er sich entschlossen auf.

Schnell zog er die Blätter heraus und entfaltete sie.

Während der Lektüre wurde sein Gesicht totenbleich. Und als er mit dem Brief zu Ende war, schlug er die Hände vor das Antlitz und stöhnte laut auf.

Regina Baldus legte in diesem Brief ihre Liebe, um die er, Tondern, jahrelang in heißem Bemühen gerungen hatte, dem tollen Haßberg freiwillig zu Füßen. So klein konnte sich die stolze Regina machen, die sonst so unnahbar war! Sie gab sich in die Hände dieses Mannes – wie groß musste ihre Liebe zu Haßberg sein!

Und Haßberg? Konnte er überhaupt begreifen, was ihm da geboten wurde? Hatte er sich nicht an allerlei Frauen verzettelt?

Und an diesen Mann warf sich eine Regina Baldus weg!

Ein rasender Schmerz nahm seine Seele gefangen, und die Eifersucht auf Haßberg loderte wild empor. Sein ganzes Sein bäumte sich auf gegen die Möglichkeit, Regina Haßberg überlassen zu müssen.

Nein, er konnte es nicht zulassen, dass Haßberg Regina zur Frau bekam! Mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln wollte er sich dagegen wehren. Und wenn er ein Verbrechen begehen sollte – Regina durfte nicht Haßbergs Gattin werden!

Mit zitternden Händen faltete er den Brief zusammen, legte ihn in die Brieftasche zurück und warf diese wieder unter den Stuhl. Dann erhob er sich und verließ die Wohnung, nachdem er dem Burschen gesagt hatte, dass er noch eine dringende Besorgung zu machen habe und später wiederkommen wolle.

***

Regina war, nachdem sie den Brief an Haßberg selbst zur Post gebracht, von einer nervösen Unrast befallen worden. Nun, da der Brief abgeschickt war, hätte sie ihn am liebsten wieder zurückgehabt.

Wenn er sich nun lustig machte über ihr Geständnis? Wenn er sie für eine verliebte Närrin hielt, die ihn durch das Geständnis an sich fesseln wollte?

Heiß und kalt wurde ihr bei diesem Gedanken. Sie wünschte sehnlichst, den Brief nicht abgeschickt zu haben.

Aber dann rang sie sich wieder zur Zuversicht durch. Sie klammerte sich an den Glauben, dass seines Wesens Kern gut und edel sei und dass er ihren Brief auffassen würde, wie sie es wünschte. Ruhe und Rast fand sie nicht in der Not ihres Herzens.

In diese qualvolle Unruhe hinein kam endlich Haßbergs Bursche. Sie nahm den Brief in Empfang und fertigte den Burschen schnell ab. Dann eilte sie in ihr Zimmer. Kraftlos vor Erregung sank sie in einen Sessel und hielt den Brief in der zitternden Hand. Sie wagte lange nicht, ihn zu öffnen. Endlich ermannte sie sich und öffnete ihn. Und als sie zu lesen begann, atmete sie wie von einer schweren Last befreit auf. Wieder und wieder las sie die Worte: „Ich warte in Sehnsucht, dass ich zu Solveig kommen darf, um meine Knie in Andacht vor ihr zu beugen und ihre lieben Hände zu küssen.“

Ruhiger wurde sie nicht durch dieses Schreiben. Aber ein wohltätiger Tränenstrom löste die Spannung ihrer Nerven. Und sie wusste nun, dass sie recht getan hatte.

Am liebsten hätte sie ihn nun gleich gerufen. Aber dann kam doch wieder ein echt mädchenhaftes Bangen über sie vor der Situation, die sich bei ihrem ersten Zusammentreffen mit ihm ergeben musste.

Einige Tage wollte sie die Zusammenkunft mit ihm hinausschieben. Sie musste Zeit haben, sich zu sammeln, und es war auch gut, wenn er sich alles reiflich überlegte.

Dann dachte sie auch an Tante Therese. Was würde sie wohl sagen, wenn sie ahnte, was ihre Nichte an Haßberg geschrieben hatte? Ob sie es sehr verdammenswert fand? Und wie würde sie sich zu Haßberg stellen, falls er jetzt offen um sie werben würde? Dass Haßberg sie nicht aus Liebe zur Frau erwählte, würde die Tante sofort durchschauen und sie würde Regina nicht verstehen, wenn sie trotzdem Haßbergs Frau werden wollte.

Regina strich sich aufseufzend das Haar aus der Stirn.

Leicht würde das alles nicht sein, aber doch nicht so schwer wie die fortwährende Angst, dass Haßberg ihr Komödie vorspielen könnte.

Schließlich würde Tante Therese sich in alles fügen. Sie hatte ihre Nichte viel zu lieb, als dass sie ernstlich etwas dagegen einzuwenden haben würde, was Regina ihrem Wesen nach tun zu müssen glaubte.

Noch lange saß Regina grübelnd über dem Briefchen. Sie las es wieder und wieder, und immer bedeutungsvoller erschienen ihr Haßbergs Worte.

Wie im Traum ging sie dann im Haus umher. Sie schloss sich gleichsam mit ihren Gedanken gegen die Außenwelt ab. In dieser Stimmung kam ihr kaum zum Bewusstsein, was alle Welt in diesen Tagen in atemlose Unruhe versetzte: die am Himmel aufziehenden Kriegswolken.

Erst als Tante Therese bei Tisch davon sprach, dass, falls ein Krieg für Deutschland nicht zu vermeiden sei, eine große Anzahl ihrer persönlichen Bekannten mit ins Feld ziehen müssten, schrak Regina aus ihrer Träumerei auf.

Erst jetzt dachte sie daran, dass ja Haßberg einer der ersten war, die dem Feind gegenübertreten mussten. Sie schauerte angstvoll zusammen. Aber dann tat sie, was in jenen angstvollen Tagen Tausende von Frauen taten, die um ihr Liebstes zittern mussten – sie wehrte diesen Gedanken von sich ab. Es konnte ja nicht möglich sein, durfte nicht sein.

Aber die Brandfackel, die einen Weltbrand entfachen sollte, war schon entzündet.

Der nächste Tag war der 31. Juli 1914. Die Zeitungen brachten das Ultimatum, das Kaiser Wilhelm an Rußland gestellt hatte.

Mit unruhig klopfendem Herzen hatte Regina die Berichte in den Zeitungen gelesen.

Sie war heute nicht fähig gewesen, ihren üblichen Morgenritt zu unternehmen, schon deshalb nicht, weil sie fürchtete, Haßberg zu begegnen. Deshalb schickte sie in aller Frühe zu Konsul Werner hinüber und ließ sich entschuldigen.

Gerta Werner und ihr Vater waren ebenfalls nicht in der Stimmung, auszureiten. Sie hatten es nur Regina zu Gefallen getan. Da diese absagte, blieben auch sie zu Hause.

Man wartete gespannt auf die neuen Zeitungsberichte.

Gerta Werner war in großer Unruhe. Und die Unruhe trieb sie denn auch zu Regina.

„Du willst mir wohl Vorwürfe machen, Gerta, weil ich heute Morgen nicht mit ausgeritten bin?“, fragte Regina, nachdem sie die Freundin herzlich begrüßt hatte.

Gerta schüttelte den Kopf. Auf ihrem reizenden Gesicht, das so anmutig von blondem Kraushaar umgeben war, lag heute ein ernster Ausdruck.

„Ach nein, Regina, Vorwürfe will ich dir nicht machen. Papa und ich hatten auch keine Lust, wir sind nicht ausgeritten. Man hat ja keine Ruhe. Ach, Regina, ich habe eine Angst – eine Angst in mir – eine Angst – ist dir auch so schrecklich zumute, wenn du an die Möglichkeit eines Krieges denkst?“

Regina seufzte.

„Sehr bang ist mir, Gerta.“

„In den Straßen laufen die Menschen umher und machen sorgenvolle Gesichter. Papa sieht auch so ernst aus, und Mama weint schon im Voraus. Denke dir, unsere Regimenter sind heute Morgen gar nicht ausgerückt. Leutnant von Trebin und einige andere Offiziere waren heute bei uns zu Tisch geladen, haben aber alle abgesagt wegen dienstlicher Abhaltung. Natürlich sind die Offiziere stark in Anspruch genommen. Hast du heute schon einen von ihnen gesehen?“

„Nein, Gerta, ich bin noch gar nicht aus dem Haus gewesen.“

Gerta stieß einen zitternden Seufzer aus. „Ach, Regina, wenn sie fort müssen, in den Krieg – ich weine mir die Augen aus!“

Mit starren Augen sah Regina vor sich hin. „Tritt das Furchtbare wirklich an uns heran, dann hilft nichts als tapfer sein.“

Mit einem wehen Lächeln sah Gerta in Reginas Gesicht. „Das sagst du, Regina, die wird es leicht, tapfer zu sein. Du hast ja keinen lieb, der mit fort muss.“

In Reginas Augen trat ein seltsamer Schein. „Und du, Gerta? Hast denn du einen lieb?“

Gerta neigte das Haupt. „Ja, Regina, so lieb, dass ich sterben müsste, wenn er fallen würde.“

Regina legte den Arm um die Freundin.

„Es ist Trebin, nicht wahr, Gerta?“

Diese würgte die aufsteigenden Tränen hinunter, aber ihre Augen schimmerten feucht. „Dir kann ich’s ja sagen, Regina, du plauderst es nicht aus. Ja, es ist Trebin. Ich habe ihn schon lange lieb. Und er – ach, Regina, das weiß man doch man fühlt es, ohne dass es ausgesprochen wird – er hat mich auch lieb. Vorgestern hat er, mir gesagt, wenn er Oberleutnant geworden sei, dann wolle er sich das Jawort der jungen Dame holen, die er liebt. Und dabei hat er mich angesehen – ach, Regina – Oberleutnant wird er schnell genug werden, wenn es zum Krieg kommt, aber dann ist er fern von mir und von Gefahren umgeben.“

Regina dachte an Haßberg, und auch ihr wurde schwer und bang zumute. Aber sie raffte sich auf und streichelte Gertas Hand. „Verzage nur nicht, liebe Gerta! Gott wird helfen, dass es nicht zum Schlimmsten kommt.“

Gerta blieb noch ein halbes Stündchen.

Als sie sich verabschiedete, sagte Tante Therese zu ihr: „Warten Sie noch eine Minute, liebe Gerta. Ich habe den Wagen vorfahren lassen, weil ich Besorgungen machen muss. Ich bin gleich fertig. Sie können dann mit mir fahren. Ich setze Sie vor Ihrer Tür ab und sage Ihrer lieben Mutter schnell guten Tag.“

„Sie wird sich freuen, gnädige Frau. Mama ist ohnedies so verzagt und sorgenvoll.“

So fuhr Gerta bald darauf mit Frau Ruthart davon und Regina war allein. Sie suchte ihr Arbeitszimmer auf und versuchte zu arbeiten. Aber sie konnte ihre Gedanken nicht sammeln. Sie flogen voll Unruhe davon – zu Hans von Haßberg.

Wenn der Krieg ausbrach, dann blieb ihm nicht viel Zeit bis zum Ausrücken seines Regiments. Und dann – ob er dann noch Zeit zu einer Aussprache fand?

Sie schauderte zusammen. Nein, er durfte nicht fortgehen, ohne sich mit ihr ausgesprochen zu haben, das würde sie nicht ertragen. War es deshalb nicht besser, wenn sie ihm gleich heute noch Nachricht sandte, dass sie ihn erwartete?

Sie zog seinen Brief hervor und las ihn noch einmal. Obgleich sie jedes Wort auswendig konnte, musste sie immer wieder lesen, was er ihr geschrieben hatte. Über jedes Wort dachte sie nach.

Sie war auch jetzt so in den Inhalt des kurzen Schreibens vertieft, dass sie erschrocken auffuhr, als es an ihre Tür klopfte.

Schnell verbarg sie den Brief und rief: „Herein!“

Ein Diener trat ins Zimmer. „Herr von Tondern wünscht das gnädige Fräulein in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen“, meldete er.

Unbehaglich sah Regina empor. „Haben Sie nicht gesagt, dass meine Tante nicht zu Hause ist?“, fragte sie.

„Doch gnädiges Fräulein, ich habe es Herrn von Tondern gemeldet. Aber er sagte, er habe dem gnädigen Fräulein eine wichtige Mitteilung zu machen.“

Regina zögerte noch eine Weile. Dann fiel ihr ein, Tondern habe vielleicht über die drohende Kriegsgefahr etwas zu berichten.

„Führen Sie Herrn von Tondern in mein Arbeitszimmer“, sagte sie endlich.

Der Diener verschwand, gleich darauf trat Heinz von Tondern ein. „Mein Gott, Herr von Tondern, sind Sie krank? Sie sehen so bleich aus“, fragte Regina betroffen.

Er biss die Zähne wie im Frost zusammen. Ihr Anblick regte ihn unsagbar auf. Ihm war, als müsse er sie in seine Arme reißen und festhalten, damit sie Haßberg nicht angehören könne.

„Nein, ich bin nicht krank, mein gnädiges Fräulein, nur maßlos erregt. Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen – es wird mir nicht leicht, aber ich muss es tun.“

Sie bat ihn, Platz zu nehmen. „Bitte, sprechen Sie!“, sagte sie dann.

Er zwang sich zur Ruhe. „Mein gnädiges Fräulein, Sie wissen nur zu gut, wie teuer Sie mir sind, wie hoch ich Sie halte. Leider hat Sie das nicht bewegen können, meine Werbung anzunehmen. Wenn ich heute abermals zu Ihnen komme mit der heißen Bitte, meiner Werbung Gehör zu schenken, so habe ich einen besonders triftigen Grund dazu. Bitte, werden Sie meine Frau, geben Sie mir das Recht, Sie in Schutz zu nehmen. Bitte, antworten Sie mir noch nicht, hören Sie mich erst an, damit Sie wissen, was mich so maßlos erregt hat. Gestern traf ich mit Haßberg zusammen. Wie ich Ihnen anvertraute, gab er mir seine Absicht kund, sich um Sie, die reiche Erbin zu bewerben. Ich sagte mir aber gleich, dass Sie die Bewerbung eines solchen Menschen sicher nicht annehmen würden. Das bestätigte mir auch Ihre Frau Tante. Obwohl er sich nun offensichtlich um Sie bewarb, unterhielt er Beziehungen zu einer anderen Dame der Gesellschaft. Ich sah ihn erst kürzlich in einer eindeutigen Situation mit ihr, so dass ich ihn gestern darüber zur Rede stellte. Ich wollte nicht dulden, dass er Sie durch eine so offen zur Schau getragene Werbung ins Gerede bringt, während er zu einer anderen Dame intime Beziehungen unterhält, die doch nur in einer Verlobung mit dieser endigen können. Als ich ihn darüber befragte, erklärte er mir brüsk, das gehe mich nichts an. Dann brüstete er sich damit, dass er es gar nicht nötig habe, sich um Sie zu bewerben, denn Sie, mein gnädiges Fräulein, hätten ihm nicht nur ohne sein Zutun versichert, dass Sie ihn lieben, Sie hätten sich ihm als Frau sogar selbst angeboten.“

Ein zitternder Aufschrei rang sich von Reginas Lippen. „Das – das hat er Ihnen gesagt?“, rang es sich über ihre Lippen.

Tondern zuckte leise zusammen bei dem wehen Ton ihrer Stimme. Einen Moment zögerte er. Erst jetzt kam es ihm zum Bewusstsein, wie ehrlos seine Handlungsweise und wie gewagt sein falsches Spiel war. Eine Aussprache zwischen Regina und Haßberg konnte ihn als Lügner und Verleumder entlarven. Aber er war schon zu weit gegangen, um noch zurück zu können.

Seiner Stimme Festigkeit gebend, antwortete er: „Ja, mein gnädiges Fräulein, das hat er gesagt. – Und als ich ihn darüber zur Rede stellte, lachte er höhnisch auf, behauptete, die Wahrheit gesprochen zu haben, und sagte sogar, er sei imstande, hierfür Beweise zu erbringen. Im Übrigen hätte ich kein Recht, mich in seine Angelegenheiten zu mischen.“

Regina sank wie gebrochen in ihren Sessel zurück. Sie konnte an Tonderns Worten nicht zweifeln. Denn nur Haßberg wusste, dass sie ihn liebte und dass sie sich ihm tatsächlich als Frau angeboten hatte. Nur von ihm konnte Tondern es wissen. Und dass er es wusste, war ein Beweis, dass Haßberg tatsächlich davon gesprochen hatte.

Mit glanzlosen Augen sah sie vor sich hin, und ihr Herz krampfte sich in wildem Schmerz zusammen. Nie, niemals hätte sie Haßberg einer so niedrigen Handlungsweise für fähig gehalten! Ihr Vertrauen zu ihm war mit einem Schlag vernichtet.

Sie erhob sich plötzlich, als wollte sie fliehen. Die Scham drückte sie zu Boden. Ihr war, als könne sie Tondern, als könne sie keinen Menschen mehr ins Antlitz sehen. Aber als sie sich entfernen wollte, taumelte sie. Tondern sprang empor und fing sie in seinen Armen auf.

„Regina, teure angebetete Regina, werden Sie meine Frau! Geben Sie mir ein Recht, Sie zu schützen. Wenn Sie sich jetzt mit mir verloben, darf es niemand wagen, Ihnen die leiseste Kränkung zuzufügen“, flüsterte er heiser und zog sie, von seiner Leidenschaft übermannt, fest an sich.

Da raffte sie sich auf und stieß ihn, alle Kraft zusammennehmend, von sich. „Lassen Sie mich! Gehen Sie – und kommen Sie nie wieder! Ich will weder Sie noch Herrn von Haßberg jemals wieder sehen. Gehen Sie!“

Tondern sah ein, dass er nicht länger bleiben durfte. Er hatte das Spiel verloren, das wurde ihm jetzt klar. Aber er konnte wenigstens die Gewissheit mit sich nehmen, dass Regina Haßberg nicht mehr vor ihr Antlitz lassen, dass sie nicht seine Frau werden würde.

Dass eine Verständigung zwischen Haßberg und Regina stattfinden könnte, fürchtete er nicht. Sie war in ihrem Stolz so tief verletzt, dass sie kein Wort mehr an ihn richten, ihn nicht mehr ansehen würde. Und damit hatte Tondern gerechnet – darauf hatte er sein Spiel gebaut.

Mit dieser Voraussetzung hatte er auch Recht.

Trotzdem verabschiedete er sich mit einem Gefühl, als habe er eine Niederlage erlitten, als könne er nun keinem Menschen mehr offen ins Gesicht sehen.

Als er das Zimmer verlassen hatte, sah Regina ihm noch eine Weile starr nach, dann sank sie plötzlich lautlos zu Boden, als hätte ein Todesstreich sie getroffen.

Dort lag sie noch da, als Tante Therese zu ihr ins Zimmer trat. Erschrocken beugte sich die alte Dame zu ihr herab. „Regina! Um Gottes willen, Kind, was ist dir?“, rief sie und versuchte das junge Mädchen aufzurichten.

Bei diesen Worten wich die Lähmung, die Regina befallen hatte. Sie strich sich über die Stirn und sah starr in das besorgte Gesicht der alten Dame. „Was ist – was willst du, Tante Therese?“, fragte sie wie geistesabwesend.

„Kind, Kind! Was ist nur mit dir? Weshalb liegst du am Boden? Bist du krank? Du siehst so elend aus! Oder bist du über etwas gestürzt hast du dich verletzt?“

So fragte die alte Dame angstvoll und half Regina in die Höhe. Sie führte sie zu einem Sessel und ließ sie niedergleiten.

Ein irres, wehes Lächeln huschte um Reginas Mund. „Ich weiß nicht, Tante Therese – ich habe – ich glaube – mir ist nicht wohl.“

Tante Therese fühlte ihr besorgt den Puls. Der Pulsschlag ging aber normal, er war nur sehr matt. „Nein, Fieber hast du nicht. Aber es muss dir etwas in den Gliedern liegen, sonst wärst du nicht so elend. Komm, ich bringe dich zu Bett. Der Arzt muss sofort geholt werden.“

Regina schüttelte den Kopf. „Nein, Tante Therese, nicht den Arzt – nur ruhen lass mich – ich bin so müde – so zerschlagen – nur ruhen möchte ich und allein sein.“

Ernstlich besorgt geleitete Frau Ruthart Regina in ihr Schlafzimmer und half ihr beim Auskleiden.

Kaum hatte sich Regina niedergelegt, da schloss sie die Augen, als wolle sie schlafen.

Frau Ruthart verließ leise das Zimmer.

Regina atmete auf, als sie allein war. Sie grub das Antlitz in die Kissen, um das Aufstöhnen zu unterdrücken, das ihr aus der Brust drang.

Immer wieder musste sie denken, dass der Mann, den sie so namenlos liebte, dem sie den höchsten Beweis ihres Vertrauens gab, sie so schmählich verraten hatte. Ach, dass sie so töricht gewesen war, ihm zu glauben, ihm zu vertrauen!

Tondern hatte also doch Recht gehabt, wenn er ein scharfes Urteil über ihn fällte. Tondern? Ob es nicht besser wäre für sie, wenn sie sich für immer in Tonderns Schutz flüchtete?

Aber sie schüttelte sich bei dem Gedanken daran. Nein, nein – allein wollte sie bleiben, ihr Leben lang. So war sie wenigstens frei, wenn sie auch schutzlos würde dulden müssen, dass man mit Fingern auf sie zeigte. Haßberg würde es wohl nicht dabei bewenden lassen, Tondern ihre Schmach preiszugeben. Einem nach dem andern würde er im übermütigen Spott erzählen: „Regina Baldus – bah – die hat sich mir selbst als Frau angeboten.“ Und jeder würde es weitererzählen, bis es in der ganzen Stadt bekannt war. Auch Tondern würde es weiter verbreiten. Er konnte sehr indiskret sein, das wusste Regina. Nun, da sie ihn so schroff fortgewiesen hatte, würde er auch keine Schonung mehr für sie haben. Aber mochten die Menschen mit Fingern auf sie zeigen! Das würde nicht so unsagbar weh tun wie die Erkenntnis, dass Haßberg ein Unwürdiger war.

„Wenn ich doch nicht mehr zu denken brauchte! Ach, könnte ich doch sterben“, dachte sie verzweifelt.

So lag sie stundenlang.

Der Abend sank herab. Durch das offene Fenster drang die warme Sommerluft und ein leises, fernes Geräusch von dem Leben da draußen. Aber dieses leise Geräusch wurde plötzlich übertönt von einem schnell anwachsenden Sausen und Brausen. Es war, als wenn zahlreiche Menschenstimmen durcheinander klangen.

Müde hob Regina den schmerzenden Kopf und lauschte hinaus. Da klärte sich das unbegreifliche Durcheinander draußen zu einem feierlichen, mächtig ergreifenden Klang. Es war ein brausendes Lied, von vielen hundert Kehlen gesungen!

„Deutschland, Deutschland über alles!“

Regina richtete sich empor und sah mit großen Augen nach dem Fenster hinüber.

In diesem Augenblick trat Tante Therese ein. „Kind, ach mein liebes Kind!“, stieß sie erregt hervor.

„Was ist, Tante Therese?“

Die alte Dame sank aufschluchzend auf einen Sessel neben dem Bett nieder und fasste Reginas Hand. „Der Krieg ist da, Regina. Der Kaiser hat den Kriegszustand befohlen. Morgen ist der erste Mobilmachungstag. Nun wird es ernst. Rußland hat das Ultimatum des Kaisers unbeantwortet gelassen. Die Frist ist abgelaufen.“

Regina sank in die Kissen zurück und sah mit großen Augen vor sich hin. Ihr erster Gedanke galt auch jetzt wieder Hans von Haßberg. Nun würde er hinausziehen in die Schlacht, der Mann, der ihr so namenlos weh getan hatte und um den ihr Herz trotz allem, was er ihr angetan hatte, bangte und zitterte. War es nicht eine Schmach für sie, dass sie ihn noch immer lieben musste?

„Dass ich doch sterben könnte“, dachte sie wieder in bitterster Scham, weil sie diese unselige Liebe nicht aus ihrem Herzen reißen konnte – auch jetzt noch nicht.

***

Die Offiziere hatten die Nachricht über die Mobilmachung mit Begeisterung aufgenommen. Vorbei war es jetzt mit dem oft stumpfsinnigen Drill. Jetzt hieß es: Vorwärts dem Feind entgegen!

Aber viel Zeit blieb ihnen nicht, ihrem Enthusiasmus Ausdruck zu geben. Sie mussten sich rasch vorbereiten und Abschied nehmen von denen, die sie schnell noch erreichen konnten. Dann hinein in die feldgraue Uniform, die schon bereit lag – und man war marschfertig.

Hans von Haßberg hatte von niemand Abschied zu nehmen als von Regina Baldus. Es stand fest bei ihm, dass er nicht fortgehen wollte, ohne sie gesprochen zu haben. Die Sehnsucht, noch einmal in ihre Augen zu sehen, ein Abschiedswort von ihr mit auf den Weg zu nehmen, war mächtig in ihm.

Aber so sehr er sich mit seinen dienstlichen Angelegenheiten auch beeilte, kam er nicht eher dazu, Besuch in Villa Baldus zu machen, bis die Besuchszeit vorüber war. Am nächsten Morgen aber ging es schon ganz früh fort. Es blieb ihm also nur diese etwas späte Stunde, um von Regina Abschied zu nehmen.

Ehe er ging, gab er seinem Burschen noch einige Aufträge. Dieser war beim Packen und sang dazu aus voller Brust:

„Lieb Vaterland, magst ruhig sein.“

Haßberg musste ihn in seinem Gesang stören. „Sie können nachher weitersingen“, sagte er lächelnd.

„Zu Befehl, Herr Rittmeister“, antwortete der Bursche mit lachendem Gesicht.

Nachdem er seine Befehle erteilt hatte, verließ er das Haus.

An einer Straßenecke traf er mit Gerta Werner zusammen. Er begrüßte sie artig und blieb stehen. Schnell reichte sie ihm die Hand, aus ihrem blassen Gesicht blickten die Augen bang und unruhig zu ihm auf. „Heute kann ich nicht an Ihnen vorübergehen, Herr Rittmeister, ohne Ihnen zum Abschied die Hand zu reichen. Gott mit Ihnen! Kommen Sie gesund wieder heim!“

Er erwiderte den warmen Druck ihrer Hand. Gerta Werner war ihm in letzter Zeit sehr sympathisch geworden, weil sie Reginas Freundin war.

„Ich danke Ihnen für diesen Wunsch, mein gnädiges Fräulein, und bitte Sie, mich Ihren verehrten Eltern zu empfehlen. Mir wird keine Zeit zu einem Abschiedsbesuch bleiben.“

„Das glaube ich wohl. Ich werde meinen Eltern Ihre Empfehlung bestellen. Wann rücken Sie aus?“

„Morgen, sobald der Tag graut.“

Gerta Werner seufzte tief auf. „Dann Gott mit Ihnen – mit dem ganzen Regiment – bitte, bestellen Sie allen Herren, die uns persönlich bekannt sind, einen Gruß und ein herzliches ’Behüt Gott!’“

Haßberg verneigte sich. Dabei sah er von der anderen Seite Leutnant Trebin herbeikommen. „Ich will es gern bestellen, mein gnädiges Fräulein. Aber mir scheint, Sie können einen dieser Grüße gleich persönlich anbringen. Da kommt ein Kamerad, Leutnant von Trebin.“

Gerta Werner wandte sich rasch um, und ihr Antlitz überzog sich mit einer dunkeln Röte, während ein feuchter Schimmer in ihre Augen trat.

„Ach so!“, dachte Haßberg, als er das Aufleuchten in Trebins Blick bemerkte.

Er blieb neben Gerta stehen, bis Trebin vollends herbeigekommen war. „Sie kommen gerade recht, lieber Trebin. Das gnädige Fräulein hat mir soeben Grüße aufgetragen, auch an Sie. Nun können Sie sie persönlich in Empfang nehmen. Mich entschuldigen Sie wohl, mein gnädiges Fräulein, ich habe noch einen eiligen Weg. Leben Sie wohl!“

„Auf Wiedersehen, Herr Rittmeister! Auf frohes und gesundes Wiedersehen!“

„So Gott will – auf Wiedersehen!“ Haßberg verneigte sich vor Gerta, schüttelte Trebin die Hand und ging schnell davon.

***

Bald hatte er die Villa Baldus erreicht.

Er ließ sich den Damen melden. Regina saß mit Tante Therese im Wohnzimmer. Sie fühlte sich noch sehr elend.

Als der Diener Herrn Rittmeister von Haßberg meldete, zuckte sie zusammen und wurde totenbleich. Sie hatte nicht gedacht, dass er kommen würde, ohne ihren Ruf abzuwarten. Dass sein Regiment morgen bei Tagesanbruch ausrücken würde, hatte sie gehört. Und wie im Fieber hatte sie darauf gewartet, dass er sich aus der Stadt entfernen würde, damit sie nicht mehr fürchten musste, ihm zu begegnen.

Und nun war er doch gekommen!

Ihrem ersten Impuls folgend, wollte sie Haßberg abweisen lassen, aber dann überlegte sie, dass es Tante Therese auffallen könne, und diese sie dann mit Fragen quälen würde. Sie erhob sich und trat ans Fenster, um ihr Gesicht abwenden zu können.

„Bitte, empfange du Herrn von Haßberg allein, Tante Therese! Ich fühle mich noch nicht wohl genug, um Besuche zu empfangen“, sagte sie.

Frau Ruthart fand dabei nichts Auffälliges. Sie war zufrieden, dass ihre Sorge, Regina könne ihr Herz an Haßberg verloren haben, wohl unbegründet gewesen war, sonst hätte ihm Regina sicher Lebewohl gesagt.

„Es ist gut, Kind, ich werde ihn empfangen. Führen Sie den Herrn Rittmeister ins kleine Empfangszimmer“, wandte sie sich an den Diener, der sich nun entfernte.

Frau Ruthart trat zu Regina. „Du solltest dich wieder niederlegen, Regina. Du siehst noch so bleich und elend aus. Ruhe würde dir sicher gut tun.“

Reginas Gesicht zuckte. „Das wird schon vorübergehen, Tantchen. Sorge dich nur nicht um mich! Heute fühle ich mich noch ein wenig matt, aber morgen – morgen werde ich mich sicher besser fühlen.“

Morgen, wenn Hans von Haßberg nicht mehr in dieser Stadt weilte, ja, dann würde ihr etwas wohler sein, dann brauchte sie nicht zu fürchten, ihm zu begegnen. Sie hatte das Gefühl, als müsse sie tot zu Boden sinken, wenn sie vor Haßbergs Augen treten sollte.

Tante Therese ging hinüber ins Empfangszimmer.

Haßberg trat mit einer Verbeugung auf sie zu. „Meine verehrte gnädige Frau, entschuldigen Sie gütigst die ungewohnte Stunde. Ich konnte mich leider nicht eher freimachen und wollte doch nicht fortgehen, ohne mich von Ihnen und dem gnädigen Fräulein zu verabschieden. Sie gestatten mir wohl, dass ich auch Fräulein Baldus Lebewohl sage!“ So sagte er, ihre Hand an die Lippen ziehend.

„Ich bedaure sehr, Herr Rittmeister, aber meine Nichte kann Ihnen nicht Lebewohl sagen, sie ist krank und kann Sie nicht empfangen.“

Haßberg erschrak sichtlich. „Das gnädige Fräulein ist doch hoffentlich nicht ernstlich krank?“

„Das gottlob nicht, aber sie ist so elend, dass sie unbedingt Ruhe braucht. Ich fand sie gestern, als ich von einem Ausgang heimkehrte, in einem Besorgnis erregenden Zustand. Natürlich hat die Kunde vom Ausbrechen des Krieges dazu beigetragen, sie zu erregen. Man ist ja ganz aus dem Gleichgewicht gekommen durch die Ereignisse der letzten Tage.“

Haßberg glaubte jedoch zu wissen, dass Reginas Erregung einen anderen Grund habe. Sicher war sie auch besorgt um ihn. Er wollte so gern daran glauben, dass es ihr schmerzlich war, dass er in den Krieg ziehen musste.

Es schien ihm außer Zweifel, dass Regina von seiner Anwesenheit gar nichts wusste; sonst wäre sie sicher hier. „Es tut mir sehr Leid, dass sich das gnädige Fräulein nicht wohl fühlt. Trotzdem – wenn es auch unbescheiden ist – möchte ich Sie doch bitten, mir zu gestatten, mich von ihr zu verabschieden. Bitte, wollen Sie die Güte haben, Fräulein Baldus melden zu lassen, dass ich anwesend bin und um die Gunst bitte, ihr Lebewohl sagen zu dürfen.“

Frau Ruthart zuckte die Achseln. „Meine Nichte weiß, dass Sie hier sind, Herr Rittmeister. Der Diener brachte uns beiden die Meldung, aber sie bat mich, Sie allein zu empfangen, weil sie sich nicht wohl genug fühlt.“

Haßberg sah einen Moment sehr betroffen aus. Freilich hatte ihm Regina geschrieben, sie brauchte Zeit, ehe sie ihn wiedersehen könne, sie werde ihn rufen lassen, wenn sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden habe. Und aus Frau Rutharts Bericht entnahm er, dass sich Regina in einem Zustand großer Erregung befand.

Aber er hatte doch keine Zeit mehr, zu warten, bis sie ihn rief. Konnte sie ihn, den sie doch liebte, gehen lassen – vielleicht für immer – ohne ihm ein Abschiedswort zu gönnen?

Das konnte, wollte er nicht glauben.

Er zögerte eine Weile. Dann sagte er bittend: „Schelten Sie mich bitte nicht aufdringlich, gnädige Frau, wenn ich Sie trotzdem bitte, dem gnädigen Fräulein noch einmal melden zu lassen, dass ich dringend um die Vergünstigung einer kurzen, letzten Unterredung bitten lasse.“

Frau Ruthart konnte seinen flehenden Augen nicht widerstehen. So erhob sich die alte Dame und klingelte. „Ich will ihren Wunsch gern erfüllen, Herr Rittmeister. Einem Krieger, der ins Feld zieht, soll man nichts versagen.“

Er verneigte sich dankend.

Der Diener trat ein.

„Sagen Sie dem gnädigen Fräulein, der Herr Rittmeister sei gekommen, um sich zu verabschieden und lasse dringend bitten, ihr Lebewohl sagen zu dürfen“, trug ihm Tante Therese auf.

Während der Diener seinen Auftrag ausführte, versuchte die alte Dame mit Haßberg eine Unterhaltung im Gang zu halten. Aber sie merkte, dass er zerstreut war und unruhig hinauslauschte. Sie beobachtete ihn forschend. Das sah ja wirklich aus, als habe er Sehnsucht nach Reginas Anblick.

Haßberg lauschte voll Sehnsucht auf Reginas leichten Schritt. Aber als sich die Tür wieder öffnete, stand nur der Diener auf der Schwelle. „Das gnädige Fräulein bedauert, sie fühlt sich nicht wohl, lässt aber dem Herrn Rittmeister Lebewohl sagen.“

Haßberg presste die Lippen aufeinander, sein Gesicht verfärbte sich ein wenig. Tante Therese sah es ganz deutlich, sie wusste aber nicht, weshalb er so viel Wert darauf legte, sich von Regina verabschieden zu können. Dass er sich um sie bewarb, hatte sie wohl bemerkt. Und es hatte ihr scheinen wollen, als verhalte sich Regina dieser Werbung gegenüber gar nicht ablehnend. Sie verstand nicht, dass Regina Haßbergs dringende Bitte jetzt abschlug. Und sie merkte ihm an, dass es ihm bitter weh tat.

„Am Ende hat er Regina wirklich lieb? Man kann nicht wissen, was in einem Menschen vorgeht. Schön genug ist sie wahrhaftig, um auch den verwöhntesten Mann zu fesseln. Aber die Geschichte mit der verschleierten Dame, die mir Tondern erzählte, widerspricht dem doch wieder. Ich werde nicht aus ihm klug und aus Regina auch nicht“, dachte Tante Therese.

Sie sprach einige bedauernde Worte. Damit musste sich Haßberg zufrieden geben.

Er verabschiedete sich mit einem Gefühl, als sei ihm etwas Köstliches vorenthalten worden.

Dass Regina nach allem, was sie ihm geschrieben hatte, ihm das letzte Lebewohl versagen konnte, selbst wenn sie sich nicht wohl fühlte, war ihm unfassbar.

Wohl trug er ihren Gefühlen Rechnung, wohl sagte er sich, dass sie vielleicht noch nicht imstande war, ihm zu begegnen, aber er meinte, diese kleine Schwäche hätte sie doch besiegen müssen, angesichts der Tatsache, dass er in den Krieg zog.

Tief verstimmt ging er nach Hause.

Vor einem Blumenladen machte er Halt. Er ging hinein und kaufte einen Strauß roter Rosen von wunderbarer Schönheit. Gleich schrieb er auf eine Visitenkarte einige Worte.

Mein verehrtes gnädiges Fräulein! Da es mir nicht vergönnt war, Ihnen persönlich Lebewohl sagen zu dürfen, was mich sehr geschmerzt hat, erlaube ich mir; Ihnen diese Rosen als letzten Gruß zu senden und Ihnen gute Besserung zu wünschen. Hoffentlich ist es mir in nicht allzu ferner Zeit vergönnt, wieder vor Ihr Angesicht treten zu dürfen. Der Gedanke an Solveig wird mich wie ein Talisman begleiten.

In dankbarer Verehrung

Ihr ergebener Hans von Haßberg

Er kuvertierte und adressierte die Karte und schickte sie mit den Rosen an Regina in der heimlichen Hoffnung, dass sie ihm wenigstens noch ein schriftliches Lebewohl und eine Erklärung für ihr Verhalten geben würde.

Tante Therese war, nachdem Haßberg sich entfernt hatte, zu Regina zurückgekehrt. „Kind, du hättest Haßberg doch ein Abschiedswort sagen können. Es schien ihm so viel daran zu liegen. Du weißt, ich bin seine Freundin nicht, aber er ist ein Mensch, der vielleicht dem Tod geweiht ist. Solchen Menschen sollte man keinen Wunsch versagen“, sprach sie in mahnendem Ton.

Regina wurde blass, und ihre Augen blickten trübe. „Schilt nicht, Tante Therese, ich konnte nicht anders“, stieß sie heiser hervor.

Die Tante betrachtete sie kopfschüttelnd. Sie wurde wieder nicht klug aus Regina.

Und als dann Haßbergs Blumen kamen mit der begleitenden Visitenkarte, da wunderte sich Tante Therese noch mehr.

Regina wurde wieder blass, als sie die Visitenkarte las, und ihr Antlitz zuckte wie im Schmerz.

„Wie ist es nur möglich, dass er mir solche Worte schreibt, nachdem er mich in so schmählicher Weise bloßgestellt hat“, dachte sie verzweifelt.

Dann warf sie stolz den Kopf zurück und zerriss mit einem herben, versteinerten Ausdruck die Karte.

Die Rosen gab sie dem Diener zurück.

„Stellen Sie die Blumen draußen in irgendeine Vase; der Duft ist mir zu stark.“

***

Haßbergs Regiment war nach Belgien gekommen. Es hatte den Sturm auf Lüttich mitgemacht, und nun ging es weiter. Eine Festung nach der anderen wurde genommen.

Haßberg hatte mit seiner Schwadron bereits die schwierigsten Aufgaben gelöst. Seine Leute wurden von ihm mit fortgerissen. Sie waren stolz auf ihren Rittmeister und folgten ihm begeistert, wohin er sie führte.

Es war ein frostiger Tag im Dezember. In den Schützengräben hatte man sich, so gut es ging, häuslich eingerichtet und für primitive Bequemlichkeit gesorgt. Der Glanzpunkt der wohnlichen Ausstattung waren zwei einst elegant gewesene Lehnsessel, die durch Gebrauch unansehnlich geworden, aber stets heiß begehrt waren. Diese Sessel hatte man „requiriert“, sie hatten den Salon eines Landhauses geziert, das von seinen Bewohnern verlassen worden war.

Es wurde immer darum gelost, wer die Lehnsessel auf eine Stunde benutzen durfte.

Jetzt wurde der eine dieser Sessel Haßberg, der andere Fritz von Trebin feierlichst für die nächsten zwei Stunden überlassen, und sie wurden mit köstlichen Dingen bewirtet. In Friedenszeiten hätten die jungen Offiziere diese Dinge allerdings nicht als Delikatessen betrachtet. Aber im Felde war man so anspruchslos geworden. Es gab weder Servietten, noch Teller, einige der Offiziere hatten ihre Taschenbestecks bei sich und borgten sie aus. Die Essgeräte und Trinkbecher waren primitivster Art – doch wer fragte im Feld nach solchen Dingen!

Aber Tafelmusik hatte man herbeigeschafft. Ein Soldat entlockte einer Mundharmonika die schönsten Lieder und Märsche.

In dieses Idyll hinein kam die Feldpost und wurde stürmisch begrüßt. Für die meisten gab es Briefe und kleine Päckchen mit Liebesgaben von daheim.

Haßberg ging leer aus – wie immer. Er erhielt niemals Post, und in seinen Augen lag ein seltsam trüber Schein, wenn er die Kameraden, über ihre Briefe gebeugt, sitzen sah.

Ringsum war es still geworden. Alle hatten sich in ihre Briefe vertieft. Keiner hatte mehr Zeit und Aufmerksamkeit für ihn.

Er stützte aufseufzend den Kopf in die Hände. Seine Gedanken flogen zu Regina Baldus. Zu Beginn des Feldzuges hatte er zuweilen an sie und ihre Tante einen Kartengruß gesandt, in der Hoffnung, Regina werde einmal seine Grüße erwidern. Aber er erhielt nie eine Zeile von ihr, und er wusste nicht, was er davon denken sollte.

Oft überkam ihn eine unsinnige Sehnsucht nach Regina. Ihm war immer, als habe er ihr unendlich viel zu sagen. Gern hätte er ihr alles, was ihm auf dem Herzen lag, geschrieben, als Antwort auf ihren Brief, aber er fürchtete, dass ein solcher Brief nicht sicher in ihre Hände kam, und was er ihr zu sagen hatte, durfte nicht vor fremde Augen kommen.

Um sich das Herz zu erleichtern, hatte er alles niedergeschrieben, was ihn bewegte, was in seinem Herzen für sie lebte und was in dieser Zeit der Trennung immer tiefer wurde. Wenn er im Kampf fiel, dann sollte sie diese Aufzeichnungen erhalten. Er hatte die beschriebenen Bogen in einer kleinen, verschließbaren Ledermappe geborgen, die er unter der Uniform trug. Die Mappe hielt er stets verschlossen, und in seiner Brieftasche lag ein Zettel, auf den er geschrieben hatte:

Im Falle meines Todes bitte ich, die schwarze Ledermappe, die ich auf der Brust trage, verschlossen an folgende Adresse zu senden:

Darunter stand Regina Baldus’ genaue Adresse.

Er wollte sicher sein, dass, wenn er fiel, Regina als letzten Gruß seine Aufzeichnungen und ihren eigenen Brief unversehrt zurückerhalten sollte. Dann erfuhr sie wenigstens nach seinem Tod, was sie ihm gewesen war.

Es quälte ihn unbeschreiblich, dass sie ihn zum Abschied nicht empfangen hatte. Ebenso quälte es ihn, dass sie nie eine Zeile auf seine Kartengrüße erwiderte. Er konnte sich ihr Schweigen nicht erklären.

Da saßen die Kameraden nun um ihn herum und lasen mit glänzenden, manchmal auch feucht schimmernden Augen ihre Briefe von daheim. Er konnte den Anblick nicht mehr ertragen und erhob sich, um den Graben entlang zu gehen.

Da stieß er auf Tondern und Trebin.

Heinz von Tondern war erst vor wenigen Tagen mit Haßberg zusammengetroffen. Er hatte zuerst mit den Reserven des Regiments in Frankreich gefochten, war dort leicht verwundet worden und hatte einige Tage im Lazarett gelegen. Nach seiner Genesung war er zu Haßbergs Regiment gekommen. Haßberg merkte wohl, dass Tondern ihm auswich, wo er nur konnte, aber es fiel ihm nicht sonderlich auf. Viel Sympathie bestand ohnehin nicht zwischen ihnen.

Er selbst hegte keinen Groll mehr gegen Tondern. Was gewesen, war vergessen. Und Tondern hatte sich seine Achtung zurückgewonnen durch sein tapferes Verhalten vor dem Feind.

Trotzdem suchte er nicht dessen Gesellschaft. Er wollte auch jetzt vorübergehen, aber Fritz von Trebin hielt ihn an. Er und Haßberg hatten schon auf der Fahrt ins Feindesland Brüderschaft gemacht und sich immer enger aneinander angeschlossen.

Trebin saß neben Tondern auf einer umgestürzten Kiste. Er hatte einen langen Brief von Gerta Werner erhalten, während Tondern sich in einen Brief seiner Eltern vertieft hatte. Trebin war mit seinem Brief gerade zu Ende und sah mit leuchtenden Augen zu Haßberg auf.

„Wo willst du hin, Hans?“, fragte er.

Haßberg lachte kurz auf. „Ich denke, der Weg hier führt nur auf und ab. Ich will mich nur ein wenig warmlaufen. Hast du gute Nachricht von daheim, Fritz?“

Trebin nickte. „Gottlob. Außer dem, was eine Braut ihrem Verlobten zu sagen hat, stehen in diesem Brief eine Menge Neuigkeiten aus unserer lieben, alten Garnison.“

Haßbergs Augen brannten unruhig. Er wusste, dass Gerta Werner mit Regina befreundet war und hatte durch Trebin schon manchmal etwas von ihr gehört. So hoffte er auch heute, wenigstens ihren Namen wieder einmal zu vernehmen. Er ließ sich Trebin gegenüber nieder.

„Kannst mir ein wenig davon erzählen, Fritz, wenn du es gern tust“, bat er mit unsicherer Stimme.

„Aber selbstverständlich, sehr gern.“ Und Trebin kramte alle Neuigkeiten aus. Dabei fiel auch der Name, der wie ein elektrischer Funke in Haßbergs Seele fiel: „Regina Baldus.“

Gerta hatte geschrieben, dass Regina unermüdlich im Dienst der Wohltätigkeit sei und an sich selber gar nicht denke.

„Fräulein Baldus soll seit Beginn des Krieges ganz verändert sein. Sie sei immer sehr ernst und traurig, obgleich sie doch niemand im Feld habe, der ihr nahe stehe. Meine Braut schreibt mir, Regina Baldus mache ihr den Eindruck, als habe sie den Frieden völlig verloren.“

Sowohl Haßberg als auch Tondern hatten mit atemlosen Interesse auf jedes Wort über Regina gelauscht. Und als Trebin mehrere Stellen aus Gertas Brief vorlas, da beugte sich Tondern noch tiefer über seinen Brief.

„Was Haßberg wohl mit mir anfangen würde, wenn er wüsste, was ich Regina Baldus gesagt habe?“, dachte er.

Einige Tage später – das Weihnachtsfest war vorüber – unternahm Haßberg einen nächtlichen Patrouillenritt, um auszukundschaften, ob ein dem Anschein nach verlassenes Dorf, das man in der Ferne entdeckt hatte, nicht etwa vom Feind besetzt sei. Dieses Dorf war für die anrückenden deutschen Truppen als Stützpunkt wichtig. Wegen des stürmischen Wetters konnten die Flieger nicht aufsteigen, um auszukundschaften, ob sich etwa feindliche Truppen in dem Dorf verborgen hielten. So erbot sich Haßberg, an das Dorf heranzureiten und festzustellen, ob es besetzt sei oder nicht.

Einer der Kameraden sollte ihn begleiten. Tondern und Trebin meldeten sich zu gleicher Zeit freiwillig.

Da sich aber nur einer an dem Ritt beteiligen sollte, losten sie, wer zurückbleiben solle. Das Los traf Trebin.

So ritten Haßberg und Tondern in die stille Winternacht hinaus.

Sie sprachen nicht viel miteinander, nur zuweilen teilten sie sich leise ihre Beobachtungen mit.

So näherten sie sich dem wie ausgestorben daliegenden Dorf.

Unweit des Dorfes breitete sich ein Gehölz aus. Das hatten sie gerade erreicht, als der Mond für eine Weile voll und klar aus den Wolken trat. Im Schutz der Bäume ritten sie im Schritt weiter, solange der Mond den Weg erhellte. Als dieser sich aber wieder versteckte, stiegen sie von den Pferden und befestigten die Zügel an einem Baum.

Nun lag am Ausgang des Gehölzes ein freier, ungeschützter Weg vor ihnen, der bis zum Dorf hinüberführte. Hüben und drüben säumte ein Graben den Weg ein. Vorsichtig, jedes Geräusch vermeidend, krochen sie in den Graben hinab und schlichen Schritt für Schritt an das Dorf heran.

Noch immer kein Laut, kein Lebenszeichen aus dem Dorf. Fast bis an die ersten Häuser waren sie herangekommen, da stutzten beide zu gleicher Zeit und legten sich platt an die Böschung des Grabens. Sie hatten den Klang leise sprechender Männerstimmen vernommen.

Franzosen!

Haßberg bedeutete Tondern durch ein Zeichen, zurückzubleiben. Er selbst glitt lautlos näher heran, bis er verstehen konnte, was die Offiziere sprachen.

Und da hörte er, dass die Franzosen genau unterrichtet waren, dass deutsche Truppen ihnen gegenüber lagen.

Einer der Offiziere, wahrscheinlich der Anführer der Truppe, gab allerlei Befehle an die übrigen Herren. Aus diesen entnahm Haßberg, dass die Franzosen im Morgengrauen einen Überfall auf die Deutschen planten.

Haßberg wusste genug. Nun galt es, so schnell wie möglich zurückzukehren. Noch in der Nacht mussten die deutschen Truppen versuchen, den Franzosen zuvorzukommen und das Dorf zu umzingeln.

Leise kroch Haßberg zurück zu Tondern. Er gab ihm ein Zeichen, den Rückzug anzutreten.

Sie krochen langsam im Graben zurück und bemerkten jenseits des Grabens eine Wache, die arglos an einem Baum stand.

Lautlos krochen sie an dem Wachtposten vorbei. Es gelang ihnen, vorüberzukommen, ohne bemerkt zu werden. Nun glitten sie schneller auf das schützende Gehölz zu. Aber gerade als sie aus dem Graben herauskletterten, trat der Mond plötzlich wieder hell hervor, und der Wachtposten entdeckte die beiden Offiziere.

Ein lauter Anruf – ein Schuss noch ein Schuss durchdrang die Stille der Nacht.

„Vorwärts, wir sind entdeckt!“, rief Haßberg Tondern zu und eilte in das Gehölz hinein. Als er sich nochmals nach Tondern umsah, um sich zu überzeugen, dass er folgte, sah er mit Schrecken, dass dieser auf einen Baum zuwankte, ihn umfasste und an dem Stamm nieder zur Erde glitt.

Sofort war Haßberg an seiner Seite. „Was ist, Heinz?“

„Ich bin getroffen – fort – lass mich liegen – sie haben uns entdeckt – rette dich!“

„Ein Hundsfott, der einen Kameraden in der Not verlässt! Kannst du dich nicht auf mich stützen, so trage ich dich. Bis zu den Pferden ist es nicht weit. Es muss gehen.“

„Nein – reite du nur – rette dich ich – ich kann nicht.“

Aber Haßberg hob Tondern mit starken Armen empor, obwohl er merkte, dass es drüben im Dorf lebendig wurde und dass man sie wahrscheinlich verfolgte.

„Lass mich, Hans – rette dich!“, stieß Tondern nochmals hervor.

Aber Haßberg hatte ihn schon emporgehoben und lief mit seiner Last, so schnell er konnte, zu den Pferden. „Ich lasse dich nicht allein“, stieß er hervor.

Und er trug Tondern im Schutz des Gehölzes wirklich zu den Pferden. Tondern hatte fast das Bewusstsein verloren. Haßberg hob ihn auf sein Pferd.

„Beiß die Zähne zusammen, Heinz! Du musst dich im Sattel halten. Man scheint die Verfolgung aufgegeben zu haben. Vielleicht vermuten sie, dass eine größere – Abteilung hier im Gehölz verborgen liegt, und wagen sich nicht herein.“

Tondern konnte nichts erwidern. Er brauchte alle Kraft, um sich im Sattel zu halten.

Schnell stieg nun auch Haßberg auf und nahm die Zügel beider Pferde in die Hand. Hinter ihnen wurde noch immer geschossen, aber es näherte sich niemand.

„Halte dich nur fest, Heinz, in zehn Minuten sind wir in Sicherheit“, sagte Haßberg.

Als die Kugeln nicht mehr zwischen den Bäumen dahinpfiffen, ließ Haßberg Tondern einen Schluck Kognak aus seiner Feldflasche trinken.

„Wie ist dir, Heinz? Wo bist du verwundet?“, fragte er.

Tondern fasste nach der Brust. „Hier! Du hättest mich liegen lassen sollen, Hans. – Ich – ich glaube, es geht nicht mehr.“ Bei diesen Worten fiel Tondern Haßberg ohnmächtig in die Arme.

„Heinz! Heinz! Nur ein Stück halte dich noch aufrecht! Da drüben sehe ich eine Hütte im Wald. Ich bringe dich dorthin. Da bist du in Sicherheit, bis ich mit der Ambulanz zurückkomme. Ich beeile mich.“

So sagte Haßberg tröstend und ließ die Pferde zu der Hütte laufen, indem er den ohnmächtigen Tondern fest umschlang.

Vor der Hütte, die in Friedenszeiten wohl ein Unterschlupf für den Waldhüter war, hob er Tondern vom Pferd und trug ihn hinein. Zum Glück lagen zwei Strohbündel darin. Auf diese bettete er Tondern, deckte ihn mit seinem Mantel zu und flößte ihm noch einen Schluck Kognak ein.

Tonderns Pferd an der Hütte zurücklassend, stieg er in den Sattel und jagte davon.

In Schweiß gebadet kam er im Lager an, erstattete Bericht und bat dann um die Erlaubnis, eine Ambulanz zu dem zurückgelassenen Kameraden führen zu dürfen, damit er in ärztliche Behandlung komme.

Der Oberst dankte ihm und gab Befehl zum Aufbruch.

Man stellte Haßberg einen Arzt und ein Lazarettauto zur Verfügung. Nun ging es mit dem Auto zurück zu der Waldhütte.

Der Arzt stellte fest, dass Tondern einen Lungenschuss bekommen hatte. Während er ihm beim Schein der elektrischen Laterne untersuchte, schlug Tondern die Augen auf und sah sich um. Als er Haßberg an seinem Lager sah, der sich mit besorgter Miene über ihn neigte, streckte Tondern ihm matt die Hand entgegen.

„Dank dir, Hans – ich habe es nicht um dich verdient – verzeih mir – alles – ich …“ Er konnte nicht weiter reden.

Haßberg fasste seine Hand. „Es gibt nichts zu danken, Heinz. Was vergangen, ist vergessen und verziehen. Sieh zu, dass du schnell gesund wirst. Ich lasse dich in guter Hut des Herrn Doktors. Auf Wiedersehen – ich muss zum Regiment.“

Tondern wolle noch etwas sagen, aber er fiel bewusstlos zurück.

Haßberg bestieg nun Tonderns Pferd, und während das Lazarettauto mit dem Verwundeten fortfuhr, ritt Haßberg seinem Regiment entgegen, das bereits auf dem Weg nach dem Dorf war.

Ehe man es erreichte, teilten sich die Truppen, um das Dorf in aller Stille zu umzingeln. In dem Gehölz, an dessen Ausgang Tondern verwundet worden war, wurden Geschütze aufgestellt.

Es klappte alles tadellos. Noch ehe der Morgen graute, wurde das Feuer von allen Seiten eröffnet. Haßberg und seine Schwadron gingen im Sturmangriff auf das Dorf los.

Ehe es sich die Franzosen versahen, waren sie von allen Seiten eingeschlossen und standen den Deutschen im Nahkampf gegenüber. Nach einer kurzen, erbitterten Gegenwehr der Franzosen gingen die Deutschen als Sieger aus diesem Kampf hervor. Wer von den französischen Truppen nicht gefallen war, der wurde gefangen genommen. Nicht ein Mann war entkommen.

Der erbitterte Nahkampf hatte aber auch den Deutschen schwere Verluste gebracht, und die Ambulanzen bekamen reichlich Arbeit.

Auch Haßberg befand sich unter den Verwundeten. Er hatte einen Säbelhieb über Arm und Schulter erhalten: der Blutverlust hatte ihn ohnmächtig gemacht. Leutnant von Trebin und Haßbergs Bursche hatten ihn fallen sehen. Als der Kampf entschieden war, kehrten sie an die Stelle zurück und suchten ihn. Sie fanden ihn an einer zerfallenen Mauer und trugen ihn zur Ambulanz.

Dort wurde er sogleich verbunden, und dabei kam er wieder zu sich. Er wollte sofort aufspringen von dem Lager, auf das man ihn gelegt hatte, aber der Arzt hielt ihn zurück.

„Nicht so eilig, Herr Rittmeister, Sie haben Zeit! Vorläufig ist nichts mehr für Sie zu tun!“, sagte er gemütlich.

Trebin war bei Haßberg geblieben; er musste ihm über den Verlauf des Kampfes berichten. Haßbergs Augen leuchteten auf, als er hörte, dass der Sieg errungen sei. Dann sah er auf seinen verbundenen Arm herab, den er nicht bewegen konnte.

„Gottlob, dass es nur der linke ist – das soll mich nicht abhalten, mit dem rechten dreinzuschlagen“, sagte er.

„Vorläufig ist es für Sie vorbei mit dem Dreinschlagen, Herr Rittmeister. Sie haben einen tüchtigen Hieb davongetragen und müssen mindestens einige Wochen vom Kriegsschauplatz abtreten“, sagte der Arzt.

Haßberg zog unmutig die Stirn zusammen. „Gerade jetzt, wo man so gut im Zug ist“, murrte er.

Da trat der Oberst ein. Er hatte Haßberg gesucht und reichte ihm die Hand. „Wie geht es, Herr Rittmeister?“

Haßberg seufzte „Verteufelt schlecht, Herr Oberst. Dieser Medizinmann will mich auf Wochen von der Front entfernen“, antwortete Haßberg.

„Da werden Sie schon gehorchen müssen, mein lieber Rittmeister.“

„Ich sehe aber nicht ein, weshalb ich feiern soll. Mein rechter Arm ist gottlob noch völlig gesund.“

„Zum Reiten braucht man aber zwei Arme. Ich verliere Sie ungern, mein lieber Haßberg. Doch jetzt müssen Sie schon dem Doktor parieren. Gott mit Ihnen! Werden Sie schnell wieder gesund, damit die Haßbergschen Reiter ihren Rittmeister bald wiederbekommen.“

„Ich hoffe in nicht zu langer Zeit, Herr Oberst“, versetzte Haßberg, und seine Augen leuchteten hell aus seinem schmal gewordenen Gesicht.

Der Oberst entfernte sich.

Trebin blieb noch einige Minuten bei Haßberg. „Wenn du in die Heimat kommst, Rittmeister, dann bringst du meiner Braut tausend herzliche Grüße von mir. Willst du?“

„Herzlich gern, Fritz.“

Trebin seufzte. „Man könnte dich beneiden, Hans, dass du wieder heimkommst.“

Ein verlorenes Lächeln zuckte um Haßbergs Mund. „Heim? Hab’ ich denn ein Heim? Du weißt ja, wie allein ich in der Welt stehe.“

Trebin nickte. „Ja, das weiß ich. Aber beneiden könnte ich dich doch. Nur eine Stunde möchte ich mal wieder in unserer lieben, alten Garnison sein.“

„Das glaube ich dir – du wüsstest ja auch, wohin du deine Schritte lenken solltest.“

Trebin nickte mit leuchtenden Augen. Dann reichte er Haßberg die Hand. „Gott befohlen, Hans! Und auf frohes Wiedersehen, so Gott will!“

Auf Wiedersehen, Fritz.“

So schieden sie.

***

Haßberg war einige Zeit in einem Grenzlazarett gewesen. Dann hatte man ihn nach Berlin befördert. Von hier aus fuhr er am nächsten Morgen nach seiner Garnison, wo er bis zu seiner völligen Wiederherstellung bleiben wollte.

Es war nur eine zweistündige Eisenbahnfahrt, aber sie erschien ihm endlos lang. Je näher er der Garnison kam, desto größer wurde seine Unruhe und seine Sehnsucht – die Sehnsucht nach Regina Baldus.

Endlich würde er sich Klarheit verschaffen können über alles, was ihm so unbegreiflich erschien. So bald wie möglich musste er mit Regina sprechen. Er musste sie fragen, warum sie ihn ohne Abschied hatte in den Krieg ziehen lassen, warum sie ihm keine Zeile auf seine Kartengrüße geantwortet hatte.

Nachdem sie ihm in ihrem Brief so rückhaltlos ihr ganzes Herz offenbart hatte, war er berechtigt zu dieser Frage.

Er wusste, er würde nicht viel reden können, wenn er ihr gegenüberstand. Aber er wollte ihr seine Aufzeichnungen geben, die er draußen im Feld für sie niedergeschrieben hatte. Das sollte sie als Antwort auf ihren Brief erhalten – aus seinen eigenen Händen –, damit sie erfuhr, was sie ihm geworden war. Sehnsuchtsvoll flogen seine Gedanken dem Zug voraus.

Endlich hielt der Zug in der ihm so wohlbekannten Bahnhofshalle. Niemand war da, der ihn empfing, kein bekanntes Gesicht war zu sehen. Nur eine Schwester vom Roten Kreuz, die Bahnhofsdienst hatte, trat an ihn heran und fragte, wie sie ihm behilflich sein könne.

Er dankte höflich. Da er sich wieder in ärztliche Behandlung begeben musste und seines Armes wegen Pflege und Bedienung brauchte, wollte er die Klinik eines ihm bekannten Arztes, der ihn schon einmal nach einem kleinen Reitunfall behandelte, aufsuchen. Das Garnisonlazarett war ohnedies mit Verwundeten überfüllt, wie ihm die Schwester sagte. So fuhr er in die Klinik des Professors Menzel.

Dort fand er ein schönes, freundliches Zimmer und aufmerksame Bedienung.

Gleich am nächsten Tag machte er sich auf den Weg, um in der Villa Baldus Besuch zu machen.

Mit einem seltsamen Gefühl, gemischt aus Unruhe und Sehnsucht, verließ er die Klinik. Kaum aber hatte er das Tor geöffnet, als auch schon sein Fuß stockte. Alles Blut drängte stürmisch zu seinem Herzen. Da draußen ging eben eine schlanke Mädchengestalt vorüber.

Es war Regina Baldus.

Sie schritt schnell geradeaus und wandte nur das Haupt, als sie bemerkte, dass aus dem Tor der Klinik jemand heraustreten wollte.

Einen Moment trafen die beiden Augenpaare zusammen – Regina wurde totenbleich und wankte einen Augenblick, als habe sie alle Kraft verloren. Als aber Haßberg mit aufstrahlendem Blick grüßte, riss sie sich mit Gewalt zusammen und richtete sich stolz empor. Mit einem flüchtigen Neigen des Hauptes eilte sie weiter.

Betroffen sah er ihr nach. Das, was er in ihrem Gesicht gesehen hatte, war keine mädchenhafte Bangigkeit, keine schüchterne Unsicherheit. Es war erst ein heißes Erschrecken und dann eine zurückweisende Unnahbarkeit.

Und sie ging davon, als wünsche sie, nie mehr ein Wort mit ihm zu wechseln.

Er wollte ihren Namen rufen, biss aber die Zähne zusammen und sah ihr mit düsteren Augen nach.

Bei dieser Begegnung erkannte er, dass irgendetwas Ungreifbares, Unbegreifliches zwischen Regina und ihm stand. Aus einer Laune heraus, die sie dann bereute, konnte sie ihm jenen Brief, er ihn so sehr beglückt hatte, nicht geschrieben haben. Solche Worte ringt sich eine Frau wie Regina nur ab, wenn sie stark und tief empfindet. Und ihr Erblassen und Erschrecken soeben bewies ihm, dass er ihr nicht gleichgültig geworden war.

Was also war es, das sie ihm gegenüber so verändert hatte?

Grübelnd sah er ihr nach. Und plötzlich grub sich ein harter, entschlossener Zug um seinen Mund. „Ich will und muss klar sehen“, dachte er.

Dieser Vorsatz trieb ihn an, eilig hinter Regina herzulaufen. Er folgte ihr, so schnell er konnte, auf der menschenleeren Straße.

Regina war zumute, als trügen ihre zitternden Knie sie nicht weiter. Wie ein Dolchstoß hatte es ihr Herz getroffen, als sie Haßberg so plötzlich vor sich sah.

So viel Mühe sie sich auch schon gegeben hatte, sich mit der Gewissheit abzufinden, dass Haßberg ihr nur eine Komödie vorspielte, dass er nicht mehr für sie existieren dürfe – so traf diese Begegnung sie doch wie ein Schlag.

Sie hastete weiter, ohne zu ahnen, dass er ihr folgte. So erreichte sie, halb von Sinnen, eine Promenadenanlage, die still und abseits lag und im Sommer den Kindern als Spielplatz diente.

Jetzt war hier kein Mensch zu sehen. Eine Borkenhütte war auf diesem Platz errichtet, die den spielenden Kindern bei plötzlichem Unwetter Schutz bieten sollte. Ringsum in der Hütte waren Sitzplätze angebracht.

Unfähig weiterzugehen, trat Regina in diese Hütte und sank auf eine Bank. Mit schmerzlichem Aufstöhnen drückte sie die Hände vor ihr Antlitz.

So merkte sie nicht, dass Haßberg hinter ihr die Hütte betrat. „Solveig!“, rief er leise.

Sie schrak empor und starrte ihn mit weit geöffneten Augen an. „Was wollen Sie? Weshalb folgen Sie mir? Bitte, lassen Sie mich allein, ich fühle mich nicht wohl und bedarf der Ruhe“, stieß sie mit bebender Stimme hervor.

Er wich jedoch nicht von der Stelle. „Obwohl ich merke, dass Sie nicht wohl sind und obwohl dem Sie mich fortweisen, kann ich Ihnen nicht gehorchen, mein gnädiges Fräulein.“

Ihre Augen sprühten vor Zorn und Schmerz. „Ich will allein sein! Befreien Sie mich von Ihrem Anblick.“

Der herbe Zug um seinen Mund verschärfte sich. „Also ist es doch mein Anblick, der Sie erregt? Wie kann es auch anders sein? Eine Solveig wirft ihre Liebe nicht wie einen Handschuh von sich. Ich aber weiß, dass Solveig mich liebte, sie hat es mir ja selbst gesagt. Deshalb stehe ich hier vor Ihnen. Ich musste diese Gelegenheit erfassen, um mit Ihnen zu sprechen, denn nach Ihrem Verhalten zu urteilen, kann es mir geschehen, dass ich in der Villa Baldus verschlossene Türen finde. Ich frage Sie jetzt, mein gnädiges Fräulein, warum Sie mich nicht vor Ihr Antlitz ließen, als ich von Ihnen Abschied nehmen wollte, warum Sie auf keinen meiner Grüße eine Antwort sandten, warum Sie jetzt vor mir fliehen und mich so kalt ansehen? Ihr Brief gibt mir ein Recht zu dieser Frage.“

Regina sprang plötzlich auf. Hoch aufgerichtet und stolz stand sie vor ihm. „Das fragen Sie noch, Herr von Haßberg?“, fragte sie eisig.

Groß und ernst ließ er seinen Blick in ihren flammenden Augen ruhen. „Ja, mein gnädiges Fräulein, das frage ich Sie“, antwortete er fest.

Ein Zucken lief über ihr Gesicht. Aber sie behielt sich in der Gewalt. „Ich weiß nicht, was ich mehr bewundern soll, Herr von Haßberg – Ihren Mut – Ihren traurigen Mut oder Ihr Talent, Komödie zu spielen.“

Er fuhr auf, seine Augen funkelten wie geschliffener Stahl. „Regina, das dürfen auch Sie nicht ungestraft zu mir sagen!“, rief er zornig.

Ihre Augen blitzten ihn stolz, abweisend an. „Ich verbitte mir, dass Sie mich beim Vornamen nennen, Herr von Haßberg. Wer gibt Ihnen ein Recht dazu?“

Er trat einen Schritt näher. „Das Recht haben Sie selbst mir gegeben, durch Ihren Brief.“

Sie sank wie gebrochen auf die Bank zurück. „Dieser unselige Brief! Wie ich mich schäme, ihn geschrieben zu haben! Sie können sich rühmen, mein Herr, mich klein, sehr klein gesehen zu haben. Mit blutigen Tränen möchte ich jedes Wort auslöschen, das ich Ihnen geschrieben habe. Geben Sie mir wenigstens den Brief zurück! So viel Ehrgefühl werden Sie wohl noch haben, dass Sie mir diesen Brief zurückgeben. Wenn ich früher an Ihre Ritterlichkeit und Ehrenhaftigkeit glaubte, wenn ich Ihnen durch meinen Brief den höchsten Beweis meines Vertrauens gab, den eine Frau geben kann, so geschah das in einem beklagenswerten Irrtum meinerseits. Aber Sie meinen wohl, ich sei durch mein Geständnis vogelfrei geworden, und auf ein Mädchen meines Schlages brauche man keinerlei Rücksicht zu nehmen“, brach es in Zorn und Bitterkeit aus ihr hervor.

Er zuckte zusammen wie unter einem Schlag. „Regina! Besinnen Sie sich! Ich dulde es nicht – auch von Ihnen nicht –, dass Sie so von einer Dame sprechen, die ich hoch über alle stelle.“

Sie lachte schneidend auf. „So hoch stellten Sie mich, dass Sie das Geständnis, das ich Ihnen im Vertrauen auf Ihre ritterliche Diskretion machte, an andere verrieten! So hoch, dass Sie sich damit brüsteten, um eine Regina Baldus sich zu bewerben, hätten Sie nicht nötig, sie habe sich Ihnen selbst angeboten!“, stieß sie zitternd vor Erregung hervor.

Er wurde totenbleich. Jäh trat er dicht an sie heran und fasste ihren Arm. Sein Gesicht bekam einen furchtbaren Ausdruck, und seine Augen bohrten sich düster in die ihren.

„Schweigen Sie!“, rief er außer sich. Und sich mäßigend, fuhr er mit gepresster Stimme fort: „Ich habe von Ihnen angehört, was kein anderer Mensch mir ungestraft sagen dürfte. Aber eine solche Beschimpfung ertrage ich auch von Ihnen nicht! Sie sind von Sinnen, sonst könnten Sie so etwas nicht sagen. Was mich bis ins innerste Herz erschüttert hat, was mich über mich selbst hinaushob, was ich wie ein Heiligtum in meiner Seele bewahrte – damit sollte ich mich gebrüstet haben?“

Sie sah zu ihm auf, und in ihren Augen lag ein Ausdruck, der ihn entwaffnete.

Er gab ihren Arm frei, den er in der Erregung fest umfasst hatte. „Wie kommen Sie zu einer solchen Annahme? Wer hat Ihnen eine solche Niedertracht erzählt? Ich verstehe das alles nicht“, sagte er, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend.

Sie strich sich wie erwachend über die Stirn. „Herr von Tondern. Er kam zu mir und sagte mir, Sie hätten ihm enthüllt, was nur Sie wissen konnten. Er sagte mir, Sie hätten sich damit gebrüstet; er bat mich ihm das Recht zu geben, für mich einzutreten. Den ganzen Inhalt meines Briefes kannte er“, schloss sie heiser vor Erregung.

Haßberg griff sich an die Stirn. „Bin ich denn von Sinnen? Wenn ich auch annehmen wollte, dass Tondern ein schurkischer Verleumder war – woher soll er denn nur gewusst haben, was zwischen Ihnen und mir tiefstes Geheimnis ist?“

Sie schwankte und stützte sich auf die Bank. Mit einem Blick sah sie zu ihm auf, wie eine Ertrinkende, die nach Rettung späht. „Sie haben es ihm nicht gesagt?“, fragte sie atemlos.

Er sah sie schmerzlich an. „Ich hätte nie geglaubt, dass ich Solveig mein Ehrenwort würde geben müssen, dass ich kein ehrloser Schurke bin“, sagte er vorwurfsvoll.

Sie unterdrückte ein Aufschluchzen. „Aber woher wusste Tondern, was außer mir und Ihnen kein Mensch wusste?“

Grübelnd sah er vor sich hin. „Das ist mir unverständlich. Aber ich sehe ein – das musste auch den Glauben einer Solveig erschüttern. Ich weiß nur das eine: dass wir beide das Opfer einer Schurkerei geworden sind. Und diese Schurkerei werde ich ergründen. Gott sei Dank, dass Sie mir sagten, was zwischen uns steht. Jetzt weiß ich doch, wo ich mir Klarheit holen kann. Regina, nicht eher will ich Ihnen wieder vor die Augen treten, bis ich Ihnen beweisen kann, dass man Sie betrogen und mich fälschlich beschuldigt hat. Ich werde Tondern aufsuchen und zur Rede stellen. Bis das geschehen ist, bis ich mich vor Ihnen rechtfertigen kann – leben Sie wohl.“

Sie streckte die Hand nach ihm aus. „Herr von Haßberg!“

Ein weiches Lächeln spielte um seinen Mund, als er in ihre angstvoll blickenden Augen sah. „Solveig soll ihren Glauben wiederfinden“, sagte er zärtlich.

Schnell zog er die kleine schwarze Ledermappe aus seiner Uniform. Er reichte sie ihr und fuhr fort: „Dies hatte ich verwahrt. Sie sollten es erhalten, wenn ich fallen sollte. Den Schlüssel zu dieser Mappe habe ich in einen Fluss geworfen. Niemand sollte die Mappe öffnen können – kein Auge als das Ihre sollte auf dem Inhalt ruhen dürfen. Sie müssen die Mappe zerschneiden, Regina. Bitte, lesen Sie, was ich Ihnen als Antwort auf Ihren Brief geschrieben habe. Auch Ihr Brief ist dabei; ich lege ihn in Ihre Hände zurück. Bitte, lesen Sie, und wenn ich mich dann rechtfertigen kann und wieder zu Ihnen kommen darf, dann hoffe ich sehnlichst, dass ich meine Solveig wiederfinde. Bis dahin – leben Sie wohl.“

Er sah ihr noch einmal tief in die Augen, verneigte sich und ging schnell davon.

Regina stand wie gelähmt und sah ihm nach. Ihr war, als müsse sie ihm nachlaufen, müsse ihm sagen: Ich glaube an dich, verzeih, dass ich zweifeln konnte; es hat mir weher getan als dir. Aber kein Wort kam über ihre Lippen.

So stand sie lange Zeit. In ihrer Seele stürmte es. Alles in ihr war in Aufruhr, und im Grunde ihres Herzens war in all dem Aufruhr ein heiß aufquellendes Glücksgefühl, das sich nach den Monaten voll Gram und Schmerzen nur noch nicht hervorwagte. Sie sah auf die kleine Ledermappe in ihren Händen herab.

Was würde sie enthalten?

Sie hielt sie fest an sich gedrückt und ging langsam nach Hause. Dort begab sie sich sogleich in ihre Zimmer.

Als sie abgelegt hatte, schloss sie ihr Arbeitszimmer ab. Sie ließ sich in einem Sessel am Kamin nieder und öffnete die kleine Ledermappe, indem sie das Leder um das Schloss herum mit einer Schere aufschnitt. Dann entnahm sie ihr eine Anzahl beschriebener Blätter, darunter auch ihren eigenen Brief.

Diesen las sie zuerst noch einmal durch, wobei ihr Antlitz sich jäh rötete. Sie begriff sich jetzt selbst nicht mehr, dass sie den Mut gefunden hatte, solche Worte an einen Mann zu schreiben. Als sie den Brief gelesen hatte, verbrannte sie ihn sorgsam an einer Kerze; dann atmete sie wie von einem Albdruck befreit auf. Wieder ließ sie sich dann in den Sessel nieder und entfaltete die anderen Blätter. Sie waren nummeriert und der Reihe nach geordnet. Sie begann zu lesen – und las und las – und konnte den Blick nicht lassen von den steilen, charakteristischen Schriftzügen. Ihr Herz klopfte dabei zum Zerspringen.

Haßberg schilderte in seinen Aufzeichnungen in klaren, ehrlichen Worten, wie seine Jugend durch die Untreue der Mutter dem Vater gegenüber vergiftet worden war. Er schilderte das Zerwürfnis mit seiner Schwester nach deren Treuebruch an dem Freund, der sich aus Verzweiflung darüber erschoss. Dann beichtete er seine eigenen trüben Erfahrungen mit den Frauen, die er zu lieben geglaubt hatte. Das tat er jedoch in so zarten Worten, dass Reginas Empfinden nicht verletzt werden konnte. Er wollte ihr nur erklären, wie er der tolle Haßberg geworden war, dem nichts heilig zu sein schien.

Das alles war in längeren oder kürzeren Abschnitten geschrieben, wie er gerade Zeit und Stimmung gehabt hatte. Dann erzählte er von seiner Unterredung mit Tondern, ehe er nach Südwest ging.

In dem Schreiben nannte er Regina so, wie sein Herz es ihm eingegeben hatte: „Du“ und „Solveig“.

Zum ersten Mal wurde mir da eine Andeutung, meine Solveig, dass du mir nicht freundlich und kritisch gegenüber stündest, wie ich immer geglaubt hatte. Etwas in deinen großen, ernsten Augen hatte mich immer getroffen wie ein Vorwurf, wie eine Mahnung. Im Trotz nannte ich es eine unberechtigte Kritik und gab dir heimlich den Namen: die kritische Regina.

Tondern sagte mir, er glaube, du ständest mir nicht ablehnend gegenüber. Seine Hast, mich zu entfernen, seine Bereitwilligkeit, mit einem großen Geldopfer meine Entfernungen zu erkaufen, verstärkten den Eindruck, den seine Worte auf mich gemacht hatten. Jedenfalls sah er in mir einen gefährlichen Nebenbuhler.

Am liebsten wäre ich nun hier geblieben und hätte das Rätsel gelöst, das die kritische Regina mir aufgab. Aber ich hatte Tondern bereits mein Ehrenwort verpfändet, mindestens auf zwei Jahre aus deinem Gesichtskreis zu verschwinden und nach Südwest zu gehen.

Ich ging auch und versuchte dich zu vergessen. Aber es war seltsam, je mehr ich mich bemühte, dich aus meinen Gedanken zu verbannen, je mehr nahmst du davon Besitz. Drunten in Südwest träumte ich von dir närrische, wundersame Dinge. Ich ärgerte mich darüber und redete mir ein, du seiest längst Heinz von Tonderns Frau; denn ich nahm an, dass er sich sehr beeilen würde, dich an sich zu fesseln.

Nachrichten aus der Heimat bekam ich sehr wenige. Ich schrieb auch nicht dorthin. Ich wollte nichts hören und nichts von mir hören lassen. Ich kam mir in Südwest wie ein Verbannter vor, wie ein Sklave, dem man vorgeschrieben hatte, wo er weilen dürfte, der den Kaufpreis für seine Person abarbeiten musste. Ich hatte nur einen heißen Wunsch – dass die zwei Jahre rasch vergehen möchten und ich wieder heimkehren durfte.

Nicht einen Tag länger als zwei Jahre hielt es mich da unten, obwohl ich für meinen Tatendrang ein weites Feld gefunden hatte. Es zog mich zurück – zu dir, obgleich ich mir sagte, dass ich dich als Frau von Tondern wiederfinden würde.

So kam ich zurück und hörte, dass du noch frei warst.

Da ging ich zuerst zu Tondern, um ihm das geliehene Geld zurückzuzahlen und um mich wieder zu einem freien Mann zu machen.

Ehrlich sagte ich Tondern, dass ich um dich werben würde. Er war natürlich von meiner Rückkehr nicht erbaut, noch weniger aber von meiner Absicht, mich um dich zu bewerben. Im Groll machte er mir den Vorwurf, ich wolle mich nur deines Reichtums wegen um dich bewerben. Ich hielt es unter meiner Würde, mich dagegen zu verteidigen; denn was für Sünden der tolle Haßberg auch auf sein Gewissen geladen hatte – einer niedrigen Berechnung war er unfähig. Das hat auch meine Solveig nicht von mir geglaubt. Ich brauche dir nicht zu versichern, dass du mir Höheres, Kostbareres zu bieten hattest als Geld, auf das ich nie großen Wert gelegt habe. Das Größte, Höchste hoffe ich bei dir zu finden: den Glauben an die Reinheit und Treue einer Frau.

Und ich fand diesen Glauben, meine Solveig.

Nicht wahr, du hast es empfunden, wie ich um dich warb mit allem, was in mir war? Ich wurde ein ganz anderer Mensch; ich fühlte, dass der letzte Rest der Wildheit aus meinem Wesen schwand und dass ein heiliger, tiefer Ernst mich durchdrang.

Zuweilen fühlte ich beseligt, dass es mir gelang, dir näher zu kommen, aber dann gab es wieder Stunden, in denen ich merkte, dass du scheu und ängstlich vor mir zurückwichst. Wollte ich meinen Gefühlen Worte geben, sahst du mich an wie ein bangendes Kind. Dann kam dein Brief – Solveigs herrliches, wunderbares Geständnis. O du! Was löste er alles in meiner Seele aus! Zum ersten Mal seit meinen Knabenjahren fühlte ich meine Augen feucht werden in heiliger Rührung. Du meine Erlöserin – Gott segne dich dafür, dass du den stolzen Mut fandest, mir freimütig zu bekennen, dass du mich liebtest. Noch nie hatte ich mich so klein und zugleich so groß gefühlt. Was sonst in deinem Brief stand, schien mir wesenlos, nur das Geständnis deiner Liebe, deines Glaubens, deines Vertrauens leuchtete mir strahlend daraus entgegen. Ich sehnte mich unaussprechlich danach, sofort zu dir eilen zu dürfen, meine Knie vor dir zu beugen, mein Antlitz in deinen Schoß zu legen.

So stolz war ich auf dein Bekenntnis und zugleich so demütig. Nie zuvor hatte ich Ähnliches empfunden. Aber du batest mich, dir einige Tage fernzubleiben. Dir meine Gefühle in einem Brief zu schildern, wagte ich nicht; weil ich fürchtete, er könnte in fremde Hände gelangen und dir Unannehmlichkeiten bereiten.

Ich durfte dir nicht sagen: Ich liebe dich, Regina, liebe dich, wie ich nie vor dir eine Frau geliebt habe – ich bete dich an und danke dir inbrünstig für deine Liebe, deinen Glauben, dein Vertrauen. – Mit einigen Worten – ängstlich gewählt, damit sie auch vor fremden Augen bestehen könnten – musste ich für deinen lieben, herrlichen Brief danken.

Dann kam der Krieg – ich eilte trotz deines Verbots zu dir, um dich noch einmal zu sehen. Ich hielt es für unmöglich, ohne Abschied von dir zu gehen.

Aber du bliebst unsichtbar, sagtest mir nicht Lebewohl. Warum nicht, meine Solveig? Du weißt nicht, welche Sehnsucht in mir brannte, dich nur ein einziges Mal in meine Arme nehmen zu dürfen, nur ein einziges Mal den stolzen Mund, die lieben Augen zu küssen.

Seit ich an jenem Tag von dir ging, schweigt die Frage nicht in mir: Warum sagte meine Solveig mir nicht Lebewohl?

Wenn ich fallen sollte, wenn ich nun nicht wiederkehrte – dachtest du nicht daran? Ich frage mich tausendmal – warum versagte mir Solveig diesen süßen Trost?

Werde ich jemals eine Antwort auf diese Frage bekommen? Ich höre nichts von dir, nicht einen armseligen Gruß sendest du mir, und doch ist mir, als müsstest du mit allem Denken und Fühlen bei mir sein, wie ich bei dir bin.

Trebin bekommt mit jeder Feldpost Briefe seiner Braut – alle um mich her haben Nachricht von ihren Lieben daheim. Nur ich gehe wieder und wieder leer aus, so hungrig auch meine Blicke ausspähen nach einem Gruß von dir. Heute ist es heiß hergegangen in der Schlacht. Aber nun ist es ruhig um mich her. Da draußen liegen wieder viele brave Kameraden, still und bleich, und halten den letzten Schlaf. Jeder Tag kann auch mein letzter sein. Aber ich will nicht sterben, ohne dir mein Herz eröffnet zu haben. Deshalb schreibe ich dir das alles auf. Falle ich, so sollen diese Aufzeichnungen dir zugesandt werden. Ich habe Trebin gebeten, die kleine, verschlossene Ledermappe, die ich auf der Brust trage, an die Adresse zu senden, die er in meiner Brieftasche finden wird. Wenn ich mit meinen Aufzeichnungen zu Ende bin, verschließe ich sie samt deinem Brief in der Mappe und werfe den Schlüssel fort, damit kein unberufenes Auge darauf ruhen kann. Deinen Namen nannte ich Trebin nicht. Er wird ihn erst erfahren, wenn ich gefallen sein sollte, dann wird er dir die Mappe senden. Einem Toten wirst du ja nicht zürnen, wenn er das Schweigen bricht, das du ihm auferlegtest.

Ich habe zwar die Hoffnung, dass ich am Leben bleibe und dass du mir nach meiner Rückkehr aus dem Felde alle Fragen beantworten wirst. Sollte mir aber kein Wiedersehen mit dir beschieden sein, sollte ich fallen – dann wirst du mein letzter Gedanke sein, und ich werde hinüberschlummern mit dem Bewusstsein, dass du mich geliebt hast. Gute Nacht, Solveig!

In alle Ewigkeit

dein getreuer Hans

Regina hatte mit steigender Erregung zu Ende gelesen. Zuweilen verdunkelten Tränen ihren Blick, aber zugleich war ein tiefes Glücksgefühl in ihrer Seele. Ein wunderbares Gefühl der Befreiung nahm sie gefangen. Ihr Glaube an Haßberg war wieder erwacht. So konnte kein Mann schreiben, der nicht im tiefsten Herzen empfand, was er sagte.

Sie drückte die Blätter an ihre Brust, an ihre Lippen. „Er liebt mich – er liebt mich! Vater im Himmel, ich danke dir!“, rang es sich bebend über ihre Lippen.

***

In einem unbeschreiblichen Zustand war Haßberg von Regina gegangen. Er hatte sofort in die Klinik zurückkehren und Tonderns jetzigen Aufenthalt ermitteln wollen. Aber unterwegs begegnete ihm Konsul Werner, da musste er mit ihm gehen und Gerta die Grüße Trebins bringen.

Aber so schnell wie möglich entfernte er sich wieder, obwohl er froh war, den Konsul begleitet zu haben, denn er hatte im Lauf der kurzen Unterhaltung erfahren, dass Tondern in einem Aachener Lazarett liege. Nun wusste er wenigstens, wo er ihn zu suchen hatte. Das betreffende Lazarett würde sich schon feststellen lassen. In tiefe Gedanken versunken, kehrte er in die Klinik zurück.

Nun war ihm Reginas Verhalten verständlich. Wie musste sie gelitten haben in dem Bewusstsein, einem Unwürdigen ihre Liebe, ihr Vertrauen geschenkt zu haben! Wahrlich, Tondern hätte kein wirksameres Mittel finden können, ihn in ihren Augen verächtlich zu machen, als dieses.

„Ich habe den Brief doch nicht eine Sekunde lang von mir gelassen – habe ihn gleich in meine Brieftasche gelegt und diese bei mir getragen – bis heute“, dachte er.

Aber plötzlich schlug er sich an die Stirn. Nein, da war eine kurze Zeit, da er die Brieftasche mit dem Brief nicht bei sich getragen hatte! Das war an demselben Tage, als er ihn erhalten hatte. Das fiel ihm jetzt plötzlich ein. Er hatte die Brieftasche unterwegs vermisst und war eiligst in seine Wohnung getürmt, um sie zu suchen. Und da – ja – da hatte sein Bursche ihm gesagt, Herr von Tondern habe eine Weile auf den Herrn Rittmeister gewartet. Tondern hatte allein in seinem Wohnzimmer gesessen, und wenige Schritte von ihm entfernt hatte seine Brieftasche unter dem Sessel vor dem Schreibtisch gelegen!

Ja, so musste es gewesen sein – Tondern hatte die Brieftasche unter dem Sessel entdeckt. Um ihm nachzuspionieren, um Mittel zu finden, die ihn bei Regina unschädlich machen konnten, hatte er die Brieftasche aufgehoben und durchsucht. Und hatte unglückseligerweise den Brief Reginas darin gefunden und gelesen. Dann hatte er die Brieftasche wieder unter den Sessel geworfen und sich unter einem Vorwand davongemacht.

Schnurstracks war er zu Regina gegangen und hatte sein erschlichenes Wissen in infamster Weise benutzt.

Haßberg biss die Zähne zusammen und ballte die Hand. „Bube ehrloser, verleumderischer Bube!“, knirschte er zwischen den Zähnen. Jetzt verstand er alles. Und ein heißes Mitleid mit Regina, die tausend Schmerzen hatte erdulden müssen, erfüllte seine Seele. Was er selbst unter ihrem Schweigen erduldet hatte, war vergessen; nur ihr grenzenloses Leid stand vor ihm und forderte ihn auf, Rache zu nehmen und Rechenschaft zu fordern. Jetzt erklärte er sich auch Tonderns scheues Wesen ihm gegenüber, als sie draußen in Feindesland Seite an Seite gefochten hatten. Er verstand jetzt, warum Tondern ihn so dringend um Verzeihung gebeten hatte, als er unter den Händen des Arztes zum Bewusstsein gekommen war. Da schlug ihm wohl das Gewissen gerade in jener Stunde, da Haßberg ihn mit Gefahr seines eigenen Lebens in Sicherheit gebracht hatte.

Ein tiefer Atemzug hob Haßbergs Brust. Nun sah er wenigstens Licht in der dunklen Angelegenheit. Er überlegte sich, ob er Regina seine Vermutungen brieflich mitteilen sollte. Aber er kam doch zu dem Entschluss, es nicht zu tun, denn die Anschuldigung, die er gegen Tondern aussprechen musste, war so schwer, dass es gegen seine Natur ging, es ohne Beweise zu tun. Aber nun fieberte er förmlich danach, zu erfahren, wo Tondern war.

Er ging in eine Telefonzelle und klingelte bei Tondern an.

Am Telefon meldete sich das Hausmädchen. Bereitwillig nannte es ihm die Adresse des Lazaretts.

Sofort erbat er sich für drei Tage Urlaub in einer wichtigen Angelegenheit und reiste nach Aachen. An Regina sandte er einige Zeilen, dass er nach Aachen gereist sei, um Tondern zu sprechen.

Natürlich schien ihm in seiner Ungeduld die Reise endlos lang. Und er empfand es als eine Qual, dass er, da er am späten Abend ankam, das Lazarett nicht sofort aufsuchen konnte.

Am nächsten Morgen fuhr er vom Hotel aus in das Lazarett. Doch da erfuhr er zu seinem Schrecken, dass Heinz von Tondern vor wenigen Tagen seiner schweren Verwundung erlegen sei und seine Eltern am Tag vorher mit seiner Leiche die Heimfahrt angetreten hatten.

Diese Nachricht traf Haßberg wie ein Schlag. In einer sehr gedrückten Stimmung trat er die Heimreise an.

***

Regina stand im Begriff auszugehen, als ihr der Besuch Frau von Tonderns gemeldet wurde. Betroffen blieb sie auf der Schwelle des Empfangszimmers stehen – Frau von Tondern war in tiefer Trauer.

„Meine verehrte gnädige Frau?“, stieß sie erschrocken heraus und trat auf die alte Dame zu.

Frau von Tondern schlug den Trauerschleier zurück, und Regina erblickte ein im Schmerz versteinertes Antlitz, aus dem die Augen wie erloschen auf sie blickten. „Ja, liebe Regina, es ist, wie Sie vermuten – mein Sohn – er ist tot“, sagte sie tonlos.

Regina traten beim Anblick dieses Schmerzens heiße Tränen in die Augen. Sie fasste Frau von Tonderns Hand. „Um Gottes willen, Frau von Tondern –.“

Diese machte eine hastig abwehrende Bewegung. „Nein, bitte, sagen Sie nichts – ich kann nichts hören – ich – ich habe mich mit Aufbietung meiner letzten Kraft zu Ihnen begeben, um einen letzten Wunsch meines Sohnes zu erfüllen.“

Sie nahm aus ihrer Handtasche ein versiegeltes Schreiben und gab es Regina. „Hier ist ein Brief für Sie – von meinem Sohn. Es war sein Wille, dass ich ihn persönlich in Ihre Hände legen sollte. In dieser Nacht sind wir heimgekehrt – mit der Leiche unseres Sohnes. Mein erster Weg gilt Ihnen – um seinen Wunsch zu erfüllen. Aber nun lassen Sie mich ungefragt wieder gehen – ich – kann – nicht mehr.“

Sie schlug rasch den dichten Schleier herab und reichte Regina die zitternde Hand zum Abschied. Diese beugte sich, erschüttert von dem tiefen Herzeleid, das über dem Wesen der armen Mutter lag, über ihre Hand – und schwieg. Sie fühlte, dass sie nicht sprechen durfte.

Stumm geleitete sie die alte Dame zu ihrem Wagen und kehrte in ihr Zimmer zurück. Dort öffnete sie Tonderns Brief und las:

Mein sehr verehrtes, gnädiges Fräulein! Zuweilen denke ich jetzt, dass ich bald sterben muss. Ich bin schwer verwundet. Wahrscheinlich wäre ich in Feindesland am Weg verblutet, da, wo die feindliche Kugel mich getroffen hat, wenn nicht Hans von Haßberg seines Lebens nicht achtend, mich in Sicherheit und so schnell wie möglich in ärztliche Behandlung gebracht hätte. Nun liege ich Stunde um Stunde und sinne über mein Leben nach, das wohl bald seinen Abschluss findet. Ich würde meinem Ende mit Ruhe entgegensehen, wenn nicht eine schwere Schuld mein Herz bedrückte. Um mich von diesem Druck zu befreien, will ich Ihnen eine Beichte ablegen. Es wird mir unsagbar schwer, Ihnen diese Beichte abzulegen, denn Sie werden meiner dann nur noch mit Abscheu gedenken. Dieses Bewusstsein ist eine schwere Sühne für das, was ich getan habe. Ich tat es aus Liebe zu Ihnen, Regina – gestatten Sie einem Sterbenden, Sie so zu nennen –, aber die Liebe war eigennützig. Da Sie mich verwarfen, wollte ich auch keinem anderen gönnen, dass Sie ihn liebten, am wenigsten Haßberg, den ich für unwert hielt, Sie zu besitzen. Aber jetzt fühle ich, dass ich Haßberg im eifersüchtigen Groll Unrecht tat. Auch hat er sich sehr zu seinem Vorteil verändert, und ich – o mein Gott – ich habe kein Recht, mich über ihn zu erheben. Denn ich habe getan, wessen er nie fähig gewesen wäre, auch nicht damals, als er der tolle Haßberg war. So hören Sie denn meine Beichte, Regina: Es ist nicht wahr, dass Haßberg sich damit brüstete, dass Sie sich ihm zur Frau angeboten hätten. Das habe ich gelogen. Als ich in seiner Abwesenheit in seiner Wohnung auf ihn wartete, fand ich seine Brieftasche, die ihm entfallen war, ohne dass er es merkte. Ich hob sie auf und öffnete sie. Und das erste, was ich fand, war ein Brief von Ihnen an Haßberg, worin Sie ihm Ihre ganze Liebe, Ihr ganzes Vertrauen entgegenbrachten. Schmerz, Zorn, Eifersucht und Hass machten mich sinnlos. Ich legte die Brieftasche wieder dahin, wo ich sie gefunden hatte. Dann ging ich zu Ihnen, Regina, und verleumdete Haßberg. Nie – niemals kann ich vergessen, wie Sie mich ansahen, Regina, als Ihr Glaube an Haßberg zerbrach. Ich habe seither keine ruhige Stunde mehr gehabt. Oft habe ich Haßberg draußen im Feld mit düsterem Antlitz sitzen sehen, wenn alle anderen Post bekamen und er leer ausging. Ich wusste, meine verleumderischen Worte hatten bei Ihnen gewirkt, und ich fühlte, er sehnte sich nach einem Gruß von Ihnen. Das traf mich immer wie ein Vorwurf. Manchmal war ich drauf und dran, ihm alles zu gestehen, aber die Scham hielt mich zurück. Es ist nicht leicht, sich selbst als ehrlos hinzustellen. Als er mich nach meiner Verwundung gerettet hatte und ich unter den Händen des Arztes aus tiefer Bewusstlosigkeit zu mir kam, bat ich ihn um Verzeihung und wollte beichten aber ich hatte keine Kraft mehr dazu. Wenn Sie diesen Brief erhalten, dann werden Sie Haßberg Ihre Liebe und Ihr Vertrauen wieder schenken. Ich bitte Sie inständig, schreiben Sie ihm und bitten Sie für mich bei ihm um Verzeihung. Wem eine Regina Baldus sich zu Eigen gibt, der kann großmütig sein und einem armen Sünder vergeben, der aus Liebe fehlte – aus Liebe hasste. Da ich einmal beim Beichten bin, sagen Sie bitte Haßberg auch, dass ich damals seine Schulden durch eine Mittelsperson habe aufkaufen lassen, um ihn im Regiment unmöglich zu machen. So weit verlor ich mich, um ihn als Nebenbuhler unschädlich zu machen.

Wie schwer lastet das alles auf mir! – Noch einen letzten Wunsch habe ich, Regina. Ersparen Sie meinen Eltern die Erkenntnis, wie ehrlos ihr Sohn geworden ist. Lassen Sie den alten Leuten den Glauben, dass ich als ehrlicher Mensch gestorben bin.

Und nun leben Sie wohl, Regina, und verzeihen Sie Ihrem

Heinz von Tondern

Erschüttert ließ Regina den Brief sinken, als sie ihn zu Ende gelesen hatte. Mit tränenden Augen sah sie vor sich hin. „Armer Tondern! Frieden seiner armen Seele“, sagte sie leise vor sich hin. Sie konnte dem Toten nicht zürnen.

Aber ihre Brust hob sich, als sei eine schwere Last von ihr abgefallen. Nun waren alle Zweifel an Hans von Haßberg für immer verschwunden. Dieser Brief brachte auch für ihn Erlösung und Befreiung. Nun brauchte er sich um keine Rechtfertigung mehr zu bemühen.

Wie würde er erschrecken, wenn er in Aachen erfuhr, dass Tondern gestorben war. Er würde nun daran verzweifeln, dass er sich nicht rechtfertigen konnte. In welch bedrückter Stimmung würde er von Aachen zurückkehren.

Sie erhob sich und trat an ihren Schreibtisch. Aus einem Fach nahm sie das Billet, durch das ihr Haßberg mitgeteilt hatte, er werde auf drei Tage nach Aachen reisen, um Tondern aufzusuchen. Heute war der dritte Tag. Aber vor Abend kam er sicher nicht zurück. Sehen und sprechen konnte sie ihn heute nicht mehr. Aber wenn er zurückkam, sollte er gleich Nachricht von ihr vorfinden.

Sie wollte ihm schreiben, ihm alles erklären. Aber dann schüttelte sie den Kopf. Nein, das beste war, er las Tonderns Beichte selbst.

So faltete sie Tonderns Brief zusammen und steckte ihn in ein Kuvert. Auf eine Visitenkarte schrieb sie nur:

Solveig wartet!

Am Abend dieses Tages, als Regina mit Tante Therese bei einer Strickarbeit saß, legte Regina plötzlich den fertig gewordenen grauen Wollstrumpf aus den Händen und sagte aufatmend: „Liebste Tante, wenn du für einige Minuten dein Strickzeug ruhen lassen möchtest, will ich dir etwas beichten.“

Die alte Dame warf sofort ihren Strickstrumpf hin und sah Regina erwartungsvoll an.

Diese zog die alte Dame neben sich auf den Diwan, legte ihren Arm um sie und erzählte ihr die ganze Geschichte ihrer Liebe, ihres Hoffens und Fürchtens, ihrer Qual und Not und ihres endlich errungenen Glücks.

Tante Therese durchlebte in dieser Stunde Reginas ganzen Herzensroman. Sie war zum Schluss sehr gerührt und vergaß alle Einwendungen. Regina zeigte ihr Haßberg in einem ganz neuen Licht, und sie musste zugeben, dass sie hauptsächlich durch Tondern gegen ihn eingenommen worden war. An diesem Abend kamen die Strickarbeiten nicht mehr zur Geltung, so viel hatten die beiden Damen miteinander zu besprechen. Dann war es Zeit, zur Ruhe zu gehen. Aber Regina brauchte lange Zeit, ehe sie einschlief.

Am nächsten Morgen erhob sie sich mit einem Gefühl, als sei ein großer Feiertag für sie angebrochen. Sie wusste, heute musste Haßberg kommen. Sie sollte sich nicht täuschen. Haßberg war am späten Abend von Aachen zurückgekehrt und hatte Reginas – oder vielmehr Tonderns Brief sofort erhalten. Ohne Zögern hatte er ihn gelesen. Da war auch in seine bedrückte Seele Ruhe eingezogen. Mit einem Gefühl der Erlösung hatte er sich zur Ruhe begeben. Am nächsten Morgen erwachte er mit ähnlichen Gefühlen wie Regina; noch ungeduldiger als sie sah er der Stunde entgegen, da er in der Villa Baldus Besuch machen konnte.

Regina saß mit Tante Therese im Wohnzimmer, als Haßberg gemeldet wurde. Sie wurde flammend rot und drückte die Hände aufs Herz. „Führen Sie den Herrn Rittmeister in das kleine Empfangszimmer“, gebot Tante Therese dem Zimmermädchen, das den Besuch meldete. Als dieses sich entfernt hatte, zog Tante Therese Regina in die Arme und küsste sie.

„Nun geh mit Gott, mein Kind! Du wirst ja wohl mit deinem Herzallerliebsten allein sprechen wollen. Ich will euch bei dieser Aussprache nicht stören. Wenn ihr mich braucht – ich bleibe im Wohnzimmer.“

Regina ging hinüber in das Empfangszimmer. Sie hätte fliegen mögen, und doch lösten sich ihre Füße nur schwer vom Boden. Vor der Tür blieb sie einen Moment tief atmend stehen und drückte die Hände aufs Herz. Aber dann nahm sie allen Mut zusammen und trat ein. Haßberg stand mitten im Zimmer, hoch aufgerichtet, mit leuchtenden Augen. Eine tiefe Erregung spiegelte sich in seinen Zügen, als er Regina erblickte, die ihm scheu und doch glückselig entgegensah. Er eilte auf sie zu und zog sie mit seinem gesunden Arm fest an sich, als wolle er sie nimmer lassen. Sie fühlte den starken, schnellen Schlag seines Herzens. Der verriet ihr deutlicher als alle Worte, wie es in ihm stürmte. Lange sahen sie sich an, ihre Blicke tauchten tief ineinander und redeten eine Sprache, die nur Menschen verstehen, die einander lieben. Unter dem Bann seiner Augen erglühte Regina mehr und mehr. Fester und fester zog er sie an sich, und dann fanden sich die Lippen im ersten seligen Kuss der Liebe. Regina erzitterte unter diesem Kuss. Da ließ er sie in einen Sessel gleiten und sank vor ihr nieder auf die Knie. Aufatmend legte er den Kopf in ihren Schoß.

„So lass mich ruhen in deiner Liebe, meine angebetete Solveig, wie ich’s in meinen Träumen erhoffte. Nun hat der tolle Haßberg seinen Frieden, seine Heimat, seinen Glauben gefunden. Er ist erlöst durch dich, durch deine Liebe“, sagte er und küsste ihr mit inbrünstiger Zärtlichkeit die Hände.

Lange saßen sie innig umschlungen und sprachen von dem, was ihre Seelen erfüllte.

Aufatmend löste sich Regina schließlich aus seinen Armen. „Nun lass uns zu Tante Therese gehen! Sie weiß alles und wartet auf uns.“

Er erhob sich bereitwillig. Aber dann dauerte es doch noch lange, bis sie das süße, glückselige Alleinsein aufgaben.

Endlich gingen sie aber ins Wohnzimmer, Hand in Hand und mit strahlenden Augen. Tante Therese erhob sich und kam ihnen entgegen. Forschend senkte sich ihr Blick in den Haßbergs.

Haßberg küsste ihr die Hand. „Bitte haben Sie Vertrauen zu mir, gnädige Frau! Es ist mein einziger Wunsch, Regina glücklich zu machen.“

Tante Therese nickte und zwang die Tränen nieder. Dann sagte sie lächelnd: „Wenn du mir meine Regina nimmst, dann lass auch die gnädige Frau beiseite, mein Sohn. Ich will dir, wie ihr, die alte treue Tante Therese sein.“

Damit nahm sie ihn ohne Umschweife beim Kopf und küsste ihn.

Sie saßen dann alle drei zusammen und hatten mancherlei zu besprechen. Etwas erschrocken war Tante Therese, als sie hörte, dass die jungen Leute schon in den nächsten Tagen in aller Stille Hochzeit halten wollten. Das ging nicht so schnell in ihren Kopf, dass ihre Regina so Hals über Kopf und ohne festliches Gepränge vor den Altar treten sollte. Aber sie fand nicht den Mut, Haßbergs dringenden Bitten zu widerstehen. „Also in Gottes Namen – lasst euch kriegstrauen. Es ist ja doch jetzt eine kriegerische Zeit. Wer weiß, was noch kommt. Das Glück, das ihr genossen habt, kann euch niemand mehr rauben.“

So wurde denn beschlossen, dass die Trauung des jungen Paares in acht Tagen stattfinden sollte. Bis dahin sollte Haßberg in der Klinik des Professors Menzel bleiben.

Regina wünschte, dass ihr Gatte dann nach der Villa Baldus übersiedeln sollte. Die Zimmer, die ihr Vater bewohnt hatte, sollten für Haßberg vorgerichtet werden. So gab es noch viel zu beraten und zu besprechen, und weder das Brautpaar, noch Tante Therese wurden müde, Zukunftspläne zu schmieden.

Reginas Glück wurde nur zuweilen getrübt durch den Gedanken, dass Haßberg wieder in den Kampf ziehen müsse, wenn er geheilt war. Aber mit der Inbrunst der liebenden Frau hoffte sie, dass Friede geschlossen würde, ehe der Geliebte wieder felddienstfähig wurde.

Reginas Verlobung und ihre bald darauf folgende Verheiratung erregte selbst in dieser aufregenden Zeit das allgemeine Interesse und war in der ganzen Stadt Tagesgespräch. Darüber verblasste selbst der Eindruck, den die jüngst erfolgte Vermählung Frau Melanie von Hausens mit einem Ingenieur hervorgerufen hatte. Sie lebte seit ihrer Rückkehr aus Ostende in Berlin, und Leute, die sie dort getroffen hatten, wussten zu berichten, dass aus der einst so koketten Weltdame eine ernste, stille Frau geworden sei, die im Dienst der Nächstenliebe schon viel Gutes gewirkt habe.

Auch in das Trauerhaus, in dem die unglücklichen Eltern Heinz von Tondern beweinten, drang die Kunde von Reginas Verlobung. Lange sah Frau von Tondern auf die Anzeige herab. Dann sagte sie seufzend zu ihrem Gatten: „Wie gut, dass es unserem Heinz erspart blieb, von dieser Verlobung zu hören. Es hätte ihm unsagbar weh getan.“

***

In der Villa Baldus lebte ein glückseliges Paar und kostete jede Minute des Glücks mit heißer Inbrunst aus.

Als Hans von Haßberg mit Regina in aller Stille zum Altar schritt, trug er den verwundeten Arm zum ersten Mal ohne Binde. Aber er hing noch steif an ihm nieder, und Professor Menzel hatte ihm nicht verhehlt, dass Monate vergehen würden, bevor er ihn wieder richtig bewegen könne. Untätig wollte Haßberg deshalb aber doch nicht bleiben. Sobald er sich mit dem verwundeten Arm nur leidlich behelfen konnte, übernahm er Garnisondienst, um auf diese Weise dem Vaterland seine Dienste zu weihen.

Von Fritz von Trebin kamen nach wie vor gute Nachrichten. Er war befördert worden, und Gerta hielt treulich an ihrer Zuversicht fest, dass ihr Fritz heil und gesund aus dem Feldzug heimkehren würde.

Wenn Hans von Haßberg nach seinem Tagewerk in der Kaserne heimkehrt, kommt ihm leuchtenden Auges seine junge Frau entgegen, und er umfasst sie mit leidenschaftlicher Innigkeit und einem Gefühl, als würde sie ihm jedes Mal neu geschenkt. Senkt sich dann der Abend herab, so bittet er zärtlich: „Sing mir ein Lied, Regina!“

Dann tritt die junge Frau an den Flügel, und zu den rauschenden Tönen des Instruments klingt voll und weich ihre Stimme. Sie singt ihrem Gatten Solveigs Lied. Er kann es nicht oft genug hören, und seine Augen ruhen dabei glückselig auf der geliebten Frau.

Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil II)

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