Читать книгу Mörderischer Rollback - Heide-Marie Lauterer - Страница 10
ОглавлениеSpin
Die einzige, die dem Unfall etwas Gutes abgewinnen konnte, war Maxi. Sie war wie umgewechselt, redete wieder freundlicher mit mir, machte mir keine Vorwürfe wegen des Unfalls. Von unserer neuen Wohnung bis zur Go-West-Ranch war es mit dem Auto nicht weit, ich würde sie zwei, drei Mal bringen können. Sie hatte jetzt wieder eine Aufgabe, dachte ich, und konnte die Matheaufgaben, die ihr die Gehirnwindungen verknoteten, für ein paar Stunden vergessen. „Englisch-Vokabeln kann ich auch bei AP in der Box lernen, da haben wir beide was davon“, sagte sie. Ich musste schmunzeln, das war echt Maxi, wenn es um AP ging, konnte sie sogar Vokabeln etwas abgewinnen.
Am nächsten Morgen betrat ich pünktlich um Neun mein Homeoffice. Ich gab die Hoffnung nicht auf, neue Schreibaufträge zu bekommen, deshalb fuhr ich als erstes meinen PC hoch. Es war mir schon einige Male passiert, dass potentielle Kundinnen ihre Anfrage wieder zurücknahmen, wenn ich mich einen oder zwei Tage später gemeldet hatte.
Doch an diesem Morgen hätte ich mir besser etwas anderes einfallen lassen sollen, denn kaum hatte ich meine Mails aufgeklickt, war es mit dem Arbeiten vorbei. „Hoppe hoppe Reiter, wenn er fällt dann schreit er, fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben. Da brauchst du gar nicht mehr reinzufallen, du steckst schon mitten drin im Sumpf, du blöde Ziege. Bist ja schon vergiftet und halb verwest. Vergiss deinen Helm nicht! Und: Weiterhin viel Spaß beim Ponyfüttern. Das Futter schmeckt hoffentlich noch? Ein alter Bekannter.“
Ich fühlte mich wie bei meinem ersten Spin, mir wurde schwindelig und ich wünschte mir nur, dass das Drehen aufhörte. Doch so einfach war es nicht – auf AP hatte ich ja nur die Beine ausstrecken und ‚whoa‘ sagen müssen, aber hier? Um diesen Spin zu beenden, erforderte andere Mittel. Aber welche? Es war doch nur ein alter Kinderreim, warum wühlte er mich so auf? Mir wurde heiß, vor meinen Augen flirrten Schlieren, die mich daran hinderten, in der Spur zu bleiben. Einfach löschen? Joey drückte anonyme Nachrichten sofort weg, kein Wunder, er hatte als Security-Mann und Türsteher gejobbt und jede Menge Drohungen erhalten. Warum machte ich es nicht auch so? Oder lieber den Absender auf „SPAM“ stellen? Aber war das eine gute Idee? Den Spamordner musste ich ja auch kontrollieren, falls sich ein lukrativer Auftrag dorthin verirrt hatte. Besser nicht löschen, dachte ich und verschob die Mail ins Archiv. Vielleicht brauchte ich sie noch für die Polizei. Für die Polizei? Wenn aber wider Erwarten doch mein ehemaliger Kollege Helmut dahintersteckte? Ich wollte ihn nicht verpetzen, außerdem war ich gar nicht sicher, ob ich ihn nicht zu Unrecht verdächtigte. Wenn nötig musste ich die Angelegenheit persönlich mit ihm klären.
Um frische Luft zu schnappen, ging ich auf die Terrasse. Dort stand eine Umzugskiste mit Krimskrams, vollgestopft mit alten Pferdebüchern á la ‚Longieren aber richtig‘, ‚Das kleine Reitabzeichen‘, ‚Vorsicht Giftpflanzen‘ und mit Briefen und Postkarten meiner Freunde und Freundinnen. Ich hatte die originellsten aufgehoben, z.B. die Kunstpostkarte ‚Der behexte Stallknecht‘ von Baldur Grien, einem Maler aus der Barockzeit, sie kam vermutlich von Helmut. Auf der Karte war ein feister Stallknecht zu sehen, der in voller Länge hinter einem listig zurückschauenden Hengst lag. Mein Kollege hatte Humor, wenn auch einen ziemlich schwarzen. Er hatte sich öfter über mich geärgert, weil ich zehn Minuten früher Schluss gemacht hatte, um in den Stall zu gehen, und er hatte Angst vor Pferden. Eine kleine Warnung vor den Gefahren, die im Stall auf mich lauerten.
Ich hob die Plane auf, die ich über die Kiste gelegt hatte und nahm ein Fotoalbum mit Kinderbildern in die Hand. Manche Fotos hatten sich aus den Ecken gelöst, als erstes fiel mir ein Faschingsfoto aus den 1980er Jahren von mir und einem etwas älteren Jungen in die Hand, die Farben hatten einen Blaustich. Wir waren beide verkleidet, er als Indianer mit Häuptlingsfederschmuck, acht oder neun Jahre alt. Ich trage ein mit Borten verziertes Indianerkleid und eine schwarze Perücke mit Zöpfen und einem Stirnband, aus der eine Feder ragte, war drei oder vier Jahre alt und schaue treuherzig und stolz zu ihm auf. Auf dem zweiten Foto war er ein paar Jahre älter, ein kräftiger Junge mit Stoppelhaaren und zerrissener Hose. Er hielt ein Beil in der Hand, vor ihm lag ein Berg Holzscheite; das Foto war bei meinen Onkel im Odenwald aufgenommen worden. Doch die Fotos berührten mich eigentümlich, ich kam nicht von ihnen los. Im ersten Augenblick wusste ich nicht, wer der Junge war. Ich kramte so lange in meiner Erinnerung, bis es mir wieder einfiel: Der Junge war mein Vetter, der eine Zeitlang bei uns gelebt hatte. Er musste kurz nach der zweiten Aufnahme aus meinem Leben verschwunden sein. Er war einfach weg gewesen und ich hatte nie mehr wieder etwas von ihm gehört. Was wohl aus ihm geworden war? Mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich niemanden mehr nach ihm fragen konnte, meine Eltern waren vor fünf Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen und meine Großeltern waren schon länger tot. Es gab nur noch wenige Menschen, die mich von Kindheit an kannten.
Weil ich ein Geräusch an der Haustür hörte, legte ich das Foto auf den kleinen Metalltisch. Die Balkontür öffnete sich, Maxi kam zu mir heraus, öffnete ihre Trinkflasche, trank ein paar Schlucke und sagte: „Ziemlich heiß heute.“ Sie griff nach dem Foto, das ich auf den kleinen Tisch gelegt hatte. „Wer ist das?“, fragte sie neugierig.
„Mein Vetter Patrick, ich habe ewig nicht mehr an ihn gedacht, ein uraltes Foto, ich habe es gerade beim Aufräumen entdeckt.“
„Dein Vetter? Echt? Warum hast du nie von ihm gesprochen – was ist mit ihm?“
„Als ich zehn war, ist er aus dem Haus – ich glaube, er hat eine Lehre gemacht.“
Maxi guckte auf das Bildchen. Sie blickte zu mir, dann wieder zu dem Jungen und sagte: „Ähnlich seht ihr euch ja nicht. Aber weißt du was – er sieht mir ähnlich, dieser Patrick.“
„Meinst du wegen der schwarzen Haare? Stimmt irgendwie, deine sind heute schwarz gefärbt, nicht mehr grün und nicht mehr blau, oder?“
„Stimmt! Er gefällt mir.“
„Er war ehrgeizig, da seid ihr euch ähnlich, auf dem Bild ist er vielleicht so alt wie du heute.“ Mit dieser Auskunft schien Maxis Interesse an meiner Familie wieder zu erlöschen. Sie hielt das Bildchen in der Hand und schwieg. Etwas schien sie zu beschäftigen, dann sagte sie so leise, dass ich sie kaum verstand: „Hast du ihn geliebt?“
„Hm, keine Ahnung“, sagte ich. „Er war mein Kumpel, wir hatten viel Spaß zusammen, ich war nicht allein. Ich habe ihm vertraut, naja, meistens. Manchmal hab ich mich auch über ihn geärgert, wenn er mich verpetzt hat. Oder er hat mir Angst gemacht. Wir waren wie richtige Geschwister.“
„Und du? Aber du hast ihn nie verpetzt?“ Maxi bekam ihren Schlangenblick und legte das Bild auf den Tisch, setzte die Wasserflasche an und gleich wieder ab. „Leer! Ich habe Durst, muss was trinken.“
„Soll ich uns was zu essen machen, bevor ich in den Stall fahre?“
„Machen?“, sagte Maxi. Wir schauten uns an und lachten. Wir brauchten nicht in unseren Kühlschrank zu schauen, um zu wissen, dass außer zwei Jogurts und vier verschrumpelten Karotten nichts drin war.
„Soll ich Pizza oder lieber chinesisch …?“
„Lieber mal chinesisch“, sagte ich.
Die Lieferung dauerte hier draußen viel länger als in der Stadt. Als das harte Gemüse in Soja-Soße und Klebereis endlich vor uns stand, war es lauwarm. „Ab in die Mikrowelle“, sagte Maxi. „Ist nicht gerade ökologisch, aber vegan.“ Wehmütig dachte ich an die leckeren Tagliatelle mit Steinpilzen, die uns Gerson manchmal zubereitet hatte. Und dazu ein Glas eisgekühlten Pino Grigo. Vor gefühlten Ewigkeiten.
„Mikroplastik, Glyphosat, Geschmacksverstärker, Farbstoffe“, sagte Maxi, als wir die Näpfe nach drei Minuten aus der Welle holten. Ich enthielt mich eines Kommentars, sagte nichts über den Geschmack des viel zu heißen Essens. „Gar nicht schlecht“, sagte sie, „wenn man ab und zu einen Schluck Cola trinkt.“ Kein Fleisch, aber Geschmacksverstärker, Farbstoffe, Glyphosat und dann auch noch Coca Cola? Ich trank lieber Wasser, an Maxis Lieblingsdrink konnte ich mich nicht gewöhnen. Wir waren gerade dabei, die Küche aufzuräumen, als ihr Handy klingelte. „Es ist Joey“, sagte sie. „AP ist unruhig. Ich soll kommen. Er will mich wieder zurück bringen, später.“ Weil sie plötzlich so bekümmert und traurig aussah, sagte ich schnell: „Okay, ich fahr dich.“ Es war schön, dass sich Maxi so verantwortlich für AP fühlte und irgendwie war ich froh, meinem Heimoffice für eine Weile zu entkommen.