Читать книгу Mörderischer Rollback - Heide-Marie Lauterer - Страница 9

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Go West!

„Ich hab’ Schule“, sagte Maxi.

Sie hätte es mir nicht sagen brauchen, Schule ging vor, das war klar, doch sie meinte etwas anderes. Sie machte sich Sorgen wegen AP. Schon seit Tagen hatte sie keine Gelegenheit ausgelassen, mich zu warnen: „Denk nur an Nine!“ Ich erinnerte mich nur zu gut. Wir hatten das Verladen so lange mit ihr geübt, bis sie ohne zu zucken auf den Hänger ging. Doch jedes Mal, wenn wir mit ihr verreisen wollten, oder zu Doktor Abnemer in die Klinik mussten, marschierte APs Mutter forsch bis zur Rampe und blieb dann mit einem Ruck stehen. Mein Pferd erstarrte zu einer tonnenschweren Bronzestatue und machte ihrem schönen Namen Nine days wonder alle Ehre. Maxi brachte es fertig, sie in Bewegung zu setzen, indem sie einen Huf nach dem anderen anhob und ihn Zentimeter für Zentimeter auf die Rampe stellte, manchmal brauchten wir für die zwei Meter über eine Stunde.

„Alles Paletti ist anders“, sagte ich mit dem Mut der Verzweiflung.

Maxi lächelte traurig. „Aber ich kann euch nicht helfen“, fügte sie hinzu. Ich wusste genau, was sie dachte.

In der Nacht vor unserem Auszug schlief ich schlecht, wachte alle zwei Stunden auf, döste wieder ein. Im Halbschlaf dachte ich an den Transport im Morgengrauen. AP war Nines Sohn, würde er sich anstandslos in den Hänger führen lassen? Gab es ein Heunetz? Hatte sich Joey um den TÜV gekümmert, wie er mir versprochen hatte?

Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere Seite, ging in die Küche, trank einen Schluck Wasser, da hörte ich mein Fon brummen. Eine Nachricht von Joey? Mitten in der Nacht? Doch der Betreff machte mich stutzig: EIN ALTER BEKANNTER.

Ich klickte die Nachricht auf, blinzelte, schaute noch einmal hin und begann zu lesen: „Hat man es dir endlich in dein hübsches Köpfchen gehämmert? Das Leben ist hart! So hart und kalt wie dein Herz! Aber du weißt ja, was mit harten Herzen los ist! Sie hören auf zu schlagen und das war’s dann. Ha ha, du alte Märchentante! Pass lieber auf, dass dir niemand in die Parade fährt! Bis zum nächsten Mal, und viel Spaß beim Ponyfüttern. EIN ALTER BEKANNTER.“

Was sollte dieser Unsinn? Fröstelnd taumelte ich zurück ins Bett. Jemand hatte sich einen dummen Scherz mit mir erlaubt, die Anspielung auf Märchen und das kalte Herz, dahinter steckte möglicherweise jemand aus dem Kundenkreis meines Ghostwriter-Büros. Bei mir meldeten sich eine Menge dieser Möchtegern-Schriftsteller, die jeden kruden Einfall für Kreativität hielten, mir ihre Texte schickten und auf mein Feedback warteten. Der letzte hatte einen Nachruf auf sich selbst geschrieben, mit einer Todesanzeige, die ich im ersten Moment für echt gehalten hatte. Erst auf den zweiten Blick hatte ich das um zehn Jahre vordatierte Todesdatum wahrgenommen.

Je länger ich grübelte, desto wacher wurde ich. Helmut, fuhr es mir durch den Kopf. Mein Kollege aus dem Forschungsprojekt, er hatte sich öfter über mich geärgert. Weil ich keine Zeit für einen Cappuccino im Star-Coffee hatte oder für Spaghetti Arrabiata beim Stehitaliener, mit integriertem Ablästern über ungeliebte Kollegen? Aber warum sollte mir Helmut ausgerechnet mitten in der Nacht so eine Nachricht schreiben? Nein, das sah ihm nicht ähnlich. Ob ich Joey morgen die Mail zeigen sollte? Lieber nicht! Er würde darüber lachen, da war ich mir sicher. Du bist doch immer so cool, Vera, warum regst du dich so auf? Also gut: Weg damit! Als ich die Mail auf meinem Fon gelöscht hatte, wurde ich ruhiger und schlief noch einmal ein.

Über AP hätte ich mir keine Sorgen zu machen brauchen. Er marschierte routiniert auf die Rampe, hielt schnurstracks aufs prallgefüllte Heunetz zu und fing an, Halme heraus zu rupfen. Ich drückte die Laderampe nach oben, steckte den Bolzen in die Vorrichtung, horchte, bis ich AP genüsslich kauen hörte. Plötzlich erfasste mich eine Welle von Traurigkeit, ich ließ die Schultern hängen und blieb einfach stehen.

Joey, der schon dabei war, den Motor anzulassen, kam noch einmal zurück. Er fasste mich mit beiden Händen bei den Schultern, drehte mich zu sich um und sagte: „Alles Paletti, Vera!“ Lautes Kläffen schreckte uns auf. Joey löste die Umarmung und beugte sich zu Käpt’n Nemo hinunter, der ihm liebevoll die Wange ableckte; Joey kraulte ihn hinter den Ohren. Dann öffnete er die Wagentür und Nemo sprang auf den Rücksitz.

Wenige Minuten später ging es auf der Autobahn Richtung Weinheim. „Hat es geklappt gestern, mit dem TÜV?“, fragte ich.

„Wieso gestern? Übermorgen!“, sagte Joey. Ich atmete tief durch und fühlte nach meiner Silberkröte. Sie soll dir helfen, hatte Maxi gesagt. In dringenden Fällen, dieser hier war es! Bitte Kröte, hilf mir, schickte ich ein Stoßgebet in den Krafttierhimmel: Lass uns gut ankommen.

Eingeklemmt zwischen zwei LKW zockelten wir schweigend bis zur Ausfahrt Weinheim, dann fuhren wir auf dem Zubringer Richtung Odenwald. Käpt’n Nemo hatte sich auf dem Rücksitz zusammengerollt und schnarchte. Nach kurzer Fahrt ging es durch den Saukopftunnel. In der Ebene hatte die Luft nach Staub und Abgasen geschmeckt, hinter dem Tunnel wurde die Luft frischer, uns empfingen sanfte Hügel, Wiesen und blühende Apfelbäume. Ich öffnete das Seitenfenster, atmete die würzige Morgenluft und entspannte mich. Wir näherten uns APs neuem Zuhause, er würde es hier gut haben. Joey hatte mir versprochen, dass er ihn zusammen mit seinen Pferden Cloud und Storm auf eine Koppel stellen würde. Blieb nur zu hoffen, dass der Plan aufginge, AP konnte ziemlich kratzbürstig werden, wenn ihm ein Wallach den Rang streitig machte.

Joey lenkte den Pickup über einen Bahnübergang, der Hänger holperte über die Schienen, hinter uns hörte ich AP unruhig stampfen. Er wieherte aufgeregt und augenblicklich kehrte meine Anspannung zurück. „Nur noch die kleine Straße durch den Wald, dann kommt die Ranch“, sagte Joey. „Da gibt es keinen Gegenverkehr.“ Wie auch, dachte ich, die einspurige Straße war ja schon für unser Gespann zu eng. Ein entgegenkommendes Fahrzeug hätte ausweichen müssen, aber links neben der Straße ging es steil bergab und rechts wucherte eine dichte Brombeerhecke.

Die Straße schlängelte sich durch einen lichten Buchenwald, dann kamen die Wiesen, Nebel stieg auf und in den Strahlen der aufgehenden Sonne glitzerte der Tau. ‚Mornin’ has broken‘ sang Cat Stevens im Oldie-Sender, aber der Song, der früher mein Herz weit gemacht hatte, drang heute nicht zu mir durch. Auf einmal fühlte sich alles so künstlich an. Alles existierte ohne mich, der Song, die Natur, die aufgehende Sonne, ob ich hier oder woanders war, schien völlig gleichgültig. ‚Halt an, dreh um‘, hätte ich am liebsten gerufen. ‚Wir kommen nicht weiter, und zurück auch nicht, es hat alles keinen Zweck‘. Doch ich zwang mich ruhig zu bleiben.

Eine Kurve, dann noch eine, die einspurige Straße verengte sich noch mehr. Abrupt nahm Joey den Fuß vom Gaspedal – Bremsen quietschten, Benzingestank drang durchs offene Fenster, er riss das Lenkrad herum. Ich wurde hart nach vorne in den Sicherheitsgurt geschleudert, hörte Motorenknattern, drehte mich mühsam um, konnte gerade noch ein schweres Motorrad erkennen, das in der Kurve verschwand. Mit einem Satz war Joey draußen. Mein Nacken schmerzte, ich löste den Gurt, öffnete zitternd die Wagentür. Der Hänger hing mit einem Rad über der Böschung. AP wieherte.

„Shit!“ Joey zerrte an dem Bolzen der Verriegelung, immer wieder rüttelte er an dem Metallteil, doch es rührte sich nicht. „Der Kerl hat uns den Weg abgeschnitten!“ Wir versuchten, den Hänger auf die Straße zu schieben. Nach einer Viertelstunde vergeblicher Schufterei gaben wir auf.

„Hey!“ Ein Mann tauchte plötzlich hinter dem Hänger, in Arbeitsjeans und Cowboystiefeln mit einem Halfter in der Hand. „Ihr seid in den Graben gefahren.“ Es klang wie eine Feststellung. „In den Graben, fressen ihn die Raben“, summte er abwesend vor sich hin, während er um den Hänger herumlief und an der Tür rüttelte.

„Wir schieben das Ding auf die Straße“, sagte er zu Joey, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Er kam mir irgendwie bekannt vor, doch ich konnte mich nicht erinnern, wo ich ihn schon einmal gesehen hatte.

„Mach noch schnell noch ein Foto!“, sagte Joey zu mir. „Besser ist besser.“ Doch weil AP ängstlich schnaubte, und von einem Huf auf den anderen trat, ließ ich das Fon der Tasche stecken. Ich musste ihn beruhigen, das war wichtiger als ein Foto. Durch das Seitenfenster fütterte ich ihn mit Karottenstückchen, die mir Maxi gestern Abend noch gerichtet hatte. Er nahm sie mir Stück für Stück aus der Hand und wurde ruhiger. Ich sah, dass er auf allen vier Beinen stand. Gottseidank! Er schien nichts gebrochen zu haben.

Die beiden Männer machten sich an die Arbeit, doch der Hänger bewegte sich keinen Zentimeter. Zu dritt schafften wir es dann irgendwie, den Hänger wieder flott zu machen, bis zum Hof waren es nur noch ein paar Minuten. Wir boten unserem Helfer an, einzusteigen, doch er winkte ab. „Muss noch schnell bei meiner Kleinen vorbei“, sagte er und griff sich das Halfter, das er über den Außenspiegel des Pick-ups gehängt hatte. „Bis später.“

Ich kletterte auf den Beifahrersitz und Joey drehte den Zündschlüssel um. „Kennst du den Mann?“, fragte ich.

„Er hilft auf der Go-West-Ranch aus. Macht alles, was anfällt.“ Jetzt fiel es mir wieder ein, – es war derselbe Typ, mit dem sich Maxi neulich unterhalten hatte. Er sah aus wie der Popstar Prince, oder dessen älterer Bruder. „Er heißt Janic“, sagte Joey.

„Sollen wir die Polizei anrufen?“, sagte ich, als der Hof in Sicht kam.

„Polizei? Lieber nicht!“

„Was?“

„Keine Polizei, – der Hänger hat keinen TÜV mehr.“

„Aber es war Fahrerflucht!“, sagte ich wütend. Mein Nacken schmerzte und etwas drückte auf meine Herzgegend.

„Komm, mach schon, wir müssen uns beeilen“, sagte Joey. „Lydia hat den Tierarzt auf 8 Uhr bestellt, er wartet bestimmt schon auf uns.“

„Wir müssen ihr doch von dem Unfall erzählen?“

„Abwarten! Zuerst die Tür“, sagte Joey, „dann sehen wir, ob mit AP alles in Ordnung ist und dann können wir immer noch …“ Er unterbrach sich mitten im Satz und deutete mit dem Kopf nach vorne auf die Hofeinfahrt. „Dumm gelaufen“, sagte er. Dort stand Lydia im nagelneuen Westernoutfit samt Stetson neben ihrem Motorrad. An ihren grünen Krokolederstiefeln klapperten blitzende Rädchensporen, groß wie Kuchenteller.

Joey stieg aus, schaute sich um. Von Janic und seinem Werkzeug keine Spur. Joey zögerte nicht eine Sekunde und sagte zu Lydia: „Die Rampe klemmt, hast du mal einen Hammer?“

„Lass sehen“, sagte Lydia und ging um den Hänger herum. Keine Ahnung, wie sie es fertigbrachte, jedenfalls lockerte sich der Bolzen nach wenigen Handgriffen, und wir konnten die Rampe herunterlassen.

In diesem Augenblick rollte Doktor Abnemers blauer Combi auf den Hof. Ich führte AP vorsichtig aus dem Hänger und noch ein paar Schritte auf dem Weg. Der Tierarzt schaute uns stirnrunzelnd zu, sein Blick bedeutete nichts Gutes. Er deutete auf APs rechtes Vorderbein. „Mal auf hartem Boden antraben“, sagte er, aber schon nach zwei, drei Trabtritten nahm er das Kommando zurück. „Genug! Es reicht.“ AP lahmte, das sah sogar ich. Noch ein Blick, ein paar Handgriffe, dann kam die Diagnose: „Sehnenschaden vorne rechts“, sie hätte des Ultraschalls nicht bedurft. Doch der Tierarzt bestand darauf. Nach einer Viertelstunde wussten wir Bescheid: „Strenge Boxenruhe, kein Transport, dann langsam wieder Schritt. In ein, zwei Monaten können Sie wieder reiten.“

Ich hielt den Anbindestrick in der Hand, den ich eigentlich der neuen Besitzerin hatte übergeben wollen, kämpfte gegen die Wolken in meinem Kopf und den Schmerz in meinem Nacken, wusste nicht, was tun. „Am besten wäre, wenn Sie das Pferd hier auf dem Hof stehen lassen“, sagte Doktor Abnemer zu mir. „Rufen Sie mich an, wenn Sie meine Hilfe brauchen.“ Ich nickte, unfähig etwas zu sagen, geschweige denn einen klaren Gedanken zu fassen.

In diesem Augenblick kam Janic mit seiner Stute an der Hand durchs Hoftor. „Hat er sich verletzt?“, fragte er neugierig. „Sieht böse aus! Habt ihr euch das Kennzeichen gemerkt?“

„Irgendwas mit HP wahrscheinlich!“, sagte ich schroff. Was sollte die Frage – darauf konnte ich gut verzichten, doch er gab keine Ruhe: „Das reicht bestimmt nicht – die wollen es genau wissen! HP! Wie viele Motorräder gibt es in Heppenheim denn? Das ist wie eine Anzeige gegen Unbekannt – die kannst du knicken.“

Wahrscheinlich hatte Janic sogar recht, aber mich störte seine Wichtigtuerei; ich hatte ihn nicht um seine Meinung gefragt. In diesem Augenblick war mir alles egal, auch die Anzeige, mir ging es nur um Alles Paletti. Er hatte Schmerzen und durfte sich nicht bewegen. Was sollte ich mit ihm anfangen? Verkaufen konnte ich ihn jetzt nicht mehr und der Weg zurück auf den Leierhof war uns ebenfalls verbaut. Selbst wenn seine Box noch frei gewesen wäre, hätte ich sie nicht bezahlen können.

Janic tippte mir auf die Schulter und sagte: „Das ist Perle.“ Er deutete auf die zierliche Stute, die neben ihm stand. „Ich will Perle in den Offenstall stellen. Wenn du willst, frag ich Robert, ob du ihre Box haben kannst.“

Hatte ich richtig gehört? Janic bot mir eine Box an?

„Und was soll sie kosten?“, fragte ich vorsichtig.

„100 Euro“, sagte er.

„Was?“ Ein Drittel billiger als die Boxenmiete auf dem Leierhof? Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen.

„Siehst du!“, sagte Joey. „Er wird wieder, Vera! Ein bisschen Geduld, und den Rollback kriegen wir drei auch noch hin.“

Lydia schaute von mir zu Joey und dann wieder zu mir und sagte mit einem süffisantem Unterton: „Ach, dann bleibt ihr also hier? Kaufen will ich ihn natürlich nicht mehr“, setzte sie hinzu.

Mörderischer Rollback

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