Читать книгу Mein Glück, auf den Hund gekommen zu sein - Heide Rabe - Страница 4

Kapitel 1: Alptraum meiner Kindertage – Foxterrier Terry

Оглавление

Irgendwann – es war Ende der Vierzigerjahre - ich war damals etwa fünf Jahre alt, hatten es meine beiden älteren Brüder geschafft, unsere Eltern davon zu überzeugen, dass sie die besten und zuverlässigsten Hunde-Herrchen sein würden, die die Welt je gesehen hatte. So kam eines Tages Terry ins Haus. Genauer gesagt, hatte er einen ganz besonderen Auftritt. Unser Vater kam von der Arbeit, rief uns ins Wohnzimmer und hockte sich dort auf den Fußboden. Ein völlig ungewohnter Anblick für uns Kinder. Erstaunt standen wir um ihn herum und beobachteten fassungslos, wie aus seiner Aktentasche ein winziges schwarz-weiß gemustertes Hundebaby rutschte, das offensichtlich einen traumatischen Schock bekam, als es die große Familie sah, die sich nun noch um Mutter und Oma vergrößert hatte. Der Kleine fiepte jämmerlich, zitterte am ganzen Körper und hinterließ das erste Pfützchen auf dem Teppich. Hurra, wir hatten einen Hund! Und was für einen!

In einem unserer Hundebücher steht über diese Rasse: „ Eher ein Tänzer als ein Marschierer, streitlustig, arrogant, elegant, verwirrend, tollkühn, aggressiv, all das ist der Fox Terrier, dieser … Wirbelwind von einem Hund …“¹)

Genauso habe ich ihn in Erinnerung. Nur, Hundebücher gab es nicht bei uns zuhause. Und unsere Eltern hatten keinerlei Kenntnisse über Hunderassen, Pflege und Haltung von Hunden. Wenige Jahre nach Kriegsende gab es existenzielle Sorgen und Probleme, so dass es auch nicht verwunderlich war, dass Terry in unserem ländlichen Vorort einer Ostseestadt als kleiner Exot und Einzelgänger angesehen wurde. Die Erwachsenen hatten Mühe, wegen Rationalisierung und Lebensmittelkarten ihre Familien über Wasser zu halten. So hatte ein Hund, der lediglich als Spielkamerad für Kinder gehalten wurde, Seltenheitswert.

Unser Vater, er betrieb ein kleines Werkzeug- und Eisenwarengeschäft, hatte von einem Kunden als Gegenleistung für ein paar Nägel das Hundebaby übernommen. – Er hatte nicht geahnt, dass er mit dem kleinen Glatthaar-Foxterrier einen Jagdgebrauchshund erworben hatte, der vor allem die Aufgabe hatte, Füchse aus dem Bau zu treiben, kleine Wildtiere aufzustöbern, dem Jäger zu helfen beim Suchen und Bringen – auch aus dem Wasser. Sie befreien Ställe von lästigen Mäusen und Ratten…sind also sehr vielseitig verwendbare Gebrauchshunde. Dazu wurden und werden sie gezüchtet, diese wendigen, robusten, geduldigen und ausdauernden Wirbelwinde.

Können Sie sich vorstellen, wie es solch einem Hunde-Kerlchen ergeht, der in eine Familie integriert werden soll, die aus vier Erwachsenen und drei Kindern besteht? Niemand hatte Jagdambitionen – außer Terry. Es gab keine Füchse in unserem Garten, nur Maulwürfe und eingezäunte Hühner, die für ihn tabu waren. Seine Gene aber trieben ihn dazu, zu rennen, zu jagen, zu buddeln…

Vorerst machte Terry allen Welpenunsinn in doppelter Menge und brachte unsere Eltern so manches Mal an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Während meine Brüder in der Schule waren, langweilte sich Terry. Mit mir hatte er nicht viel im Sinn – besser: ich nicht mit ihm. Nachdem er in einem unbewachten Moment meinen geliebten Teddy in seine Einzelteile zerlegt und die Füllwolle durch das ganze Haus geschleppt hatte, mich mit seinen spitzen Welpenzähnchen gepiesackt und nicht bereit war, sich in meinem Puppenwagen spazieren fahren zu lassen, hatte ich es bald aufgegeben, mich ernsthaft mit dem kleinen Wildfang zu beschäftigen. Sollten das doch die Brüder tun. Solange sie aber in der Schule waren, hatte unsere Mutter ihre liebe Not mit ihm. Er machte sich im Haus über liegen gelassene Socken oder Zeitungen her, die danach selten noch zu gebrauchen waren, oder zerknabberte Holzspielzeug und ähnliches.

Terry suchte Beschäftigung und konnte nicht begreifen, weshalb er für seine ‚guten Taten’ ausgeschimpft oder in ein Kabuff eingesperrt wurde, das wir Kinder die ‚Zementstube’ nannte. Von diesem winzigen Raum aus ging es sowohl in den Keller als auch zum Hof – und war Abstellraum für die Schuhe der Familie. Dass er sich dort mit besonderer Freude – oder war es Frust, Neugier, Langeweile? – mit unserer Fußbekleidung beschäftigte, ist aus heutiger Sicht zu verstehen. Damals aber, in den schwierigen Nachkriegsjahren, in denen Schuhe Mangelware waren, hatte niemand Verständnis für Terrys Freizeitbeschäftigung.

So wurde die kleine Nervensäge von unserer Mutter kurzerhand in den Garten geschickt. Wir hatten einen gepflegten Hausgarten, mit Rasen, Blumenrabatten und einer Gemüseecke – neben Hühner- und Kaninchenställen – der Stolz unseres Vaters. Dies imponierte dem kleinen Kerl in keiner Weise. Er suchte sich eine Arbeit. Und die bestand meist darin, imaginäres Kleinwild aufzustöbern. Während die vom Vater gehassten Maulwürfe ihre Hügel auf dem Rasen hinterließen, ging Terry in die Tiefe und buddelte gewaltige Erdlöcher, um die Schwarzpelze aufzuspüren. Es war ihm dabei völlig egal, ob er mit seinen Erdbewegungen die Blumenrabatten verwüstete, Gemüse zertrampelte oder den geliebten Rasen ruinierte. Vater fluchte – Mutter ebenfalls, während sie den verdreckten, aber zufriedenen Terry in einen Waschzuber steckte und sein hartes, struppiges Fell säuberte. Erst dann, duftend, sauber und abfrottiert, durfte er wieder in die Wohnräume, einschließlich der Betten unserer Brüder, was ihm ansonsten streng verwehrt wurde.

Armer Terry, kann ich heute nur sagen. Du warst am falschen Ort, in der falschen Familie. Wie solltest du wissen, was du wann darfst – und was wann nicht. Du hättest einen verständnisvollen, aber energischen Rudelführer gebraucht, der dir deinen Platz im Menschen-Hund-Rudel zuweist. Und zwar so, dass du es auch begreifst. Das setzt Konsequenz und Geduld voraus, vor allem aber Wissen darüber, was artgerechte Behandlung bedeutet. Wie solltest du „artig“ sein können, wenn deine Rudelmenschen nicht einmal wussten, was typisch für deine „Art“ war?

Und doch – da bin ich mir sicher – liebte Terry seine Familie und dieses Leben. Er kannte ja auch kein anderes.

Unmerklich war Terry erwachsen geworden. Er war fast 40 cm groß und hatte einen gut proportionierten, athletischen Körperbau. Sein Bewegungsdrang war ungebrochen und er schien glücklich, wenn er mit den Brüdern und ihren Spielkameraden herumtoben konnte. Fußballspielen war seine Leidenschaft. Alle verschossenen Bälle holte er zurück und war außerdem der beste Torwart für die Jungs. Er liebte Bälle und begriff, dass kaputt beißen verboten war.

Aber noch etwas anderes beobachteten wir: Terry war musikalisch. Mein jüngerer Bruder spielte gerne und gut Mundharmonika. Terry saß dann vor ihm, hörte konzentriert zu, den Kopf zur Seite geneigt, und dann begann er zu singen. Sein Jaulen war herzzerreißend. Dazu legte er den Kopf in den Nacken und ließ seinem Gesang freien Lauf. Anfangs dachten wir, sein feines Gehör könne die Töne der Mundharmonika nicht ertragen. Aber bald merkten wir, mit welcher Freude er sich in Positur setzte, wenn unser Bruder die Mundharmonika in die Hand nahm.

Wenn die Brüder – und nun auch ich – in der Schule waren, entließ unsere Mutter ihn aus der Haustür, wohl wissend, dass es Terry nicht schwer fallen würde, die Gartenumzäunung zu unterbuddeln und seiner Wege zu gehen.

Stundenlang stromerte er durch den Ort und niemand wusste, wo er sich herumtrieb und was er dabei anstellte. Irgendwann – spätestens, wenn er Hunger hatte oder annahm, wir Kinder seien wieder zu Hause, stellte er sich wieder ein.

Er trug ein Halsband mit Hundemarke, aber eine Leine kannte er nicht. Niemand nahm sich die Zeit, mit ihm Spazieren zu gehen, ihm ‚Sitz’, ‚Platz’ oder ‚Fuß’ beizubringen. Er tat es trotzdem, aber von sich heraus, wenn er es wollte. Er setzte sich, nicht nur beim Singen, sondern mit unverwandtem Blick konnte jemandem beim Essen zusehen in der Hoffnung, ein Bissen würde irgendwann für ihn abfallen. Geduld zeigte er auch, als unsere älteste Schwester Mutter geworden war. Sie nahm ihn mit, wenn sie mit dem Kinderwagen zum Einkaufen fuhr. Während sie im Geschäft war, behütete Terry ihren kleinen Schatz. Niemand traute sich, in den Wagen zu schauen, denn Terry knurrte dann warnend und bellte böse, falls das nichts nützte.

Terry war aber nicht nur ein liebenswerter Kinderfreund und bester Spielkamerad für meine Brüder. Nein, er bereitete unsere Eltern richtig Ärger.

Alles zu jagen, was sich schnell bewegte, war seine größte Lust, wobei er niemals Kinder ärgerte. Ihr Laufen störte ihn überhaupt nicht. Aber es schien ihm eine Riesenfreude zu machen, mit einem Auto oder Motorrad um die Wette zu laufen, in der Hoffnung, er könne in die Reifen beißen. Bald aber merkte er, dass es einfacher war, die Fahrradfahrer zu attackieren und die frei laufenden Hühner der Nachbarn zu ärgern. Das laute Gackern und die fliegenden Federn waren seine Siegprämien. Mit Katzen legte er sich auch gerne an, obwohl er hin und wieder den Kampf verlor. Die Folgen von Katzen-Backpfeifen konnten wir an seinem Kopf ablesen.

Unsere Eltern waren am Ende mit ihrer Geduld, als sich Anzeigen häuften und die Schadensersatz- und Schmerzensgeldforderungen mehr als lästig wurden. Eine Haftpflichtversicherung für Hunde gab es damals nicht, zumindest hatten unsere Eltern sie nicht. Also wurde Terry eine beachtliche finanzielle Größe im Familienetat.

Unser technisch begabter Vater fand schließlich eine Lösung. An einem Stahlseil, das zwischen zwei weit auseinander stehenden Bäumen gespannt war, wurde ein langes Seil befestigt, das wiederum mit Terrys Halsband verbunden wurde. Nun konnte er durch den Garten toben, hatte dort auch eine relativ große Bewegungsfreiheit, nicht aber mehr auf der Straße Unheil anrichten. Noch heute habe ich dieses Sirren im Ohr, das der Ring am Stahlseil verursachte wenn Terry durch den Garten raste.

Aber sein Freiheitsdrang war ungebrochen, schien sogar noch größer geworden zu sein. Man konnte den kleinen Kämpfer doch nicht ununterbrochen ans Seil fesseln. Das sahen unsere Eltern zum Glück ein. Als Terry sich aber unbelehrbar zeigte und jede Gelegenheit nutzte, um wieder seine Freiheit zu genießen, reichte es unseren Eltern.

Eines Tages rief Vater uns Kinder zu sich und eröffnete uns, er habe jemanden gefunden, der Terry ein neues Zuhause geben wolle. Jemand auf dem Lande, etwa fünfundzwanzig Kilometer von uns entfernt. Der Hund werde es gut dort haben, er sei nicht gewillt, diesen kleinen Kriminellen weiterhin bei uns zu dulden. Basta.

Alles Betteln und Argumentieren meiner Brüder half nichts. Wir mussten uns schweren Herzens fügen.

Terry durfte das erste Mal in seinem Leben Auto fahren, statt es zu jagen, und wir blieben mehr oder wenig traurig zurück.

Aber unser Vater hatte sich den falschen Käufer ausgesucht. Zumindest wohnte er nicht weit entfernt genug. Was sind fünfundzwanzig Kilometer für einen kleinen Kämpfer, der sein Rudel liebt und vor Heimweh und Sehnsucht Berge versetzen könnte? Nichts!

Nach drei Tagen hörte mein großer Bruder nachts ein vertrautes Fiepen und Jaulen unter seinem Fenster, sprang aus dem Bett, rannte die Treppe hinunter und mit einem freudigen „Terry ist wieder hier!“ weckte er die Familie. Dann schloss er seinen Freund in die Arme.

Erstaunlich, dass der kleine Kerl das geschafft hatte. War dies nicht ein ungeheurer Liebesbeweis? Unser Vater brachte schweren Herzens das Geld zurück – nicht aber unseren Terry. Er bekam seine zweite Chance.

Ja, er blieb vorerst bei uns. Denn natürlich änderte sich nichts. Wie auch. Terry war sich doch keiner Schuld bewusst. Und so kam was kommen musste:

Terry war – so wurde jedenfalls behauptet – unserer schönen Nachbarstochter, die wir in der Familie nur ‚das Goldstück’ nannten, an den Busen gesprungen. So brachte unser Vater bei seinem nächsten Besuch in West-Berlin eine Garnitur Unterwäsche als Entschädigung und zur Besänftigung der Nachbarin mit. Dass unsere Mutter und die erwachsene Schwester darüber ziemlich erbost waren, kann man sich vorstellen. Ausgerechnet eine Wäschegarnitur, die sehr wohl auch ihnen gefallen hätte.

Aber das war es dann auch wieder. Terry hatte seine zweite Chance nicht genutzt – und unser Vater fand in einem seiner Kunden wieder einen Käufer für den Problem-Hund. Aber er hatte die Rechnung ohne unseren kleinen Pfiffikus gemacht. Auch dieses Mal fand er den Weg zurück. Etwas zerzaust und ausgehungert stand er eines Nachts – die Brüder hatten die Hoffnung schon fast

aufgegeben – wieder vor unserer Haustür.

Die Eltern kapitulierten und gaben das Versprechen ab, Terry nicht ein drittes Mal verkaufen zu wollen.

Er war unser Held. Hatte er es doch wirklich geschafft, dass die Eltern Respekt und Hochachtung für ihre Nervensäge aufbrachten.

Wir waren also – bis dass der Tod euch scheide – an unseren Wildfang geknüpft.

Leider hat ihn sein tolles Temperament auch das Leben gekostet. Eines Tages war er spurlos verschwunden. Wir riefen, suchten, fragten überall. Und schließlich wurde es Gewissheit: Terry lebte nicht mehr. Auf einem seiner verbotenen Erkundungstrips hatte er in der mittlerweile stark befahrenen Hauptstraße unseres Ortes mit einem Auto ‚gekämpft’ und war dabei unter die Räder gekommen.

So wollten wir niemals Abschied nehmen müssen! Traurig begruben wir ihn in unserem Garten und pflanzten einen Rosenbusch auf sein Grab.

Zehn Jahre hatten wir mit ihm gelebt. Jeder in unserer Familie hatte ein anderes Verhältnis zu ihm. Für meine Eltern war das Thema Hund ein für alle Mal beendet. Sie werden so manches Mal bitter bereut haben, ihren Jungs diesen Herzenswunsch erfüllt zu haben.

Mein Mundharmonika spielender Bruder hat sich später – als Familienvater – wieder einen Terrier gekauft, den er Dingo nannte. Ich aber konnte nachempfinden, was meine Eltern durchgemacht hatten (obwohl sie die Hauptschuld an diesem Hunde-Dilemma trugen) und schwor mir: Wenn du einmal eine eigene Familie hast, dann ohne Hund!

Mein Glück, auf den Hund gekommen zu sein

Подняться наверх