Читать книгу Ein Land für Kinder? - Heidelore Diekmann - Страница 10
Der Auftrag
ОглавлениеNach der Schule sauste Max gleich mit seinem Fahrrad zum Fabrikgelände. Prüfend schauten seine Augen zu den Grasbüscheln, unter denen die Eisenplatte verborgen war. Er legte eine Kante frei und schob seine Hand unter das Blech. „Es wird langsam Zeit, dass du dich sehen lässt“, hörte er eine Stimme neben sich sagen, und eilig entfernte sich ein Stein mit vielen schwarzen Beinen.
„Warte, dich kriege ich!“ Schnell flitzte Max hinter dem Spinnenstein her, ergriff ihn und – verschwunden waren die Spinnenbeine, und er hatte nichts als einen Stein in der Hand.
Nach kurzer Zeit leuchtete wieder das KOMM auf.
Max steckte den Stein oder was es sein sollte in seine Hosentasche und kehrte zur freigelegten Kante zurück. Er hob sie an und siehe da, sie ließ sich leicht heben.
Sollte er jetzt hinuntersteigen? Er fühlte fast einen Zwang, es zu tun. Nein, er hatte doch nur probieren wollen, ob sich die Eisenplatte bewegen ließ. Er würde jetzt Marie-Sophie abholen und mit ihr hierher zurückkehren.
Irgendwie wollte er, dass sie ihn begleitete. Zunächst einmal fuhr er in seine Wohnung, schaute in den Kühlschrank und futterte munter drauflos.
Während er aß, sah er sich als kleines Kind mit seiner Mutter kuscheln. Wie viel Zeit hatte sie mit ihm verbracht! Allein war er nie gewesen. Wenn sie nicht da war, waren seine Großeltern bei ihm oder Freundinnen seiner Mutter. Mit drei Jahren kam er in den Kindergarten, und die Mutter begann zu arbeiten. Von nun an hatte sie weniger Zeit für ihn, aber lieb hatte sie ihn weiter und oft mit ihm gespielt. Seit einigen Jahren kannte er allerdings schon nichts anderes mehr, als dass sie meistens fort war, zur Arbeit oder unterwegs bei Freunden. Es war eben so!
An die Hausaufgabe Steinbrechs denkend, schrieb er schnell auf:
„Als Säugling und Kleinkind bis zu drei Jahren wurde ich rund um die Uhr von meiner Mutter betreut. Sie verbrachte den ganzen Tag mit mir. Es müssen täglich zwölf Stunden gewesen sein. Jetzt mit zwölf Jahren sehe ich meine Mutter vielleicht zwölf Stunden in der Woche, weil sie arbeitet oder eigene Unternehmungen macht. Meine Mutter hat mir vieles beigebracht und auch erklärt, warum ich nett zu anderen Leuten sein sollte, und wenn sie mir etwas verboten hat, musste ich es auch befolgen, sonst wurde sie sehr böse.“
Der kurze Text musste genügen, denn es wurde Zeit, Marie-Sophie abzuholen.
Nicht lange danach standen sie gemeinsam vor der Eisenplatte auf dem Fabrikgelände. Die Sonne brach durch das Wolkengrau und ließ die Umrisse aller Gegenstände auf dem Gelände scharf hervortreten. Neugierig war Marie-Sophie ihm gefolgt, obwohl sie nichts von dem, was er erzählte, glauben konnte.
„Du wirst sehen, ich werde dir eine andere Welt zeigen. Es muss doch eine Bedeutung haben, dass ich dich dort gesehen habe“, sagte Max sich zu Marie-Sophie umwendend. „Folge mir die Treppe hinunter!“
„Sollte sie da hinuntergehen? Ja, das Ganze war zu spannend!“ Nie wäre sie jetzt auf den Gedanken gekommen umzukehren. Neugierig stieg sie mit Max die Stufen hinunter. Es war alles unbekannt für sie. Auf einem Fabrikgelände war sie noch nie gewesen. Konnte er ihr hier etwas Besonderes zeigen? Sie glaubte es nicht und war trotzdem mitgekommen.
Spöttisch gelacht hatte sie, als Max sich ein Grasbüschel auf einen Eisenstab gesteckt hatte und gemeint hatte, dass das ihre Lichtquelle auf der dunklen Treppe werden würde. Und wie staunte sie, als das Büschel zu glühen begann und ihren Weg graugrün ausleuchtete. „Sag, mal, hast du heimlich phosphoreszierendes Material besorgt?“
„Du wirst noch viel Ungewöhnliches sehen, das Gras ist nur das erste.“ Und schon begann um sie herum ein Hüpfen und Poltern. Viele Steine bewegten sich gelb leuchtend die Treppe hinunter bis in die Halle.
„Na, ihr habt lange auf euch warten lassen“, ertönte Mercuriamams warme Stimme.
„Na, ich bin reichlich unsanft weggeschickt worden, es zog mich nichts so schnell wieder hierher“, konnte Max noch sagen, und dann versank er wieder in Wärme und Weichem.
„Wir hatten erkannt, dass du am liebsten bei uns geblieben wärest, und das konnten wir dir zu diesem Zeitpunkt noch nicht erlauben. Deshalb haben wir dich etwas grob in deine Welt zurückbefördert. Ich hoffe, du verzeihst uns, wenn du erfährst, was der Grund hierfür war. Wir brauchen nämlich eure Hilfe. Auch wenn wir alles verfolgen können, was auf der Welt geschieht, können wir nur sehr selten selbst eingreifen. Wie schön, dass du Marie-Sophie mitgebracht hast. Marie-Sophie, herzlich willkommen im Vorzimmer der Großen Erdmutter!“
Marie-Sophie starrte bewegungslos in das sanfte gelbe Licht, das eine unglaubliche aus- und einladende Person umgab. Sie sah nichts anderes als diese. Ihr Gesicht, das nicht voll ausgeleuchtet war, strahlte große Ruhe aus und wurde von grüngelben, strahlenförmig abstehenden Haaren umrahmt. Ihre ebenfalls grünlichen Augen schauten sie liebevoll an.
Kaum verstand sie die Worte, die an ihr Ohr drangen. Sie hörte nur eine Stimme, die ihr so melodiös und sanft erschien, dass sie immerfort hätte lauschen können, ohne auch nur begreifen zu wollen, was gesagt wurde. Schritt für Schritt näherte sie sich, wie magisch angezogen, und versank ebenfalls in der warmen und weichen Umarmung von Mercuriamam. Auch sie fühlte sich so glücklich, wie Max sich schon bei seinem ersten Zusammentreffen mit Mercuriamam gefühlt hatte.
Beide wussten nicht, wie lange sie in diesem Zustand des Wohlfühlens zugebracht hatten, als sie ein Räuspern hörten.
Sie schauten hoch und erblickten einen langen, dürren Mann mit einem schwarzen Holzkasten unter dem Arm. Von seiner Gestalt war nicht viel zu erkennen, da er ganz dunkel gekleidet war. Graugrün schimmerte sein Gesicht, und seine unglaublich langen Hände erinnerten an dürre Zweige. Er trug einen Hut, unter dem helles, grünliches Haar heraus spross.
Mercuriamams Arme umschlossen die beiden Kinder fester und sie sagte:
„Ich möchte euch unseren Berichterstatter Herrn Klarsicht vorstellen. Er ist einer unserer Verbindungsmänner zur Welt und ist ständig auf der Suche nach Kindern, die Hilfe gebrauchen können. Auf diese Weise haben wir auch euch gefunden.“
„Wieso uns?“, riefen beide aus einem Munde. Nun fing Herr Klarsicht an zu sprechen. „Nach meinen Aufzeichnungen werdet ihr zwar von euren Eltern versorgt, seid aber viel zu lange allein und seid beide im Augenblick in einer Krise.
Ihr beginnt zu zweifeln, ob eure Eltern alles richtig mit euch machen, und fragt euch, warum ihr öfter unglücklich seid. Mit Verstand und Gefühl versucht ihr, eure Situation zu beurteilen und in den Griff zu bekommen.
Solche Kinder brauchen wir. Ihr könnt uns helfen, Kindern, denen es viel schlechter geht als euch, aus lebensbedrohlichen Situationen zu befreien.“
Max hätte alles versprochen, wenn er sein Bleiben bei Mercuriamam noch verlängern konnte. Einerseits fühlte er sich etwas unwohl, dass seine Situation so auf den Punkt gebracht wurde, andererseits wusste er, dass er nur zu gern helfen wollte. Er schaute Marie-Sophie an und erkannte sofort, dass sie ähnliche Gefühle hegte.
„Willst du Herrn Klarsicht antworten?“, fragte er. Sie nickte und begann: „Wir helfen natürlich, wenn es möglich ist. Aber wie können wir anderen helfen, wenn wir unsere eigenen Verhältnisse nicht einmal ändern können?“
„Ihr werdet schon sehen, sehen, sehen“, dröhnte es in ihren Ohren. Und aus dem schwarzen Kasten quoll Bild auf Bild heraus.
Auf dem ersten Bild erblickten sie einen kleinen Jungen in seinem Bett hin und her schaukeln. Sein Bettbezug war über und über verschmutzt, dann lag er gekrümmt und regungslos da. Sein Blick starrte leer an die Wand neben seinem Bett.
In den folgenden Aufnahmen sahen sie die Wohnung, dann das Treppenhaus und schließlich schwenkte die Kamera auf die Straße.
Max und Marie-Sophie hielt es nicht länger in der Geborgenheit von Mercuriamam.
„Sollen wir das Kind aus der Wohnung seiner Eltern herausholen?“, rief Max. Und ohne die Antwort abzuwarten, fragten sie beide zugleich aufspringend: „Wohin sollen wir das Kind bringen?“
„Hierher natürlich!“, antwortete Herr Klarsicht.
„Der kleine vierjährige Junge heißt übrigens Steffen Seibold, und weil ihr schon steht, brauche ich euch nicht unsanft von mir zu stoßen. Beeilt euch, der Kleine ist in Lebensgefahr. Nehmt dieses aus unserem Reich mit, es könnte euch noch nützen“, ergänzte Mercuriamam die knappe Antwort von Herrn Klarsicht.
Darauf überreichte sie Max einige kurze Stöcke und einige Steine. Max steckte sie wortlos in seine Hosentasche. Als sie sich von Mercuriamam und Herrn Klarsicht verabschieden wollten, lag die Stelle, an der sich die beiden befunden hatten, im Dunkeln.
Hell erleuchtet lag jedoch die Treppe vor ihnen. Tausende von Leuchtsteinen standen Spalier und ermöglichten ihnen einen schnellen Aufstieg.
Oben angekommen, atmete Marie-Sophie tief, erfasste Max an beiden Armen und schüttelte ihn.
„Sag, haben wir das wirklich erlebt, oder hatten wir Halluzinationen? Was ist das nur für eine Welt, in der wir da waren?“
Als sie sich leicht schaudernd nach der Treppe umschaute, war diese verschwunden.
Auch Max schüttelte seine Benommenheit ab.
„Da haben wir wohl eine schwierige Aufgabe vor uns. Auf jeden Fall müssen wir uns das Haus, in dem Steffen wohnt, ansehen“, sagte er.
Es begann zu dämmern. „Wir sind ganz schön lange im Erdreich gewesen“, dachte Max. „Es ist mir aber sehr kurz vorgekommen.“
Die späte Zeit in der Wirklichkeit verlangte aber, dass sie sich trennten und schnell ihr eigenes Zuhause aufsuchten. Morgen würden sie über ihr Vorgehen nachdenken.