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Wie Kinder leben und sterben
ОглавлениеAm nächsten Tag hatte es endlich aufgehört zu regnen. Der Himmel war allerdings immer noch grau verhangen. Die Fahrt zur Schule verlief für Max ohne Unfall. Als er an die Ausfahrt von Pauls Eltern kam, fuhr dieser ihn diesmal nicht an, sondern erwartete ihn an der Toreinfahrt. „Ich hatte doch gehofft, dich zu treffen“, meinte er. „Es wäre schön, wenn wir uns mal wieder verabreden könnten.“
Max war sehr erfreut. „Klar doch, dann könnte ich dir meine Hütte am See zeigen.“ Verlegen kratzte er sich am Kopf und verschob dabei seine Kappe, denn ihm war gerade noch eingefallen, dass er sich heute Nachmittag mit Marie-Sophie verabredet hatte. So sagte er dann auch: „Leider geht es heute nicht, aber, wie wäre es mit morgen?“ Paul war einverstanden und gemeinsam fuhren sie zur Schule.
Als sie dort ankamen, stieg gerade Marie-Sophie aus dem Auto, verabschiedete sich von ihren Eltern und wandte sich den Jungen zu. Sie kannte auch Paul schon vom Sehen und fand ihn richtig gut. Etwas schüchtern reichte sie ihm ihre Hand zur Begrüßung und warf dabei ihre langen Haare nach hinten. Danach trennten sie sich bald. Marie-Sophie und Max schlenderten gemeinsam in ihre Klasse. Sie sollten zuerst Deutsch haben.
Plötzlich hatte es Max eilig. „Ich muss schnell noch einige Sätze zur Inhaltsangabe hinzufügen, ich habe völlig vergessen, dass ich die Hausaufgaben noch nicht fertig habe.“
Nun wurde Marie-Sophie eifrig und holte schnell ihren Text hervor. Sie reichte ihn Max, und dieser begann sofort mit dem Abschreiben. Da er schon häufig ohne erledigte Aufgaben aufgefallen war und er jedes Mal eine schlechte Zensur dafür bekommen hatte, konnte er sich keine weitere leisten. Seine Versetzung stand auf dem Spiel. Auch wenn es ihm egal war, wie gut seine Schulleistungen waren, so wusste er doch, dass es gut war, wenigstens den Realschulabschluss zu bekommen.
Er kannte genügend ältere Jungen, die herumlungerten und keine Arbeit oder Lehrstelle bekamen. Sie wussten nichts mit sich anzufangen, trafen sich oft an bestimmten Plätzen, tranken Alkohol und pöbelten andere an. So etwas Sinnloses wollte er nicht tun. Er glaubte zwar daran, ganz auf sich gestellt in der Natur überleben zu können, wusste aber nicht, ob Deutschland der richtige Ort dafür wäre. Vielleicht sollte er einmal nach Kanada oder Australien auswandern.
Kurz nachdem er mit dem Abschreiben fertig geworden war, betrat Lehrer Steinbrech die Klasse. Und natürlich wurde Max als erster aufgefordert, seine Inhaltsangabe vorzulesen. Danach konnte er aufatmen, denn er wurde gelobt. Er drehte sich zu Marie-Sophie um und warf ihr lächelnd einen nicht zu dankbaren Blick zu. Und weil er nun einmal gut gestimmt war, beteiligte er sich auch am nachfolgenden Unterricht, obwohl ihn das, was sie zu lesen bekamen, unendlich wütend machte. Steinbrech hatte Zeitungsabschnitte gesammelt und befestigte sie mit Magneten an der Tafel.
Babyleichen in Blumentöpfen gefunden Säugling vom Balkon geworfen Schon wieder ein Kind in Wohnung der Eltern verhungert Säugling vor Babyklappe an Unterkühlung gestorben Säugling auf Tankstellentoilette zurückgelassen
Die Schüler kannten die Überschriften aus den Zeitungen. Seit 2006 hatte immer wieder eines dieser Ereignisse die Zeitungsseiten gefüllt. Die gefühlvolle Michaela äußerte sich sofort ganz spontan:
„Was geschieht da eigentlich hier bei uns, sterben wir bald aus, weil es keiner mehr schafft, sich um die Kleinen zu kümmern? Warum lieben diese Eltern ihre Kinder nicht, wie können sie sie so erbärmlich behandeln! Was sind das bloß für Menschen?“
„Und das Schlimmste ist“, sagte Marie-Sophie, „dass diese Menschen eigentlich ganz normal aussehen, nur irgendwie selbst auch oft etwas kümmerlich und krank.“
Es entwickelte sich eine aufgeregte Diskussion. Gründe für das Verhalten der Eltern wurden angedacht und nach Maßnahmen gesucht, die diese Katastrophen hätten vermeiden können.
Alle redeten sich die Köpfe heiß.
Schließlich griff Herr Steinbrech ordnend ein. Können wir etwas feststellen, was diese Fälle gemeinsam haben?
„Ja“, antwortete Max ganz spontan, „alle diese kleinen Wesen wurden nicht geliebt, sie waren lästig und unerwünscht.“ Sofort protestierten andere gegen diese Aussage. „Kinder können doch nicht lästig sein!“
„Aber man muss heute doch kein Kind bekommen, wenn man es nicht will, es gibt doch schließlich Verhütungsmittel“, rief nun auch Sonja in die Klasse. Sofort erhob sich ein Stimmengewirr, und alle redeten durcheinander. Der Pausengong wurde überhört, weil alle auf einmal ihre Meinung äußern wollten. Das Thema interessierte sie.
„Wisst ihr was, wir nehmen diese furchtbaren Fälle als Anlass, über Erziehung nachzudenken. Schreibt doch bitte einmal auf, wie ihr von euren Eltern erzogen werdet. Wie viel Zeit eure Eltern für euch aufwenden mussten für eure Versorgung und Betreuung als Baby und Kleinkind und welche Regeln und Verhaltensmaßnahmen sie euch mitgaben.“
Mit diesen Worten schloss Herr Steinbrech die Stunde und ließ eine emotional aufgewühlte Schar zurück.