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Neue Freunde für Max

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Als Max sich auf sein Fahrrad schwang, goss es in Strömen. Verdrossen trat er in die Pedale. Nur seine Augen und seine Nase lugten aus seinem Regencape heraus.

Aus einer Einfahrt schoss ihm von rechts ein anderer Radfahrer ins Vorderrad hinein. Völlig unvorbereitet kippte er mit seinem Rad um und schlitterte durch mehrere Pfützen. Nässe drang in seine Jeans ein. Der andere Radfahrer war ebenfalls gestürzt.

„Du Blödmann, kannst du nicht aufpassen“, knurrte Max. „Tut mir leid, ich habe dich nicht gesehen“, entgegnete der andere Junge.

„Paul, Paul, ist dir etwas geschehen?“ Paul rappelte sich auf und schaute zu seiner Mutter hoch, die sich mit einem Regenschirm über ihn beugte.

Plötzlich begann die Mutter zu lachen. „Ihr seht wirklich erbärmlich aus! Wenn ihr euch beide bewegen könnt, kommt bloß schnell ins Haus.“

Max spürte sein linkes Knie beim Aufstehen. Seine Hose war am Knie zerrissen und darunter war eine Schürfwunde. Sollte er weiter zur Schule fahren oder mit ins Haus gehen? „Kommt bitte“, erklang die Stimme der Mutter, „so kann ich euch nicht fahren lassen!“

Freundliche blaue Augen schauten ihn besorgt an, als er durch die Tür gehumpelt kam. Im Nu türmten sich die Regencapes zu Bergen im Hausflur auf, und die nassen Hosen der Jungen lagen als Häufchen auf dem Fußboden. Dann wurde Max’ Wunde erst einmal mit Pflaster versorgt, und er bekam eine Ersatzhose von Paul. Sie passte.

Nun schaute er sich ihn genauer an und stutzte, weil Mutter und Sohn sich so ähnlich sahen. Das heißt, Pauls halblange Haare klebten nass an seinem Kopf, und die Mutter hatte einen kessen blonden Kurzhaarschnitt. Blond mussten wohl auch Pauls Haare sein. Durch die Nässe wirkten sie bräunlich. Mutter und Sohn waren ihm sehr sympathisch. Jetzt wusste er auch, dass er Paul schon in der Schule gesehen hatte. Er war ein Schuljahr weiter als er.

So schnell ließ Pauls Mutter die beiden nun nicht gehen. Sie bekamen zunächst jeder eine heiße Tasse Kakao zusammen mit herrlichen Keksen. Nach einer Weile wurden sie schließlich mit dem Auto zur Schule gefahren. Die Mutter lieferte beide Jungen in ihren Klassen ab, indem sie der jeweiligen Lehrerin einige Erläuterungen zum Unfall gab.

Als Max sich auf seinen Platz setzte und aufschaute, blickte er in die nachdenklichen braunen Augen von Marie-Sophie. Er stutzte und erinnerte sich sogleich an die Bilder, die er bei Mercuriamam gesehen hatte. Superschick war sie wieder angezogen, neugierig sah er sie an und wunderte sich darüber, dass sie ihn ebenfalls neugierig musterte. Sie hatte ihn sonst doch nie beachtet. Sah er irgendwie komisch aus? Verunsichert drehte er sich ab.

Dann wurde seine Aufmerksamkeit vom Unterrichtsfilm angezogen. Es ging um Verhaltensweisen von Tieren und die seltsame Tatsache, dass geschlüpfte Gänseküken das Wesen, das sie nach dem Schlüpfen zuerst sehen, als ihre Mutter ansehen und ihm bedingungslos folgen.

Begeistert betrachtete er die Bilder, die zeigten, wie ein Gänseküken von einem Jungen aufgezogen wurde. Das Gänsekind sah entzückend aus mit seinen flauschigen, kurzen Daunen.

Wieso hielt es ein so völlig anders aussehendes Wesen für seine Mutter?

Der Junge berichtete über seine Aufzuchtserlebnisse und beschrieb, wie spannend es war, die Hauptperson für ein so kleines Wesen zu werden.

Tag und Nacht forderte es mit seinem Fiepen seine Aufmerksamkeit und Zuwendung und steigerte sich in große Angst, wenn er nicht sofort reagierte. Es wollte nie allein sein.

Die Aufzucht war unendlich spannend, aber auch sehr, sehr anstrengend.

Es war etwas Besonderes, für ein Lebewesen Verantwortung zu übernehmen. Vernachlässigung konnte den Tod bedeuten.

Als Max nach der Stunde am Platz von Marie-Sophie vorbeiging, saß sie nachdenklich da, hatte ihren Kopf in ihre Hände gestützt, starrte vor sich hin und schaute ihn plötzlich an.

„Ich glaube, ich sollte auch nicht aufhören zu fiepen und meinen Eltern zeigen, dass ich nicht gern allein bin“, sagte sie und wusste nicht, warum sie Max, mit dem sie bisher kaum ein persönliches Wort gewechselt hatte, ansprach.

„Aber, du hast doch immer eine Frau, die sich um dich kümmert, wenn deine Eltern arbeiten.“ Marie-Sophie stutzte. Woher wusste Max das? Sie hatte bisher noch niemandem aus der Klasse davon erzählt. Verwundert antwortete sie: „Ja, versorgt werde ich, aber ich spüre doch, dass ich meinen Eltern eine Last bin und sie mich oft auch gar nicht richtig wahrnehmen. So ein Gänsejunges macht es da doch richtig.“

„Meine Mutter würde nicht einmal mein Fiepen hören, denn sie ist meistens nicht da und sorgt höchstens dafür, dass im Kühlschrank etwas zu essen ist.“

Max zögerte, sah Marie-Sophie prüfend an und sagte: „Ich möchte dir ein Geheimnis zeigen, würdest du dich am Nachmittag mit mir treffen?“

„Heute kann ich nicht, denn ich habe Geigenunterricht, aber morgen werde ich den Spanischunterricht schwänzen.“

„Dann hole ich dich mit dem Fahrrad um drei Uhr ab. Hast du überhaupt ein Fahrrad?“ – „Na klar.“ Sie trennten sich und schauten sich für den Rest der Unterrichtsstunden nicht mehr an.

Nach der Schule fiel Max ein, dass sein Fahrrad bei Paul stand. Es hatte aufgehört zu regnen, und er machte sich auf den Weg. Da er sein Fahrrad nicht erblickte, klingelte er und wurde sogleich freundlich ins Haus gebeten.

Pauls Kopf lugte vom Esstisch der Küche durch die Tür. Vor ihm stand ein herrlicher Eierpfannkuchen. „Warten deine Eltern auf dich oder willst du mit uns essen?“ – „Auf mich wartet niemand.“ – „Dann lass dich nicht lange drängen, ich habe noch genügend Teig.“

Max nahm Platz und aß mindestens drei Pfannkuchen. So gut hatte es ihm schon lange nicht mehr geschmeckt.

Die kleinen Schwestern Lene und Anne mochten ihn leiden und begannen mit ihm zu toben. Gutmütig ließ sich Max von ihnen zerzausen. Pauls Mutter rettete ihn schließlich davor, zerdrückt zu werden und gab den Kleinen Malstifte und Papier.

Danach legten sich die beiden Jungen im Zimmer von Paul auf den Fußboden, hörten Musik und sprachen über Fußball. Paul musste um vier Uhr zum Training. „Willst du nicht auch spielen?“, fragte er. „Du hast doch so viel Ahnung.“ – „ Aber leider zwei linke Füße.“

Mit Bedauern verabschiedete sich Max und fuhr mit seinem Fahrrad nach Hause. Seine Hose hatte er gewaschen und geflickt dabei, und die geliehene sollte er zur Entschädigung auch behalten

Auf der Heimfahrt fing es wieder an zu regnen, und zwar so stark, dass er gezwungen wurde nach Hause zu fahren. Es war niemand da.

Max warf sich auf sein Bett. „Hallo Mercuriamam, mir geht es gut, ich bin satt, ich habe ein weiches Kissen und ein Dach über dem Kopf.“

Er griff nach dem Stein, den er unten in der Erdhöhle aufgesammelt hatte und der irgendwie in sein Bett gelangt war. Er legte ihn zwischen seine Handflächen.

Sehr glatt fühlte er sich an und wurde immer wärmer, doch plötzlich zappelte etwas in seiner Hand und drängelte sich heraus.

Ein Kopf mit großen Augen und wenigen Stoppelhaaren, mit schwarzen Stängelarmen und Beinen flutschte hervor, stellte sich vor ihm auf und quäkte: „Nun komm schon. Wie lange willst du noch auf der Erde bleiben? Folge mir mit in die Tiefe zur Großen Erdmutter.“ Erstaunt griff Max zu, um den hässlichen kleinen Spinnenkerl aus der Nähe anzusehen. Schwups hatte dieser seine Gliedmaßen eingezogen, und Max hatte wieder nur einen glatten Stein in der Hand. An Stelle der verschwundenen Gliedmaßen erschien eine Leuchtschrift auf dem Stein.

KOMM!

Sollte er wirklich sofort in die Erde hinabsteigen?

Draußen goss es in Strömen. Es wurde schon dunkel. Nein, heute hatte er kein Bedürfnis nach weiteren Erlebnissen. Er schaltete den Fernseher an. Wann immer sein Blick auf den Stein fiel, leuchtete ihm das „KOMM“ entgegen.

Seine Mutter kam um 19 Uhr nach Hause, um bald darauf eine Freundin aufzusuchen. Im Fernsehen lief inzwischen ein Film über Botswana.

Max hatte sich belegte Brote gemacht und aß sie, während er interessiert das Geschehen im Film verfolgte.

Eine Löwenmutter hatte sich mit ihren drei Jungen in den Busch verkrochen, um sie dort ungestört und gefahrloser aufzuziehen. Ergeben lag sie auf dem Rücken und ließ zu, dass sie als Kletterberg benutzt wurde. Die Kleinen tollten auf ihr herum, rutschten immer wieder runter, fielen hin und wieder übereinander her, bekamen ein Knurren zu hören, wenn sie es zu toll trieben, und legten schließlich ihre Mäuler an die Zitzen der Mutter. Zufrieden traten sie beim Saugen mit ihren Tatzen neben die Zitzen, rollten sich, als sie satt waren, dicht an die Mutter und schliefen ein. Auch die Mutter lag weiter dösend da. Bei einem knackenden Geräusch hob sie prüfend den Kopf. Aufmerksam starrte sie umher, bis ihre Sinne Entwarnung gaben.

„Löwenkind zu sein wäre auch nicht schlecht“, dachte Max, als er schließlich zu Bett ging.

Ein Land für Kinder?

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