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I. Grundzüge der Novemberrevolution Eine Revolution oder keine

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Dem ersten Weltkrieg folgten in Deutschland die Novemberrevolution und die aus ihr entspringende Weimarer Republik. Ihnen 1933 – nur anderthalb Jahrzehnte nach 1918 – die Umwandlung der Republik in die NS-Diktatur, dem Kriegsende von 1918 im Abstand von 21 Jahren der zweite Weltkrieg. Teile der Forschung neigen dazu, beide Weltkriege als einen Zusammenhang aufzufassen. Darin hätte dann die Revolution eine Zäsur gebildet und die Republik von Weimar ein – knapp vierzehn Jahre währendes – Zwischenspiel. Eric Hobsbawm schreibt, das 20. oder „kurze“ Jahrhundert sei „von Krieg gekennzeichnet“, und wer seine Geschichte verstehen wolle, müsse „mit der Geschichte des einunddreißigjährigen Weltkriegs beginnen“ (1914–1945).1 Mit derselben muß auch beginnen, wer den Charakter der Zäsur samt dem Zwischenspiel verstehen möchte, die Novemberrevolution und die Gründung der ersten deutschen Demokratie, die sich mit dem Namen Weimar verbindet.

Mit der Geschichte des Weltkriegs beginnen, heißt jedoch, nach dessen Ursache fragen. Hätte vielleicht ein gemeinsames – doch verheimlichtes – Interesse aller bedeutenderen Regierungen dazu beigetragen, 1914 den Krieg auszulösen? Mit einem Zitat von Fernand Braudel verwies Canfora darauf, „daß sich der Westen 1914 nicht nur am Rand des Krieges, sondern auch am Rand des Sozialismus befand. Dieser schickte sich an, die Macht zu erobern und ein Europa aufzubauen, das genauso modern sein würde wie das gegenwärtige, wenn nicht moderner.“ Der Eroberung der Macht durch die Sozialisten schob der Krieg sofort einen Riegel vor.2 Hellmut von Gerlach argwöhnte 1922: „Die einen sahen in einem Kriege die einzige Möglichkeit, dem immer wachsenden Zustrom der deutschen Arbeiter zum Sozialismus einen Damm entgegen zu stellen. … Andere ersehnten vom Kriege eine Gegenwirkung gegen den nach ihrer Meinung immer zunehmenden materiellen Sinn.“3 Hätten aber die Herrschenden den Dolus gehegt, die Arbeiter der Nationen an die Fronten zu schicken, um die der einen durch die der anderen zu dezimieren? Friedrich Heer verdächtigte 1966 „die Reaktionäre“ und ihr Ansinnen: „die Massen, die neuentstandenen Massen der unruhigen europäischen Arbeiterschaft, zumal des Proletariats, sind in einem europäischen Krieg zu verheizen.“4 Bewußter Plan oder unbewußter Impetus? Es gelang. Die Arbeiter ließen sich ohne entschiedene Widerwehr ins Feld schicken, wie Rosa Luxemburg 1918 klagte: „Das deutsche Proletariat, das verabsäumt hat, dem Sturmwagen des Imperialismus in die Speichen zu fallen, wird von ihm nunmehr zur Niederringung des Sozialismus und der Demokratie in ganz Europa herumgeschleift. Über die Knochen der russischen und ukrainischen, baltischen, finnischen revolutionären Proletarier, über die nationale Existenz der Belgier, Polen, Litauer, Rumänen, über den wirtschaftlichen Ruin Frankreichs stampft der deutsche Arbeiter, bis über die Knie im Blute watend, vorwärts, um überall die Siegesfahne des deutschen Imperialismus aufzupflanzen.“5 Dagegen standen die Kriegsgegner unter den Intellektuellen auf, so Kurt Eisner. Felix Fechenbach zitierte aus einem Brief Eisners (1917) an das Münchener Generalkommando, worin der Absender schrieb: „Der Schriftsteller hat die Aufgabe, die Wahrheit gewissenhaft zu suchen, und, wenn er sie gefunden hat, zum Nutzen der Allgemeinheit zu bekennen und zu verbreiten.“6

„Spartacus“ zitierte im August 1918 den deutschen Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Richard von Kühlmann (1873–1948), mit seiner Reichstagsrede vom 24. Juni 1918, wonach auf „militärischem Wege“ das Ende des Kriegs nicht mehr zu erwarten sei.7 In heutiger Sicht wäre seine Aussage zu vervollständigen: ein für das Deutsche Reich siegreiches Ende. Denn richtig ist, auf „militärischem Wege“ kam es im Verlauf desselben Jahres ja alsbald, eben nur als Sieg der Gegenseite. Symbol dafür war der 8. 8., der „schwarze Freitag“ mit Angriff der Entente-Truppen östlich von Amiens, den Tanks und Flugzeuge unterstützten. Den Sieg auf militärischem Wege erwarteten nicht einmal die Verfasser der Spartakusbriefe. Sie sagten: „Nein, ein Ende kann eben einzig und allein die proletarische Revolution bringen“, und: „Objektiv ist Deutschland heute das reifste Land für die proletarisch-sozialistische Revolution, für die führende Rolle in der Weltrevolution der Arbeit“.8 Reife hin oder her, die doppelte Selbsttäuschung der Schreiber wird offenbar: Weder bewirkte die proletarische Revolution die Schließung des Völkerschlachthauses, noch übernahm die deutsche Arbeiterklasse die führende Rolle in der Weltrevolution. Diese blieb bekanntlich aus. Die militärische Niederlage des Reichs jedoch kam. Der Historiker Hans Herzfeld resümierte 1968, „daß der Erste Weltkrieg auch militärisch mit der vollen und unbestreitbaren Niederlage Deutschlands endete“.9

In wessen Hände geriet das Land jetzt? Eine Politikerin vom rechten Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung schilderte den Anblick, der sich ihr in Hamburg in Gestalt der „gut genährten Matrosen“ bot, „die machtberauscht mit ihren rotbeflaggten Geschützen durch die Straßen donnerten, vor denen man die Nahrungsmittelvorräte der Stadt vergebens zu schützen versuchte, das war die blinde und brutale Gewalt, in deren Fäuste im unglücklichsten Augenblick das deutsche Schicksal gefallen war.“10 Dermaßen entwarf sie nicht nur ein Zerrbild der Aufständischen, die sie als räuberisch anprangerte, sondern verkannte vor allem, daß zu dem „erschütternden Zustand von düsterer Auflösung“ keineswegs zuerst die Matrosenerhebung geführt hatte. Zwar gab es diese, aber nicht als Hauptursache.

Einige Zeitgenossen, die kritisch genug waren, vermuteten damals gleich, daß dieselben Kräfte, die den Krieg 1914 inszeniert hatten, nach einer Weile des Atemschöpfens daran gehen würden, das Menschenschlachthaus erneut zu eröffnen. Heinrich Mann ahnt ein mörderisches neues militärisches, kulturelles und ökonomisches Desaster in Form eines zweiten Waffengangs. Er spricht im Dezember 1918 „von jenen alldeutschen Fanatikern“, „die bis gestern das Wort hatten, und die nur darauf warten, es wieder an sich zu bringen, um womöglich das Land noch einmal zu entvölkern, noch einmal zu entsittlichen, noch einmal an den Bettelstab zu bringen.“11 Düstere Ahnungen hegt auch Graf Kessler. Am 10. Januar 1920 vermerkt er: „Eine furchtbare Zeit beginnt für Europa, eine Vorgewitterschwüle. die in einer wahrscheinlich noch furchtbareren Explosion als der Weltkrieg enden wird. Bei uns sind alle Anzeichen für ein fortgesetztes Anwachsen des Nationalismus.“12 Auf der anderen Seite, im Lager jener nationalistischen Kräfte, die demnächst beginnen, sich unter dem Hakenkreuz zu sammeln, wird ein zweiter Krieg sogar gewünscht als Möglichkeit, wiederholt „die Ramme gegen den Feind zu kehren“, der ihnen Frankreich heißt.13 Wie der liberale Politiker Eugen Schiffer den Kaiser während des Krieges hatte schwadronieren hören, prophezeite auch dieser einen zweiten Krieg, er aber gegen England.14

Wer oder was aber war es wirklich, welche Instanz oder Kraft beendete den Krieg, der, wie sich zeigen sollte, nur der erste „Deutschlands gegen die Welt“ (Hitler) war? Das Militär der Entente, das deutsche Proletariat, die „gutgenährten Matrosen“? War es die Revolution? Der Soldatenrat Frick (MSPD) stellte am 17.11.1918 die Frage: „Was ist diese Revolution, von wem wurde sie entfacht, von wem ist sie getragen?“ Und selber beantwortete er seine Frage: „… die Revolution ist getragen von den großen Massen, und zwar von den sozialistisch denkenden Massen.“15 Also doch – die Massen? Der Kontrast könnte nicht größer sein. Eine Frau vom linken Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung, Helene Stöcker, spricht im Februar 1919 von „dem großen Werk der Erneuerung der Welt“. Überzeugte sie ihre Leserschaft vom Wesen der Vorgänge, wie sie selber sie sah? „Wir wollen von jeher, und heute erst recht, vor allen Dingen Lebensreformer, Mitgestalter an dem großen Werk der Erneuerung der Welt, d. i. der Herzen der Menschen, sein.“16 Den „sozialistisch denkenden Massen“ Fricks hätte die Formel „Erneuerung der Welt“ zwar zusagen können, aber nicht unbedingt die Revolution als Erneuerung der Herzen. Besonders frappieren mag Kesslers Tagebuch-Notiz vom 30. September 1918: „Seit Iena keine solche Umwälzung.“17 Gewiß will der Verfasser mit der Parallele „Iena“18 die Bedeutung des Vorgangs hervorheben. Verwunderlich das Datum! Am 30. September oder um diesen Zeitpunkt herum gab es keine Vernichtungsschlacht à la Jena. Was dann war die Umwälzung? Am 29. September forderte die Oberste Heeresleitung (OHL) von der kaiserlichen Regierung die sofortige Herbeiführung des Friedens auf Grundlage der 14 Punkte des US-Präsidenten Wilson. Das Eingeständnis der militärischen Niederlage! Umwälzend aber auch, was die Regierung demnächst oktroyierte, eine neue – parlamentarische – Verfassung.

1918 arbeitet im deutschen Kriegsministerium in der Funktion des Chefs der Kavallerie-Abteilung Paul Freiherr von Schoenaich (1866–1954), ein preußischer Offizier, der 1919 bei seiner Entlassung zum Generalmajor befördert werden wird. Die Novemberrevolution ist in seinem Urteil keine, sondern nur „ein sang- und klangloses Abtreten der alten Gewalten“.19 Der führende Kopf der Bremer Linksradikalen, Johann Knief, kam, so Gerhard Engel, zu der Einschätzung, was vorfiel, wäre ein „Militärputsch“, und in der ersten Ausgabe der von ihm gegründeten Tageszeitung der IKD (der Internationalen Kommunisten Deutschlands) „Der Kommunist“ stand noch stärker übertrieben: er sei „konterrevolutionär“; weshalb? Eine dogmatisch-verquere Argumentation: Die aktuelle Bewegung erstrebe den Frieden und die Demokratie, anstatt, wie es notwendig wäre, die Diktatur des Proletariats oder die „unmittelbare Herbeiführung des Kommunismus“.20 Ein vergleichsweise harsch tadelndes Urteil gab Walther Rathenau 1919 ab: „Den Generalstreik einer besiegten Armee nennen wir deutsche Revolution. Die Arbeitsaufnahme einer neuen Versuchsarmee nennen wir deutsche Gegenrevolution.“21 Die „Versuchsarmee“: wohl die Freikorps in der Entstehung. Ein radikales Nein trug im selben Jahr auch Kurt Tucholsky vor: „Wir haben in Deutschland keine Revolution gehabt – aber wir haben eine Gegenrevolution.“22 Vergleichbar Ernst Toller. Die 1918 errungene bürgerliche Demokratie wertete er als die Begleiterscheinung des Friedensangebots, das die Reichsleitung auf Anforderung der Obersten Heeresleitung Anfang Oktober an Wilson absandte: Sie „weckt keinen Widerhall, weder der Reichstag erkämpfte sie noch das Volk, sie wurde diktiert …“23 Daß eine Revolution stattgefunden hätte, bestritt auch Max Hoelz: „Was 1918 in Deutschland vor sich ging, war keine Revolution. Die feigen Fürsten flohen, und die ‚tapferen‘ Herren Ebert und Scheidemann setzten sich auf die leergewordenen Sessel.“ Genuine Revolutionen seien nur die französische und die russische.24

Mit den zeitgenössischen Äußerungen, es hätte keinerlei Revolution gegeben, deckt sich die spätere des Historikers Fritz Fischer: Die Novemberrevolution werde häufig als das ausgegeben, was sie gerade nicht war: „Als bolschewistische Revolution wird oft noch verstanden, was, in der ersten Phase lediglich Revolution ‚von oben‘, in Wirklichkeit also überhaupt keine Revolution gewesen war: Im Oktober 1918 ging es – auf Geheiß des Monarchen – um weiter nichts als eine bloße Verfassungsreform in Richtung auf die konstitutionelle Monarchie britischer Prägung … Den guten Bürgern (und die sind in Deutschland ja zumeist auch rechte Bürger), war das bißchen verordneter Revolution und die sicherlich zum Teil erschreckende ‚revolutionäre Gymnastik‘ linksradikaler Arbeiter schon zuviel.“25 Wäre die Revolution von oben, weil nicht mehr als eine Verfassungsreform, „überhaupt keine“ gewesen, würde der Vorgang immerhin eine Phase historischer Umwandlungen eingeleitet haben, die sich inzwischen ein Jahrhundert lang bedeutend auswirken. Sie setzte sich zusammen aus Aktionen sowohl von ‚rechts‘ als auch von ‚links‘. Um mehrere davon wurden Legenden gebildet, um einige andere gibt es Differenzen bis hinein in die gegenwärtige wissenschaftliche Forschung.

Sigmund Freud schreibt in seinem grundlegenden Werk Die Traumdeutung (1900): „Der Traum ist ein Konglomerat, das für die Zwecke der Untersuchung wieder zerbröckelt werden soll.“26 Als Konglomerat oder „Knäuel“ bietet sich auch die deutsche Geschichte von 1918ff. dar, wie Immanuel Geiss festhält: „Novemberrevolution 1918, Versailles 1919 und Weimarer Republik bilden daher zusammen ein schier unentwirrbares Knäuel innerer und äußerer Komplexe …“ 27 Für „die Zwecke der Untersuchung“ muß man es wie den Traum „zerbröckeln“, in Einzelbestandteile zerlegt, die jeweils gesondert zu beurteilen sind. So ist die Forschung gehalten, bei der Interpretation der deutschen Revolution von 1918/19 grundsätzlich der Vielfalt der Vorgänge Rechnung zu tragen. Bei einer Konferenz der ‚Hellen Panke‘ in Berlin anläßlich des 90. Jahrestags der Revolution (2008) verfuhr Jost Hermand dementsprechend. Er sagte: „Schließlich handelte es sich damals um eine Revolution, die in mehrere Richtungen tendierte: 1. eine von den kriegsmüden Soldaten begonnene; 2. eine sozialdemokratische im Gefolge Philipp Scheidemanns; 3. eine spartakistisch-kommunistische sowie 4. eine künstlerisch-expressionistische.“ 28 Ob man nun die Liste der vier „Richtungen“ übernimmt, noch weitere dazu zählt oder sie sämtlich anders betitelt, Geiss führt anschaulich das ‚Zerbröckeln‘ vor, die umsichtige Zerfaserung in Einzelvorgänge.

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