Читать книгу Fanfaren einer neuen Freiheit - Heidi Beutin - Страница 9

Revolution von oben, Revolution von unten

Оглавление

Was vorfiel, hieß zuerst einmal bei den Initiatoren die „Neuordnung unseres Staatswesens“, schon eine Woche vor dem 9. November. Von wem in Gang gebracht?

Erstaunlicherweise vom Obermilitärbefehlshaber. Er gab einen Befehl aus, welcher lautete: „Berlin, 2. November. Der Obermilitärbefehlshaber hat den stellvertretenden Generalkommandos, Gouvernements und Kommandeuren nach stehenden Erlaß zugehen lassen: Dem Grundgedanken der Neuordnung unseres Staatswesens entspricht es, wenn dem deutschen Volke in weitherzigster Weise das Recht zur freien Meinungsäußerung in Wort und Schrift gegeben wird.“ Es folgen Bestimmungen über Versammlungsfreiheit, Einschränkung der Zensur usw.43 Aus heutiger Sicht erstaunlich? Ein Militär verteilt Lizenzen, die in neuerer Zeit „Grundrechte“ heißen. Erstaunten die Menschen nicht, als sie plötzlich mit ihnen bis dahin versagten Freiheiten beglückt wurden? Wilhelm Kaisen bezeugt: „Wir horchten aber auf, als plötzlich auf Befehl der obersten Heeresleitung in der gesamten Armee Soldatenräte zu wählen waren. Jetzt erhielt jede unserer Batterien ihren eignen Soldatenrat. … So war ich nun Soldatenrat geworden.“44 K. A. von Müller hält fest: „Die Regierung, energischer als je, wo es sich um die eigene Selbstverstümmelung handelte, erzwang (! – d. Verf.) schließlich in langen Aussprachen vom 30. Oktober bis zum 2. November die Lösung: volle Parlamentarisierung, neues Kabinett, allgemeine Verhältniswahlen.“45 In seinem Buch über „die Rolle der SPD“ (1969) resümierte Malanowski: „Der erste Akt der Revolution war vollzogen – von oben. Deutschland war nun eine konstitutionelle Monarchie.“46

Die nun etablierte Demokratie, der Parlamentarismus waren frühzeitig bereits am 28. Oktober 1918 in der Reichstagsrede des Abgeordneten Otto Rühle auf Widerstand gestoßen, nicht um der Neuerungen selbst willen, sondern weil er ihren Geburtsfehler nicht hinzunehmen wünschte: nämlich den Umstand, daß die Regierung sie der Bevölkerung oktroyiert hatte. Rühle bekannte: „Wir lehnen weiter die sogenannte Demokratie und den Parlamentarismus ab, womit die bürgerlich-kapitalistische Regierung das deutsche Volk just in demselben Augenblick beglückt hat, in dem der Militarismus, bisher das stärkste Bollwerk der reaktionären Klassenherrschaft, unleugbar und unaufhaltsam zusammengebrochen ist und die Oberste Heeresleitung selbst zu der Überzeugung kommt, daß der Krieg rettungslos verloren ist.“47

Eine Woche darauf – antwortete jetzt der Revolution von oben die von unten? Nein, noch immer nicht. Vielmehr verkündigte der Kaiser nun den nächsten Revolutionsakt, die fortgesetzte Verfassungsänderung: der Reichskanzler künftig dem Reichstag verantwortlich; Kriegserklärung und Friedensschluß nur mit Zustimmung des Reichstags; die Kommandogewalt der Krone reduziert. Die Merkmale dessen, was inzwischen vollzogen worden war, erweisen es als nichts anderes denn als „Revolution von oben“. „Statt des von den Mehrheitsparteien erwarteten scharfen Widerstandes der OHL gegen eine Reform der politischen Struktur des Reiches griff die OHL mit dem Programm der ‚Revolution von oben‘ die Idee der Bildung einer von der Reichstagsmehrheit getragenen Volksregierung auf, um die Chancen der Friedensvermittlung zu erhöhen und der Verantwortung für die Konsequenzen der Niederlage auszuweichen.“48

Ludendorffs Zynismus. Am 1. Oktober 1918 informiert er die Abteilungsleiter der OHL: militärische Lage aussichtslos, Krieg nicht mehr gewinnbar, und läßt sich höhnisch über die neuen Minister des Kabinetts aus: „Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muß. Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben!“ Seine Ansprache vor den Offizieren enthält auch die Behauptung: „Unsere eigene Armee sei leider schon schwer verseucht durch das Gift spartakistisch-sozialistischer Ideen.“49 Die Kalkulation geht so: Die Parteien des Reichstags schließen den Friedensvertrag ab, wobei sie sich vor aller Augen mit der Verantwortung für ihn und die Niederlage belasten.

Von einer Tat der Heimtücke seitens der demokratischen und vor allem Arbeiterparteien, die eine ehrenhafte Weiterführung des Kampfs verhindert hätte, kann keine Rede sein. Die Liberalen sowie die Sozialdemokraten, die nun das Heft in die Hand bekommen, werden die Suppe essen, die nicht sie eingebrockt haben, und diejenigen essen sie nicht, die sie tatsächlich eingebrockt haben. Sie suchen das Weite.

Als Hinterabsicht der OHL ist eine doppelte erkennbar: 1. den führenden Klassen, Schichten und Wirtschaftsverbänden in Deutschland ihre Machtposition zu sichern, auch wenn sie den Preis zahlen, daß der Operettenkaiser abdankte, was ihnen nicht sonderlich weh tat; 2. die Mittel in der Hand zu behalten – Generalstab, Armee, Rüstungsindustrie –, um nach der Sammlung und Konzentration der militärischen Kräfte dem Reich die Möglichkeit des zweiten Kriegs offen zu halten. Kurz, das Ende des ersten, wie schon dessen Anfang, verursachten keine anderen Instanzen als die OHL und die Reichsleitung. Der Matrosenaufstand konnte ihnen in einer Weise sogar gelegen kommen, ließen sich hinter dessen romantischer Fassade doch ihr eigenes reales Tun und ihre weiteren Absichten um so leichter verbergen. Mit ihm begegnete der Revolution von oben nun diejenige von unten. Am 3. November fand in Kiel auf dem Exerzierplatz eine Kundgebung statt, an der Angehörige der Marine und Arbeiter teilnahmen. Als sich ein Zug nach der Feldstraße aufmachte, um die wegen schwerer Gehorsamsverweigerung in der Militär-Arrest-Anstalt festgehaltenen Matrosen des 3. Geschwaders zu befreien, befahl ein Offizier, scharf zu schießen. Es gab 8 Tote und 29 Verwundete. Am Folgetag, dem 4. November, wird in der Friedrichsorter Torpedo-Division „der erste Soldatenrat in der Geschichte der Revolution gebildet, der unabhängige Sozialdemokrat Karl Artelt zum Sprecher bestimmt; am Abend hatten die aufständischen Matrosen die ganze Macht in ihrer Hand.“50 War der Matrosenaufstand „die erste Kraftprobe zwischen Gegenrevolution und Revolution“? So Sebastian Haffners Deutung. Der Marineleitung schrieb er den Vorsatz zu, durch den Befehl zum Auslaufen der Flotte die „Revolution von oben“ ungeschehen zu machen. „Die Revolution von unten wollte die ‚Revolution von oben‘ nicht kassieren, sondern ergänzen, beleben, vorwärtstreiben …“51 Weshalb ging die Erhebung von der Marine aus, obwohl sie die von der Reichsleitung seit langem am stärksten favorisierte Teilstreitkraft war? Gerhard Engel ermittelte, daß sie ihrer Qualifikation nach „zumeist gewerkschaftserfahrene Arbeiter“ waren, welche sich „auf dem kleinen Raum von Schiffen leichter für den Antikriegskampf organisieren ließen als Angehörige von Feldtruppen.“52 Sie seien deshalb als Ausschnitt der Arbeiterbewegung zu betrachten: „Die Matrosenbewegung war nicht ein Spezialfall militärischer Meuterei und Revolte, sondern inhärenter Bestandteil der Arbeiterbewegung während Krieg und Revolution.“53

OHL und Reichsregierung verwirklichten die Revolution von oben nicht ernstlich, um den Mehrheitsparteien und der Bevölkerung eine lupenreine Demokratie zu bescheren, sondern mit einem „Hintergedanken“. Paul Frölich erkannte: „Die Kapitalistenklasse … machte der Arbeiterklasse politische und wirtschaftliche Konzessionen mit dem Hintergedanken, das aufgegebene Terrain später zurückzuerobern.“54 Die Verfassungsreform bestand aus „Konzessionen“, deren Rücknahme offensichtlich ins Kalkül gehörte. Den in Wahrheit ungeschwächten Machtwillen der alten Kräfte erfuhren – nach einigen anfänglichen Versuchen am 6. und 24. Dezember 1918 – die aufständischen Arbeiter und Soldaten in den Januar-, dann in den Märzkämpfen in Berlin, und gleichermaßen die Verteidiger der Räterepubliken. Egon Günther sprach 2005 in bezug auf Bayern vom Bürgerkrieg „von oben“, in dem die ‚weiße‘ Brutalität ihre Exzesse feierte.55 Nach Ralf Hoffrogge gehört zu den Verdiensten Richard Müllers in seiner Geschichtsschreibung der Nachweis, „daß die Eskalation der Konflikte eine gezielte Strategie der Gegenrevolution war. Es gab niemals einen Bürgerkrieg von links, auch wenn dies bis in die Gegenwart immer wieder behauptet wird. … Das bevorzugte Mittel auch der radikalen Räterevolutionäre war der Generalstreik. … Die Mittel der Gegenrevolution hingegen sahen anders aus. Sie betrieb den Terror einer Minderheit, ihre Kampfmittel umfassten von anfang an Gewalt gegen Streikende und den politischen Mord am Gegner. Der Bürgerkrieg wurde also geführt, und zwar von rechts.“56 Wie die Dinge standen, befürchteten Parteigänger der Revolution schon in deren Anfängen einen Bürgerkrieg. Manche sahen ihn zugleich auch von links her drohen. Deshalb warnte im Dezember Heinrich Mann: „Diktatur selbst der am weitesten Vorgeschrittenen bleibt Diktatur und endet in Katastrophen.“ Und gekleidet in den Optativ: „Die Revolution sei eine Gemeinschaft aller Freunde der Wahrheit, die der Weg des Menschen ist, – und kein Krieg nach dem Kriege, kein Bürgerkrieg!“57 Den veritablen Bürgerkrieg sah Berlin im Januar 1919 und noch einmal im März desselben Jahres.

Der Januaraufstand ist lange als „Spartakus- oder kommunistischer Aufstand“ bezeichnet worden. Diese Kennzeichnung entstammt der Ära unmittelbar nach den Vorgängen. Sie findet sich früh bereits etwa bei Bernstein (1921)58, verzerrt jedoch den Sachverhalt. Immerhin kritisierten die Verfasser einer Schrift aus der DDR: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung diejenigen Sprecher des Proletariats, die sich verleiten ließen, „in falscher Einschätzung der Lage und des Kräfteverhältnisses …, die Berliner Arbeiter und Soldaten für den 6. Januar zum bewaffneten Kampf für den Sturz der Regierung Ebert-Scheidemann und für die Eroberung der ‚Macht des revolutionären Proletariats‘ aufzurufen.“59 Letzthin untersuchte Ottokar Luban den Anteil der KPD und ihrer Zentrale in allen Einzelheiten und stellte fest, eine Legende sei es, daß die Partei sich während des Aufstands konsequent dem Regierungssturz entgegengestemmt hätte. Vielmehr habe sie sich in den Tagen des Aufstands mehrfach schwankend verhalten.60 Verantwortliche Personen waren in den Vorständen der USPD (Ledebour61) und der Revolutionären Obleute zu finden, dazu in der KPD, hier Liebknecht und Pieck.

Mit dem Matrosenaufstand und den Januarkämpfen bot die Novemberrevolution keineswegs das Musterbeispiel einer vollständigen ‚Revolution von unten‘, wenngleich sich unleugbar starke Züge von dieser in ihrem Gesamtbild wiederfinden, zugleich auch Züge einer proletarischen Revolution. Ist es dann gerechtfertigt, sie als „Arbeiterrevolution“ zu definieren? Vor einem knappen Jahrzehnt untersuchte Hartmut Henicke die – wie er sie benannte – „Weltkriegsrevolutionen“. Damit sei etwas Neues geschaffen worden, die Arbeiterrevolution: Deren Akteure hätten in den Industriezentren „einen proletarischen Revolutionstyp“ geschaffen. „Der Machtanspruch der Räte und die Sozialisierungsabsicht prägten erheblich den Charakter der Revolution.“62

Im Geleitwort zu ihrer Anthologie spricht Ulla Plener zwar von einer „bürgerlich-demokratischen Revolution“, wenn man die Ergebnisse von 1918/19 als Ganzes bewerte. Es sei in ihr aber ein Grundzug enthalten gewesen, der doch über diese hinausgewiesen habe: der „ausgeprägte soziale und basisdemokratische Grundzug … reflektierte das damalige Potenzial (Chance) für einen neuen Typus der Demokratie – der sozialen Demokratie …“63

Fanfaren einer neuen Freiheit

Подняться наверх