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2. Kapitel

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Edgar saß an seinem Schreibtisch und wartete ungeduldig auf das Abendessen. Elena stand in der Küche und bereitete den Kartoffelsalat und die Würstchen vor. Solch ein Essen hatte der Detektiv an Heiligabend schon lange nicht mehr gehabt. Natürlich konnte er das Gericht jederzeit essen. Allerdings wäre der Salat in seiner Zeit als Single ein Fertigsalat aus dem Supermarkt und nicht mit einem selbst gemachten zu vergleichen gewesen. Der Privatdetektiv wusste nicht, wie Elenas Kartoffelsalat schmecken würde. Er war guter Dinge. Wie gut sie kochen und backen konnte, hatte sie in den letzten Wochen oft unter Beweis gestellt. Gerade in der Vorweihnachtszeit überraschte Elena ihn des Öfteren mit irgendwelchen Leckereien.

Nach dem Essen würde die Bescherung folgen. Edgar war aufgeregt, ob Elena sein Geschenk gefallen würde. Zum ersten Mal hatte er etwas für seine Freundin gekauft, ohne dass sie es sich vorher ausgesucht hatte. Der Detektiv wollte sich nicht ausmalen, was er tun würde, wenn Elena die Silberkette nicht gefiel.

Aber warum sollte sie sich nicht freuen? Die Kette und der Anhänger sehen toll aus und beides ist immerhin aus echtem Silber. Es grenzt schon fast an ein Wunder, dass ich mir solch ein Geschenk überhaupt leisten kann.

Bevor Edgar Elena kannte, wusste er manchen Monat nicht, wovon er sich Essen kaufen sollte. Seine Freundin kannte das Spektakel. Das war schon so, als sie frisch zusammengekommen waren. Erst als Elena den Job in der Bäckerei gefunden hatte, entspannte sich die finanzielle Lage.

»Edgar wir können gleich essen. Deckst du den Tisch?«, rief Elena aus der Küche.

»Na klar.« Der Detektiv sprang auf und ging in die Küche. Als er vor dem Küchenschrank stand, um Teller rauszuholen, warf er einen flüchtigen Blick in die Salatschüssel. Bei dem Anblick freute er sich noch mehr auf das Essen. Sein Magen stimmte dem zu, indem er ein kurzes Knurren von sich gab.

Mit geübten Handgriffen deckte Edgar den Tisch mit Tellern, Besteck und Gläsern ein. Anschließend holte er zwei Flaschen alkoholfreies Bier aus dem Kühlschrank und platzierte sie ebenfalls auf dem Tisch.

Edgar setzte sich und sah Elena dabei zu, wie sie das Essen auf den Tisch stellte.

Nachdem Elena Platz genommen hatte, griff der Detektiv nach dem Löffel, der in der Schüssel mit dem Kartoffelsalat steckte. Erst gab er seiner Freundin zwei Löffel von der Köstlichkeit auf ihren Teller. Dann nahm er sich selbst die gleiche Menge.

Der Detektiv wollte gerade die Würstchen aufteilen, als es klingelte.

»Wer ist das denn?«, fragte er genervt.

»Ich habe keine Ahnung, wer uns Heiligabend besuchen kommt.«

»Mm, vielleicht ist es Ella.« Während der Detektiv den Satz beendete, stand er auf und ging in den Flur zur Tür. Als er sie geöffnet hatte und sah, wer vor der Tür stand, war er für einen kurzen Augenblick gelähmt. Wolf, den nichts so leicht aus der Ruhe brachte, bekam kein Wort heraus. Er spürte regelrecht, wie seine sonst so gesunde Gesichtsfarbe einer Blässe wich.

Vor ihm stand ein junges Mädchen, welches der Detektiv sofort erkannte. Sie war im Gegensatz zu ihrem Vater nicht sprachlos und sagte: »Hallo Papa!«

Edgar musterte seine Tochter von Kopf bis Fuß. Sie war inzwischen groß und vor allem noch hübscher geworden. Der Detektiv konnte nicht glauben, dass sie aus heiterem Himmel, ohne jegliche Vorankündigung zu ihm kam.

So langsam fing sich Edgar wieder. Er hatte keinen Schimmer, was ihn erwarten würde. Immerhin hatte er seine Tochter lange nicht gesehen. Zu Weihnachten und zu Lenas Geburtstag schrieb er ihr zwar jedes Jahr eine Karte, aber bisher kam nie eine Antwort von ihr. Edgar hätte es nie für möglich gehalten, sie zu erkennen, wenn sie jemals vor ihm stünde. Nun erkannte er sie.

Vor diesem Augenblick, Lena würde eines Tages den Kontakt zu ihm suchen, hatte er immer Angst. Er fürchtete sich vor den Fragen, die sie ihm stellen könnte. Wie sollte er ihr auch erklären, warum er sich nicht bei ihr meldete? Dafür gab es weder eine Begründung noch eine Entschuldigung. Alles, was er sagen könnte, wären Ausreden. Wenn einem jemand wirklich wichtig ist, nimmt man sich die Zeit für diese Person. Dabei ist es gleichgültig, wie viel man zu tun hat.

Jetzt war es also so weit: Lena wollte eine Erklärung für Edgars Verhalten.

»Hallo Lena!«

»Kann ich rein kommen?«

»Entschuldige! Na klar, komm rein!«

Lena überquerte die Türschwelle und blieb mitten im Flur stehen. »Wo soll ich hingehen?«

»Hier nach rechts, ins Wohnzimmer.«

»Okay.« Lena kam der Aufforderung nach und setzte sich auf einen der Sessel. Edgar folgte ihr und nahm auf dem Sofa Platz.

Bevor einer der beiden etwas sagen konnte, betrat Elena das Zimmer und fragte: »Ist alles in Ordnung?«

»Ja. Das ist Lena, meine Tochter. Und das ist Elena, meine Freundin.«

Elena nickte Edgars Tochter zu und verließ das Wohnzimmer so schnell, wie sie gekommen war. Sie schloss die Tür hinter sich und verschwand in der Küche. Auf einen Außenstehenden könnte ihr Verhalten unfreundlich wirken. Edgar durchschaute sie sofort. Seine Freundin wusste genau, wie es um das Verhältnis zwischen Lena und ihrem Vater stand. Sie ließ die beiden nur allein, damit sie sich in aller Ruhe aussprechen konnten.

»Du hast also wieder eine Freundin?«

»Ja. Wir sind noch nicht so lange zusammen.«

»Aha.«

»Gut siehst du aus.«

»Danke.«

»Hast du meine Karte bekommen?«

»Wenn du deine alljährliche Weihnachtskarte meinst, die ist heute angekommen.«

»Gut. Wie geht es dir?«

»Nicht so gut. Deshalb bin ich hier.«

»Was ist los?«

»Es geht um Mama. Sie ist da in so eine Sache hineingeraten.«

»Was für eine Sache? Was ist mit ihr?«

»Ach, sie ist nicht mehr sie selbst. Seit ein paar Monaten ist sie in so einer Sekte und will, dass ich dort auch mitmache.«

»Was? Lucy ist in einer Sekte? Das kann ich mir nicht vorstellen. Deine Mutter war doch immer so vernünftig.«

»Ja. Ich glaube, daran ist ihr neuer Typ schuld. Seit die beiden zusammen sind, verhält sie sich so komisch. Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll und dachte, du könntest mir vielleicht helfen. Als Polizist musst du doch da irgendwas machen können.«

»Weißt du denn nicht, dass ich nicht mehr bei der Polizei bin? Ich arbeite jetzt als Privatdetektiv.«

»Nein, das wusste ich nicht.«

»Vielleicht kann ich trotzdem helfen. Wie heißt denn die Sekte?«

»Sie nennen sich die Wesen der Sonne

»Oh mein Gott. Das hört sich schon sehr gestört an.«

»Das hört sich nicht nur so an. Die haben dort scheinbar alle eine Macke.«

»Weißt du, wo ich die finde? Vielleicht kann ich mich da irgendwie einschleusen.«

»Ich war noch nie dort. Bisher habe ich mich immer dagegen gesträubt, aber die Adresse kriege ich raus. Ich weiß nur nicht, was Mama dazu sagen wird, wenn sie dich dort sieht. Wenn sie dich verrät, ist es vorbei.«

»Gut. Dann muss ich zuerst mit deiner Mutter reden, bevor ich irgendwas in die Wege leite.«

»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Sie ist ihrem Typen total hörig.«

»Hast du eine bessere Idee?«

»Nein.«

»Vorher kann ich natürlich noch versuchen, ein paar Informationen über die Wesen der Sonne zu organisieren.«

»Ja, das ist gut. Ich besorge dir in der Zeit die Adresse.«

»Okay. Trotzdem werde ich mit deiner Mutter reden müssen. Wenn Lucy da nicht weg will, ist es fast unmöglich, sie aus der Sekte rauszuholen.«

»Ja, ich weiß.«

»Mach dir nicht so viele Sorgen! Irgendwie kriegen wir das schon hin!«

»Hoffentlich! Danke!«

»Dafür nicht.«

»Ich finde es echt schade, dass wir in den letzten Jahren keinen richtigen Kontakt mehr hatten. Ich habe dich ziemlich vermisst.«

»Meinst du, ich hätte dich nicht vermisst? Umso mehr Zeit vergangen ist, desto weniger habe ich mich getraut, mich bei dir zu melden. Ich wusste nicht, ob du mich sehen willst.«

»Natürlich hätte ich mich gefreut, wenn du dich persönlich gemeldet hättest. Viel mehr als über deine zwei Karten im Jahr.«

»Wirklich? Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich bestimmt schon längst vorbei gekommen. Jetzt ist es zu spät. Die Zeit kann man leider nicht mehr zurückdrehen.«

»Stimmt, aber wir können jetzt das Beste daraus machen.«

»Ja, das sollten wir. Du bist so groß geworden.«

»Und du älter.«

»Na vielen Dank auch.«

Beide lachten.

Edgar war erleichtert, dass ihm Lena keine Vorwürfe machte. Für ihn war es selbstverständlich, seiner Tochter zu helfen. Bei der Vorstellung, seine Tochter sollte gezwungen werden, in diese Sekte einzutreten, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Das musste er auf jeden Fall verhindern. Er hatte die Hoffnung, Lucy wieder zur Vernunft bringen zu können. Er konnte sie sich überhaupt nicht in einer Sekte vorstellen. Wie sehr musste sie sich verändert haben, um einem Mann so hörig zu sein? Früher war sie selbstbewusst und hatte sich von niemandem etwas sagen lassen, nicht mal von Edgar. Entscheidungen wurden im Hause Wolf bis in das letzte Detail ausdiskutiert. Am Ende zählten nur die Argumente, die einen der beiden in ihrer Meinung beeinflussen konnten.

»Ich habe noch was für dich.« Lena griff in ihre Jackentasche, holte ein keines Päckchen raus und gab es ihrem Vater.

Edgar war etwas verlegen. Er nahm es ihr aus der Hand und sagte: »Danke! Das ist lieb von dir. Ich habe jetzt leider nichts für dich.«

»Das macht nichts. Pack es aus!«

Der Detektiv kam der Aufforderung nach und packte das Geschenk aus. Nachdem er das Geschenkpapier entfernt hatte, kam ein kleines Bild mit Bilderrahmen zum Vorschein. Es war ein aktuelles Foto von Lena.

Edgar freute sich wahnsinnig darüber und fiel seiner Tochter um den Hals. Die Umarmung dauerte mehrere Minuten. Am liebsten hätte der Detektiv sie nie wieder losgelassen. Für ihn war es das schönste Weihnachtsgeschenk, was man ihm machen konnte. Dieses Weihnachten war etwas Besonderes. »Danke!«

»Gefällt es dir?«

»Ja, sehr. Danke!«

»Schön.«

»Wir wollten gerade essen. Willst du vielleicht mitessen?«

»Ja, gerne. Wenn deine Freundin nichts dagegen hat.«

»Ach quatsch, bestimmt nicht.«

»Dann ist ja gut. Ich wäre jetzt sowieso alleine zu Hause. Mama ist wieder bei ihrer Sekte.«

»Heute, an Heiligabend?«

»Ja. Sie ist fast jeden Tag dort.«

»Auweia, dann scheint es wirklich schlimm zu sein.«

»Ja, das ist es auch.«

»Na komm, lass uns in die Küche gehen!« Edgar stellte das Bild behutsam auf seinen Schreibtisch und griff nach seinem Bürostuhl. Er ging zur Tür und zog den Stuhl hinter sich her, bis in die Küche. Seit Elena bei ihm eingezogen war, gab es einen zweiten Stuhl in der Küche. Damit sie aber zu dritt Platz nehmen konnten, musste sein Arbeitsstuhl als dritte Sitzgelegenheit herhalten.

Er stellte den Stuhl an die Kopfseite des Tisches und sagte: »Setz dich!« Dabei deutete er auf den Küchenstuhl, auf dem er sonst immer saß.

Lena folgte der Aufforderung und setzte sich. Edgar nahm auf seinen Bürostuhl Platz.

Elena lächelte ihrem Freund zu und holte ein drittes Gedeck aus dem Schrank. Dann setzte auch sie sich an den Tisch. Die drei aßen gemeinsam und unterhielten sich dabei über alles Mögliche. Edgar war überglücklich, Heiligabend mit seiner Tochter verbringen zu dürfen.

Die Wesen der Sonne

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