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Kapitel 3

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Die Hausaufgaben sind schnell gemacht, danach sitzen Ulli und Olli zwischen lauter Umzugskartons in ihrem gemeinsamen Zimmer.

„Sollen wir auspacken?“, fragt Ulli lustlos.

„Vielleicht“, meint Olli. Genauso lustlos. Er öffnet einen Karton, zieht seinen alten Stoffhasen heraus und wirft ihn aufs Bett. Dann sieht er aus dem Fenster. „Was Jakob und Philipp jetzt wohl tun?“

„Was wohl“, sagt Ulli grantig. Ihre beiden besten Freunde spielen sicher im Wald. Heute ist Lager-Bau-Wetter oder Waldläufer-Wetter oder vielleicht auch Kastanien-Sammel-Wetter. Auf jeden Fall ein Wetter zum Draußensein. Sie seufzt, öffnet den Umzugskarton, der ihr am nächsten ist, und findet darin ihren Downhill-Helm und ihre Arm- und Beinschützer. Da hat sie eine Idee.

„Hat Tim nicht was von einem Fahrrad-Parkour gesagt, der da sein soll?“

Hat er. Daran kann sich auch Olli erinnern. „Er soll gleich neben dem Spielplatz sein. Wollen wir?“

„Wir wollen“, sagt Ulli.

„Und die Kartons?“

„Packen wir nachher aus.“ Ulli ist schon an der Tür. Wenn sie irgendwo ihre Fahrtechnik verbessern kann, hält sie nichts mehr. Im Hinausstürmen setzt sie sich bereits den Helm auf, ruft Papa einen Gruß zu und ist fort.

„Wo wollt ihr hin?“, fragt Papa. Er sitzt am Computer. Nachmittags hat er immer Homeoffice.

„Da gibt es einen Fahrrad-Parkour“, sagt Olli. „Und Ulli …“

Papa grinst. „… muss wieder einmal auf die Nase fallen.“

„Genau.“ Olli grinst auch.

„Verbandszeug und Desinfektionsmittel sind in dem kleinen Karton auf dem Küchentisch.“ Papa deutet mit dem Kinn drauf und Olli kramt in dem offenen Karton nach dem Verbandszeug. Dann folgt er seiner Schwester.

Als er an dem Parkour ankommt, ist Ulli schon voll im Fahren. Sie tritt in die Pedale, fährt einen Erdhügel rauf und holt beim Abwärtsfahren Schwung, um den nächsten Hügel als Rampe zu benutzen. Dann fliegt sie durch die Luft und genießt das Kribbeln im Bauch, bevor sie wieder am Boden ankommt. Aus dem Augenwinkel sieht sie Olli mit dem Verbandsbeutel in der Hand, fährt mit Karacho auf ihn zu und vollführt eine Vollbremsung. Eine Staubwolke wirbelt auf, hüllt Olli ein. Hustend wedelt er vor seiner Nase herum.

„Muss das sein?“

„Muss nicht. Macht aber Spaß.“ Ulli grinst.

Dann fährt sie wieder los, reißt das Vorderrad hoch und fährt ein Stückchen auf dem Hinterrad weiter, bevor sie wieder nach vorne herunterkracht und in die Pedale tritt. Den Erdhügel hoch, auf der anderen Seite hinunter, Anschwung nehmen und … wieder fliegt sie durch die Luft, überquert das kleine Tal zwischen einem Erdhügel und dem nächsten und kommt auf der anderen Seite unsanft auf. Dabei rutscht sie mit dem rechten Fuß vom Pedal und kracht mit voller Wucht auf die Lenkstange.

„Ulli!“, hört sie die entsetzte Stimme ihres Zwillingsbruders.

Dann dreht sich alles und sie findet sich auf dem Boden wieder. Ihre Brille ist staubbedeckt und zwischen ihren Zähnen knirscht der Sand. Sie schmeckt Blut.

„Autsch“, sagt sie. Sie versucht sich aufzurappeln, aber ihre Beine haben sich im Fahrrad verstrickt und sie schafft es nicht. Wie ein Käfer auf dem Rücken liegt sie da. Noch einmal versucht sie es, da wird das Fahrrad hochgenommen und eine Frauenstimme sagt:

„Alles in Ordnung, Junge?“

„Von wegen Junge. Ich bin ein Mädchen“, krächzt Ulli, stemmt sich jetzt doch auf die Ellbogen hoch und nimmt den Helm ab.


„Danke.“ Sie mustert die Frau, die gerade damit beschäftigt ist, die Lenkstange von Ullis Fahrrad wieder gerade zu biegen. Sie ist alt, ihr Haar ist silbrig und ihr Gesicht von Fältchen überzogen. Vor allem in den Augenwinkeln hat sie tausende von diesen Fältchen. Sie sieht freundlich aus und lustig und … Ulli schluckt … ein bisschen wie Oma.

„Alles in Ordnung, Ulli?“, fragt Olli, der es jetzt auch endlich zu ihr geschafft hat.

„Na passt schon“, sagt Ulli und versucht ein Grinsen.

„Na ja …“ Olli spricht nicht weiter.

„Du siehst aus, als wärst du unter die Räuber geraten, Mädchen“, sagt die Frau. Dann wendet sie sich Olli zu. „Du bist der Bruder?“

„Ja. Olli“, stellt der sich vor.

„Das Verbandszeug brauchen wir nicht. Was wir brauchen, ist Wasser. Kommt mit mir in meinen Schrebergarten, dann versuchen wir mal, dich zu flicken.“ Als Ulli zögert, meint sie: „Ich bin Berta. Ihr könnt auch Oma Berta zu mir sagen.“

Ulli schluckt. Sie wird ganz gewiss zu niemandem Oma sagen. Ihre Oma ist vor einem halben Jahr gestorben. Gleich nach dem Begräbnis hat Herr Maifeld, der Besitzer von Omas Haus, den Mietvertrag gekündigt. Nur Wuschel durfte bei ihm bleiben, zum Glück. Denn in dem großen grauen Haus in der Stadt sind Tiere nicht erlaubt.

Ulli richtet sich auf. „Danke für die Hilfe. Aber wir wohnen gleich da drüben.“ Sie deutet auf den grauen Klotz.

„Das ist mir ganz egal. Du kommst jetzt mit. Nach so einem Sturz soll man aufpassen.“ Oma Berta streckt ihr noch einmal auffordernd die Hand hin und als Ulli immer noch zögert, beugt sie sich vor und greift selbst nach Ullis Hand. Dann zieht sie das Mädchen hoch. „Na, siehst du. Geht doch.“ Sie zeigt zu einem Weidenzaun, der am Rand des Fahrrad-Parkours steht. Dahinter ragen Obstbäume auf und man hört den Fluss rauschen.

Sie führt die Kinder zu einem schmalen Gatter und lässt ihnen den Vortritt. Eine kleine Wiese ist da mit einem noch kleineren Froschteich in der Ecke, Beerensträucher stehen am Zaun, die Obstbäume, die Ulli schon vom Parkour aus gesehen hat. Zwischen einem großen Kirschbaum und einem Birnbaum ist eine Hängematte gespannt. Daneben steht ein Tischchen mit einer Flasche Saft und einem Buch. Ein Mädchen sitzt dort. Mit einigem Erstaunen erkennt Ulli Djamila.

„Was tust du hier?“

Djamila lächelt. „Oma Berta ist meine Lesepatin. In der ersten und zweiten Klasse bin ich zweimal die Woche zu ihr gekommen und sie hat mit mir gelesen. Und die deutsche Sprache gelernt. Jetzt kann ich lesen und Deutsch, aber ich besuche sie trotzdem oft.“

„Und ich bin froh darüber“, sagt Oma Berta lächelnd. „Ihr kennt euch also?“

„Wir sind in derselben Klasse“, erklärt Djamila. „Die beiden sind heute neu dazugekommen. Da waren sie aber noch ganz.“ Sie deutet auf Ullis Knie, aus dem Blut rinnt.

Oma Berta schmunzelt. „Ja, wir sollten sie zuerst zusammenflicken.“ Sie geht zu einem Zapfen aus Metall und beginnt einen Hebel auf und ab zu drücken. Plötzlich schießt Wasser aus dem Hahn.

„Eine mechanische Wasserpumpe“, ruft Olli begeistert aus. „Darf ich auch mal?“

„Natürlich“, sagt Oma Berta. „Mach ruhig. Dann kann ich deiner Schwester helfen, den Dreck aus der Wunde zu kriegen.“

„Das schaff ich schon allein“, sagt Ulli. Sie krempelt die Hosen bis übers Knie, dann hält sie einfach ihr Bein unter den Strahl. Als die Wunde sauber ist, lässt sie das Wasser noch über ihre Brille laufen, dann spritzt sie ihren Bruder an.

Der lässt sofort den Hebel fahren und protestiert. Djamila lacht und ein weiteres helles Kinderlachen kommt über den Zaun. Tim. Auch er besucht Oma Berta.

„Na, dann sind wir ja beinahe vollzählig“, sagt Oma Berta. „Ich würde euch gern ein paar Brombeeren anbieten, aber die müssten erst gepflückt werden. Wollt ihr so lange warten?“

„Wir helfen natürlich“, sagt Djamila und steht sofort auf.

„Ach, dabei zerreißt ihr euch nur die Kleider“, wehrt Oma Berta ab.

Ulli steht auch auf. „Als ob das bei mir noch etwas ausmachen würde.“ Grinsend zeigt sie auf das Loch in ihrer Turnhose.

„Die Dornen zerkratzen euch die Haut“, macht Oma Berta noch einen Versuch.

„Als ob das bei meiner Schwester eine Rolle spielen würde.“ Olli grinst und duckt sich gleich unter einem Boxer seiner Schwester weg.

Oma Berta lächelt. „Na, wenn ihr meint.“ Sie geht zu dem kleinen Gartenhäuschen und kommt mit vier Marmelade-Eimern zurück. „Was Kleineres hab ich nicht. Aber ihr müsst jeder nur so viele Brombeeren pflücken, wie ihr esst.“

„Also ich mach den ganzen Eimer voll“, sagt Tim.

„Dann darfst du deiner Mami den Rest mit nach Hause nehmen.“ Oma Berta lächelt. „Ihr alle dürft den Rest nach Hause mitnehmen. Also pflückt ruhig, so viel ihr wollt.“

Die vier Kinder sehen sich an.

„Wer als Erster den Eimer voll hat?“, fragt Ulli und die Kinder schwärmen aus zu den Brombeerbüschen, die die ganze Breitseite des Schrebergartens ausmachen, dort, wo der Kinderspielplatz beginnt.

Plötzlich bemerkt Ulli einen Schatten, der Richtung Sandkasten davonstürmt. Einen kleinen Schatten. Als sie genauer hinschaut, sieht sie, dass es tatsächlich Maximilian ist, der mit seinem kleinen Bruder im Sandkasten hockt. Ob er sie belauscht hat? Aber warum?

Die Superaugen ... und der Schuhdieb

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