Читать книгу Sonne, Mond und Troll - Heike Schwender - Страница 7
Meerwasser
ОглавлениеWellen schoben sich erwartungsvoll in Richtung der Felseninsel, hüpften ungeduldig vorwärts und wischten sich aufgeregt die widerspenstigen Schaumkronen aus den glitzernden Augen, die ihnen so übermütig die Sicht versperrten. Dort vorne war ihr Ziel, war es immer gewesen. Die einsame Felseninsel, die sich inmitten des endlosen Ozeans erhob. Leichtfüßig sprangen die Wogen voran, näherten sich tänzelnd der felsigen Formation. Die Weite des Meeres wollten sie hinter sich lassen und neue Erkenntnisse gewinnen. Wie fühlte es sich an, einen Stein zu berühren? Welch unbekannte Melodien konnte man erschaffen, indem man sich durch Spalten und Ritzen zwängte? Fühlte man sich einsam, wenn man als Pfütze in einer Senke zurückblieb, in einer Mischung aus Erregung und Furcht vor der Anziehungskraft der Sonne und einer weiteren Reise – hinauf in den Himmel und zurück? Fest stand jedenfalls, dass man viel zu erzählen hatte, wenn man die Freiheit endlich wiedergewann und heimkehrte in die endlose Weite des Ozeans. Wenn man sich erneut in die Wellen mischte und gemeinsam mit den unzähligen anderen Wassertropfen Ausschau hielt nach einem neuen Ziel, einer neuen Erfahrung.
Wasser. Das ganze Land bestand aus Wasser.
Zwar war ich froh, dass die Nässe nicht mehr in Form von Regen herabrieselte – freute ich mich nun wieder zu früh? – aber dennoch irritierte mich die feuchte Nachtluft genauso wie das unaufhörliche Rauschen der Wellen. Ich hatte die Felsformation, auf der ich mich befand, komplett umrundet und wusste nun, dass sie vollständig von Wasser umgeben war.
Wasser, das brodelnd in Kessel floss, die die Zeit aus dem Fels gegraben hatte. Wasser, das sich zischend durch Löcher und Spalten im Stein drängte, um ihn noch weiter auszuhöhlen. Wasser, das sich tobsüchtig gegen die Klippen warf, um der steinernen Barriere die eigene Macht und Stärke zu beweisen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch diese Felseninsel nicht mehr existieren würde. Natürlich dachte ich dabei in Epochen und nicht in Jahren oder Jahrhunderten. Aber irgendwann würde der Ozean den Kampf gewinnen. Das Wasser würde den Stein brechen.
Mutlos war ich nach meiner Inselumrundung zu dem Ort zurückgekehrt, an dem ich mich mit dem Troll vor dessen Verschwinden unterhalten hatte.
Ich setzte mich auf den Felsen, der meinem einstigen Reisebegleiter bereits als Hocker gedient hatte, und stützte mein Kinn in die Hände, um gedankenverloren in die Ferne zu blicken.
Nicht, dass mir das etwas genützt hätte. Auch wenn ich den kleinen Kerl nachahmte, so blieb mir doch sein Wissen verborgen. Was sollte ich also tun?
Die Geschichte, die er mir anvertraut hatte, war unglaublich. Doch ich beschloss, sie dennoch als Wahrheit anzuerkennen. Irgendeinen Grund musste es schließlich dafür geben, dass ich mich mitten im Dezember auf eine Reise nach überall und nirgends gemacht hatte. Warum dann also nicht die Geschichte des Trolls als wahr hinnehmen? So weit, so gut. Aber wie ging ich nun vor?
Auf meine Frage, wo ich mit der Suche nach der Tochter des Mondes beginnen sollte, hatte ich nur eine unzureichende Antwort bekommen. Nicht in Meerwasser. Nun ja, ich hatte auch nicht vorgehabt, in den endlosen Weiten des Ozeans schwimmen und tauchen zu gehen, um dabei nach einem verloren gegangenen Kind Ausschau zu halten. Aber sehr viel mehr als Wasser schien es hier nicht zu geben. Überall und nirgends war eine Enttäuschung. Wasser und eine Felseninsel. Na schön, den Glanz der Sterne in den Wellen widergespiegelt zu sehen, hatte seinen ganz eigenen Reiz. Aber diese Welt war klein. So klein, dass ich nicht wusste, wo ich die Tochter des Mondes überhaupt suchen sollte. Sie würde sich doch nicht in einer der Felsnischen verborgen halten?
Unwillig rappelte ich mich auf und begann mit einer erneuten Umrundung der kleinen wellengepeitschten Insel. Ich wusste einfach nicht, was ich sonst tun sollte. Fels, Stein und Wasser. Weder fand ich ein Flussufer, noch einen Wald aus Bäumen oder irgendein Grasland. Die Antwort, die mir der Troll gegeben hatte, ergab einfach keinen Sinn.
In Gedanken versunken, die mich nicht weiterbrachten, hatte ich mich der Stelle genähert, an der ich meinen einstigen Reisebegleiter zuletzt gesehen hatte. Hier, an diesem kahlen Fleck, war er ganz plötzlich verschwunden. Hatte sich sozusagen in Luft aufgelöst. Ob er wohl wieder in meine Welt zurückgekehrt war? Mit einem kurzen Aufflackern von Sehnsucht dachte ich an mein warmes Bett, die gut gefüllte Speisekammer und ein sinnvolles Leben. War es denn ein sinnvolles Leben?, wagte es eine kleine Stimme in meinem Innern doch tatsächlich nachzuhaken. Die Antwort darauf fiel mir schwer. Vielleicht hatte es doch mehr Sinn, weiter nach der Tochter des Mondes zu suchen. Das Dröhnen der Wellen, die gegen die kleine Felseninsel brandeten und die gischtende Feuchtigkeit, die dieser Welt – überall und nirgends – innewohnte, hatten schon beinahe etwas Heimeliges. Ich gewöhnte mich wirklich erstaunlich schnell daran, auf einer unbewohnten felsigen Insel inmitten eines endlosen Ozeans zu stehen.
Das Licht um mich herum begann, sich zu verändern. Zögernd wichen die Sterne der Morgendämmerung. Das wogende Wasser verlor seinen glitzernden Schmuck und färbte sich stattdessen orange. Ich wartete auf die aufgehende Sonne, darauf, dass sich ein orange-roter Ball am Horizont erhob, dort, wo Meer und Himmel einander umschlangen. Doch nichts geschah. Nur meine Geduld verflüchtigte sich zusehends, als der Ozean, der die kleine Felseninsel umspielte, mir von einer Morgendämmerung erzählte, die wunderschön gewesen wäre – wenn sie denn auch eine aufgehende Sonne beinhaltet hätte. Doch nur das Wasser wechselte von orange zu rot und dann von lila zu blau.
Die Sonne hätte nun über mir am Himmel stehen müssen, doch da war sie nicht. Ich dachte an den fehlenden Mond während der vergangenen Nacht und grübelte darüber nach, ob denn auch die Sonne in Trauer war und deshalb ihr Erscheinen verweigert hatte. Leider kam ich zu keinem Ergebnis. Dazu wusste ich einfach zu wenig über diese Welt. Ich begann tatsächlich, mich nach dem grummeligen Troll zu sehnen, dessen Antworten zwar keine große Hilfe gewesen waren, der aber zumindest mit mir geredet hatte. Einsamkeit überkam mich in dieser mond- und sonnenlosen Welt. So wie ich das sah, gab es nur noch eine einzige Möglichkeit. Ich würde überall und nirgends verlassen, um in meine Welt zurückzukehren. Vielleicht konnte ich dort irgendwo den Troll auftreiben, der mich hierhergebracht hatte und mit ein bisschen Glück bekam ich endlich ein paar Antworten, die mir tatsächlich weiterhalfen.
Gedacht, getan. Ich befand mich noch immer an eben jener Stelle, die dem Troll als Übergang gedient hatte. Wenn mich nicht alles täuschte, waren wir hier auch in diese Welt gelangt. Also brachte mich das Kaugummitor hoffentlich genauso zuverlässig wieder zurück.
Mit ausgestreckten Armen bewegte ich mich über den Felsen und ertastete bald das, was ich gesucht hatte. Ein zähes, klebriges Etwas, das die Luft um sich herum ganz leicht zum Flimmern brachte. Gerade so, als würde man die Umgebung durch eine Glasscheibe wahrnehmen, die seltsamerweise auf einer Felseninsel inmitten des Ozeans stand. Ohne Rahmen. Ohne erkennbaren Nutzen. Und doch so wichtig, wenn es sich hierbei tatsächlich um den Übergang handelte, der mich zurück in meine Heimat, in meine Welt, bringen würde.
Ich hielt die Arme weiterhin ausgestreckt – mein gelber Mantel flatterte im Wind – und trat in das kaugummiartige Gebilde. Die Durchquerung war anstrengend. Ohne die Hand des Trolls, der mich durch das erste Tor mehr oder weniger gezogen hatte, kostete mich das Durchdringen der zähen Masse mehr Kraft, als ich gedacht hatte. Aber es gelang mir. Meine Hände und Arme stießen zuerst aus der elastischen Substanz heraus. Ein Luftzug strich über sie. Gleichzeitig begannen sie sich zu erhitzen. Was war dort draußen los? So schnell wie möglich kämpfte ich mich weiter und schob schließlich meinen kompletten Körper aus dem Tor.
Sengende Hitze erwartete mich. Eine riesige gelbe Sonne stand an einem Himmel, der von einem solch grellen Blau war, dass es in den Augen brannte. Unter meinen Schuhen tummelten sich unzählige Kieselsteine. Kleine Steinchen bedeckten auch bereits meinen Mantel und wurden mir von den Windböen schmerzhaft ins Gesicht geschleudert. Entsetzt blickte ich mich um. Doch es gab nichts zu sehen. Zumindest nichts außer Steinen. Steine, so weit das Auge reichte. Ich war nicht zu Hause. Das Tor hatte mich in die Wüste geschickt.