Читать книгу Die beiden Kammern - Heike Wempen-Dany - Страница 10
Vier
ОглавлениеWer hätte noch vor ein paar Jahren geglaubt, dass in einer Kirche irgendwann andere Töne als Orgelmusik zu hören sein würden?
Würde man das äußere Erscheinungsbild von Alfred Hinterzeller mit einem Wort zusammenfassen wollen, so wäre „Hutzelmännchen“ wohl der richtige Begriff. Die letzten Jahrzehnte waren einigermaßen gnädig mit dem alten Mann umgegangen. Er schien etwas geschrumpft zu sein, hatte aber mit dem Verlust an Körpergröße keinen Altersbuckel bekommen. Ansonsten konnte man ihn als eher drahtig beschreiben. In wilder Formation hatten sich auf seinem Gesicht etliche Falten gesammelt. Alfred Hinterzellers ganzes Wesen strahlte Güte aus, die sich vor allen Dingen in seinen warmen braunen Augen sammelte. Als Pfarrer dieser Gemeinde hatte er sich schwergetan, als er die ersten Male auf die Mitglieder der Band traf.
Komplett in schwarz gekleidet und mit ihren langen zotteligen Haaren hatten sie etwas Dunkles und Teuflisches an sich. Auf einer E-Gitarre prangte ein Highway-to-Hell-Aufkleber. Der Verstärker brummte so laut, dass es die Predigt störte. Und das Schlagzeug klang, als ob ein Blecheimer die Treppe herunterfiel. Aber den Jugendlichen gefiel es, und die Jugendandachten, die einmal im Monat stattfanden, wurden immer besser besucht.
Frau Böllerhaus, die Frau des Pfarrgemeinderatsvorsitzenden, hatte ihn eines Tages nach der Frühandacht zur Seite genommen.
„Pfarrer Hinterzeller“ flüsterte sie ihm in einem beinahe hysterischen Ton zu. „Wie können Sie es gutheißen, dass sich dieses Gesocks in einer Kirche aufhält? Das sind Teufelskinder. Haben Sie denn nicht gesehen, wie die aussehen? Die stinken bestimmt auch.“
Der Pfarrer hatte damals drei, viermal tief durchgeatmet. Am liebsten hätte er ihr gehörig die Meinung gesagt. Wie konnte man nur so voller Vorurteile sein?
Alfred Hinterzeller stand der kleinen Gemeinde von 2.000 mehr oder weniger frommen Seelen im Bayerischen Wald seit über 40 Jahren vor.
Zu dieser gehörten nun auch einmal die jungen Menschen, die auf der Suche nach ihrer eigenen Identität waren. Die meisten sah er nach der Firmung nie wieder. Und wenn sie einmal im Monat in seiner Kirche vorbeischauten und Musik machten, sollte das dem Geistlichen sehr recht sein.
Die Abendandacht war gerade eine halbe Stunde zu Ende. Pfarrer Hinterzeller hatte die letzten Gemeindemitglieder verabschiedet. Sven Möller, der Bandleader, räumte mit seinen Jungs die letzten Instrumente in den alten Bulli ein.
„Hier, die versprochenen 50 Mark.“ Der Pfarrer griff in die Seitentasche seiner Soutane und fischte einen Geldschein hervor. „Danke. Hat es Ihnen denn gefallen?“ Sven Möller winkte seinen Musikkollegen mit dem Fünfziger zu. „Ich habe das Laudato si noch nie mit so viel Power gehört.“ Und mit so falschen Akkorden versehen, fügte Hinterzeller in Gedanken hinzu.
„Dann dürfen wir künftig im Jugendkeller proben? Bei Bauer Appel in der Scheune ist es im Winter arschkalt.“
Der Pfarrer dachte an die Nachbarn, denen alles außer Blasmusik zuwider war. „Ich werde es mir überlegen und mit dem Pfarrgemeinderat besprechen“, versprach er, wusste aber bereits deren Antwort.
„Jetzt gibt es erst einmal Bratwurst und Pommes für alle beim Hopfenwirt“, rief Sven seinen Bandkollegen zu, als diese die Ladeklappe des Transporters geräuschvoll zuwarfen. „Wollen wir die Kohle nicht lieber sparen?“, fragte Hübi, der picklige Bassist der Gruppe. „Dann könnten wir uns mal richtige Monitore leisten.“ Die jungen Leute quetschten sich in ihren VW und fuhren diskutierend vom Pfarrhof.
Alfred erledigte die letzten Handgriffe in der Sakristei. Sein Ziel war es, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen und sich vor den Kamin zu setzen. Dort warteten der neue Krimi von Konsalik und ein heißer Kakao mit Schuss auf ihn. Ein Gemeindemitglied hatte ihn vor ein paar Monaten mit einer Bücherkiste voller Krimis empfangen mit den Worten „Damit Sie auch mal etwas anderes lesen als nur dieses geistige Zeug aus der Bibel.“ Obwohl Alfred eher vermutete, dass ihm die Bücher überreicht wurden, weil man sie loswerden wollte, nicht um ihm etwas Gutes zu tun, hatte er sich sehr über diese Abwechslung gefreut.
Er griff nach einem Gesangbuch, das ein Gottesdienstbesucher ganz hinten auf der Bank liegen gelassen hatte, um es an seinen Platz zurückzustellen, als ein Briefumschlag vor ihm auf den Boden fiel. Alfred konnte sich gar nicht dran erinnern, ob er bei dem Griff nach dem Gesangbuch auch nach dem Umschlag gegriffen hatte. Aber er konnte auch nicht aus dem Buch herausgefallen sein.
Alfred sah sich suchend auf dem Boden um und bückte sich, um den Umschlag an sich zu nehmen. Merkwürdig. Kein Absender, kein Adressat. Manchmal gab es anonyme Spenden. Doch die landeten meist im Klingelbeutel.
Das Kuvert war an der Klebstelle verschlossen und so versuchte Alfred mit seinem Zeigefinger eine Lücke zu finden. Im Innern befand sich ein DIN A4-Blatt. Zweimal gefaltet. Er klappte es auf.
Bunte Bilder sprangen dem Pfarrer entgegen. Er benötigte eine Weile, um zu erkennen, dass es sich um Buchstaben handelte. Irgendjemand hatte sie wohl ausgeschnitten und auf dem Blatt Papier neu angeordnet.
Alfred Hinterzeller musste die Augen ein wenig zusammenkneifen, um den Text lesen zu können.
Ich weiß, was du getan hast. Ich werde dich fertigmachen und dir alles nehmen. Du elendiger Hund.
Der Brief glitt dem Pfarrer aus den Händen, als er seine Arme sinken ließ.
***
Alfred Hinterzeller brauchte eine Weile, um sich zu fassen. Im Eiltempo trat er aus der Sakristei und vergaß, die Tür mit dem schmiedeeisernen Schlüssel abzuschließen.
Er eilte die steinigen Stufen zu seinem kleinen Pfarrhaus hoch. Seine alten Beine zitterten. Die steifen Knie hatten bei jedem Schritt Probleme, die unterschiedlichen Höhen der Steinstufen zu nehmen. Mit der einsetzenden Dämmerung hatte er zunehmend Probleme damit. Die Stufen waren uneben und glänzten vom Regen.
Seine Gedanken rasten. Schweiß brach trotz der herbstlichen Kühle auf seiner Stirn aus. Wer war heute alles in der Kirche gewesen? Wer hatte auf dem Platz ganz hinten gesessen, an dem das Gesangbuch mit dem Brief lag? Fremde fielen auf. Jedoch kamen wegen der Jugendandachten inzwischen auch Auswärtige. Der Eingangsbereich. Er konnte sich an die Müller-Zwillinge und die Göre vom Zwingenberger erinnern. War da noch jemand? Alles war gut beleuchtet. Nur der Be-reich bei der Mutter-Gottes-Statue lag immer in Düsternis, wenn man nicht extra im Sicherungskasten das Licht einschaltete, was er selten tat, um Strom zu sparen.
Der Saum seiner schwarzen Soutane hatte sich mittlerweile mit dem Wasser der zahlreichen Pfützen vollgesogen. Das erschwerte Alfred Hinterzeller zusätzlich das Laufen.
Priestergewänder waren üblicherweise aus Gabardine gefertigt. Ein Kammgarngewebe, welches bei Nässe immer schwerer wird.
Die Atmung des Gottesmannes ging schneller. Eigentlich müsste er kurz innehalten und einmal richtig tief durchatmen. Doch dafür war keine Zeit. Er schob alle Gedanken beiseite, ebenso die Schmerzen, die jede Bewegung mit sich brachte.
Nur ein Gedanke trieb ihn an. Er musste so schnell wie möglich seine Wohnung erreichen. Jetzt konnte nur noch ein Mann helfen.
***
Mit zitternden Händen, den eigenen Puls als Rauschen in den Ohren, suchte Alfred nach dem Türschlüssel. Er fand ihn in der linken Seitentasche seiner Soutane. Er bekam den Schlüsselbart zuerst zu fassen. Seine Finger waren klamm und steif. Endlich hatte er ihn in der richtigen Position.
Oft verzog sich bei diesem Wetter das alte Holz des Rahmens. Alfred Hinterzeller verspürte den Drang, sich in das Türblatt zu schmeißen. Doch Gewalt musste er nicht anwenden. Der Schlüssel glitt, einmal in die richtige Position gebracht, problemlos in den Schlosszylinder. Die schwere Holztür schwang auf und der Priester betrat den Flur. Den Fußabtreter im Fußraum ignorierte er. Mit pitschnassen Schuhen trat er in die Diele und hinterließ dabei dreckige Abdrücke. Zwei, drei Schritte. Schon erreichte er sein Scheibentelefon auf der Kommode.
Die Nummer? Wo war sein kleines, ledergebundenes Adressbüchlein? Seine nasskalten Finger tasteten in der Schublade herum. Er fasste in eine Reißzwecke. Fluchend zog er die Hand zurück und steckte sich den Finger in den Mund. Endlich hatte er es gefunden. Er musste es zweimal durchblättern, bis er den richtigen Eintrag fand.
Mit zitternden Beinen stand er vor dem Telefon und bediente mit dem linken Zeigefinger Zahl für Zahl die Wählscheibe.
Während er darauf wartete, dass am anderen Ende der Leitung jemand abnahm, schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit ab.
***
Friedrich Hänssler und Alfred Hinterzeller kannten sich schon ein Leben lang.
Alfred Hinterzeller konnte sich noch ganz genau an den schüchternen Jungen erinnern, dem er vor mehr als dreißig Jahren zum ersten Mal begegnet war.
Alfred wartete ungeduldig und mit klopfendem Herzen darauf, dass am anderen Ende endlich jemand den Telefonhörer abnahm.
***
Ein überraschendes Klingeln seines Telefons ließ sich Friedrich Hänssler vom Wohnzimmerfenster abwenden. Mit einem leichten Kopfschütteln löste er den Blick von der bunten Punkergruppe.
„Friedrich? Friedrich, bist du es? Friedrich, hörst du mich?“
„Ja, Alfred, ich bin es. Was ist denn los? Du bist ja ganz außer Atem. Ganz ruhig, du musst Luft holen. Ich verstehe dich sonst nicht.“
„Friedrich, wie gut es ist, deine Stimme zu hören. Ich weiß nicht weiter. Friedrich...“
***
Alfred Hinterzeller war ein langjähriger Freund seines alten Herrn. Auch nach all den Jahren konnte sich Friedrich Hänssler immer noch keinen Reim auf diese Verbindung machen. Sein alter Herr war aufbrausend gewesen. Friedrich Hänssler kannte seinen Vater immer nur mit hochrotem Kopf und pulsierender Schlagader. Wenn er sich aufregte, glaubte man, den Dampf aus seinen Ohren aufsteigen zu sehen. In Sekundenschnelle konnte sein Gesicht die Farbe wechseln – sogar bis hinter die Ohren war das Rot zu erkennen. Seine Stimme erhob sich dann zu einem ohrenbetäubenden Brüllen und überschlug sich. Er musste immer wieder nach Luft japsen und versuchte ungeachtet, dieser lebenswichtigen Maßnahme einzelne Worte herauszuquetschen.
Friedrichs Vater war einer der mächtigsten Bauern im Bayrischen Wald gewesen. Neben der größten Schweinezucht hatten seinem Vater etliche Hektar an Wald und Viehweiden gehört, die er verpachtete. Die Freundschaft zwischen den beiden Männern hatte direkt nach Alfreds Ankunft im Dorf begonnen. Friedrich erinnerte sich daran, dass sein Vater ihm mal – in einer seiner friedlichen Phase – erzählt hatte, dass Alfred eines Tages auf dem Hof gestanden hatte.
„Ich wollte ihn schon davonjagen, aber irgendetwas hat mich davon abgehalten“, wusste sein Vater zu berichten. „Wir haben dann erst einmal einen Schnaps miteinander getrunken und über die Landwirtschaft und ihre Herausforderungen gesprochen. Alfred ist auf einem Hof in Südtirol aufgewachsen, und wenn er sich nicht dazu entschieden hätte Pfarrer zu werden, hätte er wohl seinen Lebensunterhalt weiterhin in der Landwirtschaft verdient.“
Und so fand Alfred nicht nur seinen Platz im Leben seines Vaters, sondern entwickelte sich auch zu einer Vaterfigur für Friedrich Hänssler.
Er konnte sich weder in seiner Kindheit noch in seiner Jugend den cholerischen Anfällen seines Vaters entziehen. Vielleicht war die Entscheidung, sich bei erster Gelegenheit bei der Bundeswehr zu verpflichten, seine Art, diesem familiären Schlachtfeld zu entfliehen.
Seine Mutter hatte kurz nach seiner Geburt ihre Art der Flucht angetreten und sich den Wutanfällen entzogen. Sie hatte es nie geschafft, aus einer Wochenbettdepression wieder herauszukommen. Ihr Kopf hatte sich eine eigene, heile, nach innen gekehrte Welt erschaffen. Den Schlüssel daraus hatte sie für alle Zeiten versteckt. Vor ein paar Jahren hatte Friedrich sie in seine Nähe geholt. Zurzeit lebte sie in einem Sanatorium in Kronberg.
Vor fünf Jahren hatte ein weiterer Wutanfall ein zu dem Zeitpunkt nicht erkanntes Blutgerinnsel im Kopf seines Vaters zum Platzen gebracht. Jede medizinische Hilfe kam zu spät. So verabschiedete sich Friedrich Hänsslers Vater aus dieser Welt, wie er in ihr gelebt hatte – mit einem Knall.
Alfred dagegen war die Sanftmut in Person.
Er war der einzige Mensch, der während der Wutattacken seines Vaters zu diesem durchdringen und ihn wieder zurück in die Realität bringen konnte. Der Pfarrer war für Friedrich Hänssler mehr Vater als sein leiblicher. Mit ihm hatte der junge Mann seine Pläne, zur Bundeswehr zu gehen, besprochen. Nach der Grundausbildung hatten sie im kleinen Steinhaus des Geistlichen bei einem Bier die Möglichkeiten diskutiert ins Ausland zu gehen. Normalerweise hätte Friedrich sich jetzt zwischen Heer, Marine oder Luftwaffe entscheiden sollen, um seine weitere Karriere bei der Bundeswehr fortzusetzen. Friedrich wusste schon in der Grundausbildung, dass er ins Ausland wollte. Irgendetwas trieb ihn weg. Weg von zu Hause.
„Hast du eigentlich gewusst, dass die Bundeswehr seit vielen Jahren in humanitären Einsätzen im Ausland tätig ist?“
„Der Einsatz nach diesem schrecklichen Erdbeben in Agadir war doch überall in den Zeitungen“, hatte Alfred damals geantwortet.
„Bei so etwas würde ich gerne beteiligt sein. Das wird im Laufe der Zeit mehr werden.“
„Dann wirst du also zur Luftwaffe gehen?“, stellte Alfred fest. „Sieht wohl so aus“, hatte Friedrich entgegnet.
Lange währte Friedrichs Einsatz bei der Luftwaffe nicht. Friedrich hatte sich im Laufe der Zeit bei diversen humanitären Einsätzen als eine Art Krisenmanager hervorgetan. Ihm schien es leicht zu fallen, mit den unterschiedlichen Menschen unterschiedlicher Kulturen in Kontakt zu treten. Dieses Talent war auch seinen Vorgesetzten nicht entgangen und so hatte Friedrich die Chance erhalten, in einem Austauschprogramm zwischen FBI, US Army und dem deutschen Außenministerium teilzunehmen und sich als Profiler ausbilden zu lassen. Bei Alfred hatte er sich nach jedem seiner Einsätze zuerst zurückgemeldet. Der alte Pfarrer war es auch, der ihn vom Tod seines leiblichen Vaters berichtet und der den Hauptteil dessen Beisetzung organisiert hatte.
***
„Alfred, wo bist du?“ In dem Moment, als seine Frage seinen Mund verließ, wurde Friedrich bewusst, was er für einen Quatsch gefragt hatte. Wo sollte Alfred denn sein. Natürlich bei sich zu Hause.
Friedrich schnappte sich das Telefon, hielt den Hörer weiter an sein Ohr und ging auf den alten Sessel zu. Die Telefonschnur spannte sich gefährlich und drohte aus der Telefonbuchse zu reißen. Mit dem rechten Fuß versuchte Friedrich den Sessel ein wenig zu sich zu ziehen und so die Spannung von der Schnur zu nehmen.
„Alfred? Hörst du mich noch?“
„Friedrich? Ja, ich bin noch da. Was hast du gemacht?“
„Ich habe gerade das Zimmer gewechselt. Aber nun erzähle doch mal von vorne. Was hat dich so erschreckt, dass ich deinen Herzschlag durch den Telefonhörer hören kann?“
„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Mir ist es abwechselnd heiß und kalt. Dabei ist doch gar keinen Föhn heute.“
„Alfred, du bist doch ganz durcheinander. Was hast du denn erlebt, dass du keinen klaren Gedanken mehr fassen kannst? Ich glaube nicht, dass das irgendetwas mit dem Wetter zu tun hat.“
„Nein, nein, natürlich nicht. Bitte verzeih mir. Bei mir ist gerade alles sehr wirr im Kopf.“
Alfred atmete zweimal tief durch und setzte erneut an, Friedrich von seinem Erlebnis zu erzählen.
„Du weißt doch, dass ich nach der Messe die Besucher verabschiede. Dann schaue ich nochmal durch die Reihen, ob alles in Ordnung ist, bevor ich die Kirche abschließe. Oh Gott, habe ich überhaupt abgeschlossen? Friedrich, ich muss nochmal los.“
„Alfred, warte, nicht auflegen“, versuchte ihn Friedrich zu stoppen.
„Deine Kirche steht in einem kleinen Dorf. Das wird jetzt nicht schlimm sein, wenn du nicht abgeschlossen hast. Jetzt atme noch einmal durch und erzähle weiter.“
„Du wirst recht haben. Wo war ich stehen geblieben?“
„Du hast die Gottesdienstbesucher verabschiedet und bist dann noch einmal durch die Bankreihen gegangen. Was war dann?“
„Ja, genau, die Bankreihen. Ich laufe da so durch und entdecke in der hintersten Reihe noch ein Gesangbuch, welches nicht zurückgelegt wurde. Weißt du, es ist immer dasselbe. Es wird immer schlimmer. Die Leute nehmen sich was und dann stellen sie es einfach nicht mehr zurück. Kannst du dir das vorstellen?“
„Verstehe, aber du willst mir doch nicht erzählen, dass dich ein nicht zurückgestelltes Gesangbuch so aus der Fassung gebracht hat?“
„Nein, nein, du hast recht. Obwohl mich die Gleichgültigkeit der Menschen schon in Rage versetzt. Gut, du hast recht. Ich sehe also dieses Gesangbuch und nehme es gerade an mich, als ein Briefumschlag auf den Boden fällt.“
„Ein Briefumschlag? Wie kommt denn da ein Briefumschlag hin? Hast du ihn aufgemacht? Was war denn da drin?“
„Langsam, langsam, jetzt wirst du ja aufgeregt.“ Tadel lag in Alfreds Stimme.
Er atmete noch einmal tief durch und setzte seinen Bericht dann fort.
„Ich habe ihn aufgehoben und aufgemacht. Da war ein Schreiben drin, die Buchstaben ausgeschnitten aus Zeitungen und Zeitschriften.“
„Jemand hat dich bedroht? Habe ich das richtig verstanden?“
„Ja, jetzt ist es raus.“
„Alfred, hast du eine Ahnung, was sich dahinter verbirgt?“
Stille.
„Alfred? Hörst du mich?“
Stille.
„Alfred, ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht mit mir sprichst.“
Stille, dann ein Seufzen, ein tiefes, ein gequältes.
„Fahr nach Südtirol“, kam vom anderen Ende. „Fahr in meine alte Heimat, in das klei-ne Bergdorf Schönberg. Dort wirst du hoffentlich alle Antworten finden. Bitte mach, dass das aufhört. Du bist doch ausgebildet in solchen Krisen.“
Der Profiler hielt noch eine Weile den Hörer in der Hand und starrte in die Ferne. Sein priesterlicher Freund klang sehr aufgeregt. Er wusste, dass er sich diesem verzweifelten Hilferuf nicht entziehen konnte. Solange er denken konnte, hatte er seinen Alfred noch nie so aufgewühlt erlebt.
Der alte Priester hatte ihm von den Drohbriefen berichtet und im Laufe des Gespräches auch eingestanden, dass er so einen Brief nicht zum ersten Mal erhalten hatte. Alfred hatte so lange gezögert, weil er wohl immer wieder gehofft hatte, dass es sich nur um einen schlechten Scherz handeln würde.
„Gib mir ein bisschen Bedenkzeit. Ich melde mich bei dir.“
Friedrich hing den Telefonhörer zurück in die Gabel und sank komplett in den Sessel. Im selben Moment hatte er das Telefon vollständig in der Hand. Die Telefonschnur hatte die Spannung nicht ausgehalten und war aus der Buchse gerissen.
Er verdankte Alfred in vielen schweren Stunden Rückhalt und Unterstützung. Er musste sich zusammenreißen. Er konnte Alfred nicht hängen lassen.
***
Alfred Hinterzeller saß in seinem alten, abgewetzten Ledersessel inmitten seiner Wohnstube. Im Kaminofen flackerte ein behagliches Holzfeuer. Die Zimmer seines kleinen Steinhauses verfügten alle über eine sehr niedrige Deckenhöhe. Wenn er sich in die Mitte des Raumes stellte, konnte er immer noch trotz seiner vom Alter gezeichneten Körperhaltung mit der flachen Hand die Decke berühren. Das hatte natürlich den Vorteil, dass er seine Räume mit sehr wenig Aufwand, besonders in frostigen Wintermonaten, warm bekam.
Zu seinen Füßen lag Balu, der alte getigerte Kater. Der Pfarrer hatte ihn als Kitten adoptiert, mehr unfreiwillig. Doch diese treue Seele hatte sich in den letzten Jahren immer mehr in sein Herz geschlichen. Mit seinen Blicken gab er Alfred immer wieder das Gefühl, dass er bis auf die tiefsten Gründe seiner Seele schauen konnte. Dabei würde Balu nie ein Geheimnis preisgeben, wenn er es könnte, dessen war sich Alfred Hinterzeller sicher.
Der Pfarrer starrte in das flackernde Feuer. Die Holzscheite waren bis zur Hälfte heruntergebrannt. Die Flammen hatten tiefe Narben im Holz hinterlassen. Rote Glut schimmerte zwischen den schwarzen, verkohlten Holzresten hindurch.
Seine Gedanken schweiften ab und suchten ihren Weg in die weite Ferne. Innerhalb von Sekunden hatten sie eine Entfernung von mehreren Hundert Kilometern hinter sich gebracht und blieben in einem ganz bestimmten Dorf in einer ganz bestimmten Zeit hängen.
Das Telefonat mit Friedrich hatte ihm gutgetan. Mehr als vierzig Jahre war es nun her, dass er seine Heimat Südtirol verlassen hatte, um in Deutschland ein neues Leben anzufangen. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr ärgerte er sich über seine Naivität. Hatte er wirklich damals geglaubt, dass man so einfach seine Vergangenheit abschütteln konnte. Die Quittung hatte er jetzt bekommen, nach vierzig Jahren Schonfrist.
Er setzte alle seine Hoffnungen in Friedrich. Wer steckte hinter diesen Briefen? Und gab es eine Möglichkeit, dieses Kapitel seines Lebens endgültig zu schließen? Alfreds sehnlichster Wunsch war es, endlich Frieden zu finden. Er wusste aber auch, dass Friedrich sehr wahrscheinlich Dinge in Erfahrung bringen würde, die sein heiles Bild von Alfred ins Wanken bringen würden. Und davor hatte er am meisten Angst.