Читать книгу Die beiden Kammern - Heike Wempen-Dany - Страница 9
Drei
Оглавление(einige Wochen zuvor)
Friedrich Hänssler stand am Fenster seiner Drei-Zimmer-Wohnung und schaute sich aus dem ersten Stock heraus das bunte mittägliche Treiben vor seiner Haustür an.
Der Landstreicher hatte sich wieder in den Eingangsbereich des Pelzgeschäfts gesetzt. Wahrscheinlich hoffte er darauf, vom schlechten Gewissen einiger Käuferinnen zu profitieren, die soeben ein sündhaft teures Stück erworben hatten. Mit nur einer Mark bekamen sie von ihm die Absolution, doch ein guter Mensch zu sein. Friedrich fragte sich immer wieder, wie sich dieser teure Laden am äußersten Ende der Fußgängerzone halten konnte. Er vermutete, dass diese Art des Luxus eine besonders treue Sorte von Stammkundschaft benötigte.
Soeben torkelte ein Nachbar die Straße entlang und hielt sich an jeder Straßenlaterne fest. Er hatte Mühe, sich der anwachsenden Steigung der Straße entgegenzuwerfen und einen Schritt vor den anderen zu setzen, ohne das Gleichgewicht gänzlich zu verlieren. Ob er eben erst vom Saufen nach Hause kam oder bereits am frühen Morgen damit angefangen hatte?
Auf dem kleinen Marktplatz unterhalb des Limburger Doms hatte sich wieder eine Gruppe von bizarr anzuschauenden Jugendlichen versammelt. Von Friedrichs Aussichtspunkt am Fenster hatte er einen guten Blick auf diese kleine Gruppe Menschen. Ihre Haare waren zu wilden Spitzen in die Höhe aufgetürmt. Sie nannten es einen Irokesenschnitt, der an wilde Indianer erinnerte und ihn gleichzeitig auf groteske Art und Weise an Karl Mays Winnetou und Old Shatterhand erinnerte. Nur dass sie nicht wie die guten Indianer aussahen, sondern wie Laute ausstoßende Wilde, vor denen sich die braven Siedler in den Filmen zu Tode gefürchtet hätten. Ihre Gesichter waren verziert mit sogenannten Piercings. Ohrlöchern, die aber vorrangig in Nasen, Oberlippen und Augenbrauen gestochen wurden. In den Löchern befanden sich keine schönen Ohrringe, sondern Sicherheitsnadeln. „Wilde!“, dachte sich Friedrich.
Auch sonst trug ihr weiteres Erscheinungsbild nicht unbedingt mehr zu positiven Sympathiebekundungen bei. Die meisten von ihnen trugen schwarze Springerstiefel und abgewetzte Lederjacken.
I am a antichrist
And I am an anarchrist
Kreischte ihm der Leadsänger der Sex Pistols aus einem Kassettenrekorder entgegen.
Punks nannten die jungen Leute sich und widersprachen in allem dem, was Friedrich wichtig war und wie er erzogen wurde.
Individuelle Freiheit versus Bundeswehr-Drill, so konnte man diese beiden Welten auf ein Minimum zusammenfassen.
Er hatte vor zwei Jahren dieses kleine Juwel in der Innenstadt gefunden. Fußläufig konnte er alle wichtigen Geschäfte erreichen. Die Bushaltestelle, die ihn zum nahegelegenen Bahnhof brachte, war keine zwanzig Meter von seiner Haustür entfernt. Friedrich Hänssler war nicht auf ein Auto angewiesen. Die alltäglichen Probleme der Parkplatzsuche kannte er nicht. Befreit davon konnte er sich erlauben, mitten in der Stadt zu wohnen und das Leben zu beobachten. Er hatte sich nach seiner letzten Versetzung in den Westerwald dazu entschieden, sich in Limburg eine kleine Wohnung zu suchen. Sein Zimmer in der Kaserne nutzte er nur wochentags.
Friedrich stand gerne am Fenster. Warum konnte er nicht genau erklären. Manchmal fühlte es sich an, als ob er einem Theaterstück beiwohnte, als stiller Beobachter und ohne zwingende Notwendigkeit eingreifen zu müssen.
Er hatte sich die Wohnung bewusst ausgesucht, um am Puls des Lebens teilhaben zu können. Als Beobachter hinter den großen, fast bodenlangen Fenstern. Er genoss diese Passivität, die Anonymität und die vermeintliche Stille.
Das Lebendige der Außenwelt hielt er getrennt von seiner Wohnung.
Und es gab diese Tage, an denen er sich genau nach solchen profanen Problemen sehnte. Saufen bis zur Besinnungslosigkeit zum Beispiel oder mitten am Tag mit einer Dose Bier und lila gefärbten Haaren auf dem Marktplatz den lieben Gott einen guten Mann sein lassend zu sitzen. Sein eigenes Leben kam ihm dann geregelt und normal vor.
In seinem Beruf hatte er oft mit menschlichen Abgründen zu tun. Da verlangte seine Seele regelmäßig Bilder von Wärme, bunten und lebensfrohen Farben und Lachen. Das pure Leben.
Friedrich Hänssler riss sich vom Fenster los und starrte den kakifarbenen Seemannssack an, der im Flurtürrahmen lag. Dieser Sack zeugte von seinen zahlreichen Einsätzen im In- und Ausland als Profiler und Krisenmanager.
Was er nicht alles schon erlebt hatte. Wenn Säcke eine Empfindung besitzen würden... Schicksalsschläge, Freude, Leid. Wie oft lag dies eng beieinander. Aber er könnte auch Friedrichs dunkelste Stunde bezeugen. Und schon wieder konnte Friedrich nicht verhindern, dass seine Gedanken um seinen letzten und persönlichsten Fall kreisten. Die Bilder der mit Stichwunden übersäten Opfer würde er noch eine ganze Weile mit sich herumtragen. Doch schlimmer als diese Bilder würde ihn sein Versagen auch weiterhin heimsuchen.
Sein Blick blieb im Inneren seiner Wohnung haften.
Einen Preis für Innendekoration hätte er nicht bekommen. Dafür hatte er kein Händchen und auch keine Zeit. Seine Wohnung enthielt alles, was er benötigte. Ein alter Fernsehsessel, den er von seinem alten Herrn geerbt hatte. Die einzige Erinnerung an seinen Vater, die er bewusst in seinem Leben ließ. Ein Umzugskarton diente noch nach zwei Jahren als Couchtischersatz. Der Fernseher hatte seine besten Tage schon hinter sich. Friedrich Hänssler war das völlig egal. Er schaltete nur selten die Flimmerkiste an. Was dort tagtäglich in den Nachrichten zu sehen war, hatte er vielfach in seiner Brutalität bereits selbst erlebt.
Gestern hatte er per Zufall einen Film gesehen, in dem ein Motorradfahrer bei seiner eigenen Todesfahrt gefilmt wurde. Der Film sollte als Abschreckung dienen. Das Verkehrsamt hatte die Todesfahrt mit Schauspielern und Stuntmen nachgezeichnet, um auf die steigende Anzahl der Unfalltoten besonders unter den Motorradfahrern aufmerksam zu machen.
Seit einigen Jahren hatten sich die Zulassungen für Motorräder rasant vermehrt. Die Nachrichten waren voll von Berichten über schwere Unfälle. Die Achtzigerjahre werden in der Geschichte als Jahre des zunehmenden Individualverkehrs eingehen, so eine Studie, die Friedrich per Zufall bei der Suche nach aktuellen wissenschaftlichen Täter-Opfer-Studien in die Hände gefallen war. Friedrich seufzte. Er konnte diesem Geschwindigkeitsrausch und seinen Gefahren, dem sich einige freiwillig aussetzten, nichts abgewinnen. Gab es nicht genug Idioten und Monster auf dieser Welt, die mit Vergnügen anderen nach dem Leben trachteten? Musste man sich denn für ein kurzes Vergnügen selbst in diese große Gefahr bringen? Manchmal würde er gerne das Fenster, vor dem er gerade stand, weit aufreißen und in die Welt da draußen herausschreien, mit welchen Monstern er es in seinem Alltag immer wieder zu tun hatte. Doch er würde sicherlich nur viel Unmut wegen des Lärms und Verständnislosigkeit ernten.
Gerade liefen die Vorbereitungen, dass die seit vier Jahren geltende Anschnallpflicht bei Nichtbeachtung mit Geldstrafen belegt würde.
Sein Schlafzimmer bestand aus einem et-was abgenutzten IKEA Bett. Das schwedische Möbelgeschäft hatte in den Siebzigerjahren damit begonnen auch in Deutschland seine geschäftlichen Fühler auszustrecken. Friedrich konnte auch diesem Hype um günstige Möbel, die man in kleinen Paketen selbst nach Hause transportieren musste, um sie dann selbst aufzubauen, nichts abgewinnen. Dennoch befand sich dieses Bett nun in seinem Besitz. Seine Vermieter hatten ihm bei seinem Einzug vor ein paar Jahren angeboten, das alte Bett ihrer studierenden Tochter zu übernehmen. Da Friedrich durch seine vielen Reisen und ständigen wechselnden Wohnorte nicht wirklich viele Möbel angesammelt hatte, hatte er gerne das Angebot angenommen. Die Schrauben musste er immer dann von Zeit zu Zeit nachziehen, wenn der Lattenrost durchzubrechen drohte. Das passierte vorzugsweise mitten in der Nacht. Bereits zweimal fand er sich schmerzverzerrt auf dem Boden wieder.
Seine wenigen Klamotten hingen auf einem Kleiderständer oder befanden sich in einer einzigen Kommode. Viel benötigte er nicht. Die meiste Zeit trug er Jeans, T-Shirt und seine alte Lederjacke. Wenn er nicht in seine Uniform schlüpfen musste, die er aktuell nur ungern trug.