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II

Esmeraldo

Esmeraldo Paligan hielt die Hand locker auf den Knauf des Säbels gestürzt, während er neben dem alten Geweihten durch den Tempelgarten schlenderte. Die Schritte seiner Stiefel knirschten auf dem dunklen Kies, von dem die Nässe in dampfenden Schwaden aufstieg, wo ihn die Sonne berührte. Der Morgen war ungewohnt frisch nach dem Sturm, der in der Nacht über die Stadt hereingebrochen war und die drückende Hitze für ein paar Stunden vertrieben hatte. Vom Tempeldach krächzten die Raben, und in einiger Entfernung hörte man das Ächzen und Poltern der Sklaven, die die Überreste zerstörter Statuen aus dem Einschlagkrater bargen. Eine Geweihte in schwarzem Ornat überwachte die Arbeiten, während ein bulliger Vorarbeiter zur Eile antrieb.

»Es scheint sich tatsächlich um einen Sternenfall zu handeln, sehr ähnlich den Vorkommnissen, deren Berichte wir bereits gesammelt haben.« Brotos Paligans Stimme erinnerte ein wenig an die einer Krähe, kratzig und alt. Die goldgesäumte Robe fiel eine Spur zu weit über die mageren Schultern, die er trotz des Alters aufrecht hielt. Scharf, wie der Schnabel eines Raubvogels, saß die Nase in dem hageren Gesicht, und seine Augen blickten stechend, als er den Kopf wandte, um Esmeraldo anzusehen.

Als Kind hatte Esmeraldo Angst vor dem Hochgeweihten gehabt. Der Alte, der das Lachen stielt, hatte seine Mutter Brotos genannt, weil jede Feier schlagartig an Fröhlichkeit verlor, wenn der düstere Priester den Raum betrat. Sie hatten alle Angst gehabt vor dem harten, unnachgiebigen Mann, der wahrscheinlich längst Oberhaupt der Boronkirche geworden wäre, hätten die Honaks den Patriarchenthron nicht an sich gerissen. Jetzt, fast dreißig Jahre später, hatte Brotos Paligan seinen Schrecken verloren. Esmeraldo war kein Kind mehr, das sich vor einem Greis mit Krähennase fürchtete. Er war Präfekt, Commandante im Rat des Schwarzen Generals und niemand, der sich noch maßregeln ließ. Brotos Paligan hatte ihn zu sich gebeten. Als Bittsteller, auch wenn dieses Wort dem alten Geweihten sicher nicht über die Lippen gekommen wäre.

»Hat man den Stern geborgen?«, fragte Esmeraldo, während er einen prüfenden Blick zu den Arbeiten hinüberwarf. Der Anblick eines Geweihten, der im Gespräch durch die Gärten schlenderte, schien jedoch nicht außergewöhnlich, sodass man ihnen keine Beachtung schenkte.

Brotos deutete ein Kopfschütteln an. »Angeblich ist er an der Absturzstelle verglüht. Wenn es sich jedoch tatsächlich um einen gefallenen Stern handelt, wie man sie im Norden erlebt hat, halte ich das für sehr unwahrscheinlich. Ich nehme an, Amir Honak hat ihn heimlich bergen lassen und hält ihn im Tempel zurück. Er hat angeordnet, Stillschweigen über die Geschehnisse zu wahren. So unmittelbar vor der Kriegserklärung will er wohl Aufruhr vermeiden. Fallende Sterne sind und bleiben ein böses Omen.«

»Daran tut er gut. Die Truppen würden unruhig, wenn sie davon erführen. Allerdings halte ich es für ebenso gefährlich, den Zwischenfall zu ignorieren. Wenn es tatsächlich ein Fingerzeig der Götter ist, sollten wir es ernst nehmen. Al’Anfa hat zu viele Kriege verloren, um Vorzeichen zu ignorieren.«

»Nicht jedes Vorzeichen ist eindeutig. Ein gefallener Stern kann vieles bedeuten. Eine Niederlage, ein schwerer Verlust, das Ende des Imperiums, der Boronkirche ... oder schlicht des Hauses Honak.« Ein durchdringender Blick streifte Esmeraldo, ehe der alte Geweihte wieder in den lockeren Plauderton verfiel. »Sicher werden wir versuchen, den Willen der Götter zu ergründen. Das müssen wir tun. Der Einschlag ist selbstverständlich nicht unbemerkt geblieben. Außerhalb des Tempels redet man bereits, und man fragt sich, was der Honak zurückhält. Es werden weitere Fragen gestellt. Fragen, die richtig angeleitet Zweifel nähren.« Seine schmalen Lippen formten ein wissendes Lächeln. »Diesen Dolch hat uns der Patriarch selbst in die Hand gedrückt. Nun gilt es, ihn geschickt zu nutzen.«

»Ihr wollt den Sternenfall so deuten, dass das Unheilsomen dem Patriarchen gilt?«, fragte Esmeraldo.

»Ich werde gar nichts deuten. Das wird ganz von selbst geschehen. Aber es ist sinnvoll, die richtigen Anstöße zu geben, um die Dinge in unserem Sinne in Bewegung zu setzen. Was mich zum eigentlichen Anlass unseres Gespräches führt.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Ort für diese Art Gespräche geeignet ist.« Esmeraldo sah erneut zu den Arbeitern, die gerade den zertrümmerten Arm einer Marmorstatue aus dem Krater zogen. Die Stille des Tempelgartens trug ihre Stimmen heran, aber sie waren zu weit entfernt, um Worte zu verstehen.

Brotos lachte leise. »Ihr seid misstrauisch, das ist gut! Gutgläubige Narren habe ich genug um mich herum. Doch lasst uns hier ein wenig gehen und plaudern, vom Onkel zum Neffen. Wir haben uns seit Jahren nicht gesehen, und ich bin erfreut, ein verlorenes Räblein in der Heimat willkommen zu heißen.«

Esmeraldo war sich nicht sicher, ob er Brotos’ Sorglosigkeit teilen wollte, aber es war vermutlich tatsächlich nichts Verdächtiges dabei, wenn er mit seinem Verwandten am helllichten Tag durch die Einsamkeit der Tempelgärten spazierte. Manchmal waren die offensichtlichen Orte die sichersten.

»Ich bin erfreut über Eure Fürsorge«, nahm er daher den Faden auf. »Allerdings kann ich Euch versichern, dass es um mein Seelenheil wohl bestellt ist. Es gibt in Sylla einen Tempel unseres Herrn Boron, sodass ich die letzten Jahre nicht gänzlich verlassen war.«

»Der Götterfürst wacht über seine Räblein, wo auch immer das Rabenbanner steht. Allerdings findet Ihr nur hier Männer und Frauen, die bereit sind, es zu ergreifen und zum Ruhm unseres Herrn Boron über die Grenzen des Imperiums hinauszutragen.« Wieder streifte ihn Brotos’ Blick, ohne dass der Geweihte innehielt. »Ihr habt sie kennengelernt, und Ihr kennt die Pläne unseres Generals. Ich will wissen, was Ihr darüber denkt.«

Esmeraldo nickte langsam. Seine Finger strichen über den Knauf seines Säbels, während er darüber nachdachte, wie viel er dem hageren Geweihten preisgeben wollte. »Lasst mich bei der militärischen Lage beginnen«, sagte er schließlich und senkte die Stimme. »Die Streitmacht ist gut ausgebildet, gerüstet und ohne Zweifel geeignet, das Königreich der Kemi zu unterwerfen. Oderin du Metuant weiß, was er tut. Er hat Erfahrung, Geschick und militärisches Verständnis. Allerdings kann er nicht mehr lange zögern. Mit jedem Tag, den die Truppen zur Untätigkeit verdammt sind, sinkt die Moral. Selbst wenn es ihm gelingt, sie noch eine Weile unter Kontrolle zu halten, werden die Soldaten am Ende ungeduldig und wenig diszipliniert in Kemi einfallen, was den Erfolg des Unternehmens gefährden würde. Es bleibt daher wenig Zeit.«

Der alte Geweihte nickte zustimmend. »Dann haltet Ihr es für sinnvoll, bald zuzuschlagen? Sprecht offen, ich bin gespannt auf Eure Einschätzung.«

»Bezüglich eures Kreises, den Ihr Rabenbund nennt?« Esmeraldo bleckte die Zähne zu einem flüchtigen Grinsen. »Ich halte es für gewagt, mit diesen Gestalten einen Umsturz zu versuchen.«

»Tatsächlich?« Brotos’ Braue ruckte nach oben. Er machte eine auffordernde Handbewegung. »Führt aus.«

»Ihr wollt einen Umsturz, aber Ihr habt niemanden, der in der Lage wäre, die Führung zu übernehmen oder die Heeresmacht hinter Euch zu bringen.« Esmeraldo schlug einen Weg ein, der sie ein Stück von den Aufräumarbeiten fortführte. »Solange die Truppen vor den Toren lagern und Ihr die Offiziere nicht hinter Euch wisst, wäre es Wahnsinn loszuschlagen. Was auch immer einige Eurer Anhänger behaupten mögen. Ihr braucht die Offiziere, die Hafenmeisterei und die Stadtwache. Am besten kümmert Ihr Euch auch um die wichtigsten Lanistos und lasst die Commandanta der Rabengarde austauschen. Für einige dieser Aufgaben habt Ihr geeignete Leute. Verteilt die Verantwortlichkeiten entsprechend. Diesen jungen Kugres lasst Ihr besser verschwinden. Die Kriegsfakultät verteilt sehr bereitwillig Patente, aber eine schöne Urkunde macht keinen guten Commandante. Der Bursche ist gefährlich für Euer Unterfangen, weil er seine Fähigkeiten überschätzt und nicht bereit ist, Fehler einzugestehen. Stünde er unter meinem Kommando, hätte ich ihn längst entfernt.«

Brotos nickte bedächtig. »Das werde ich nachholen. Ich danke Euch. Ich bin wahrscheinlich zu wenig Soldat, um den Wert dieser Patente einschätzen zu können. Das Übrige ist mir durchaus bewusst.« Er strich sich nachdenklich über das Kinn. »Es fließen bereits Gelder, um Notwendigkeiten anzustoßen. Allerdings hat die Erfahrung gezeigt, dass Geld allein nicht an jeder Stelle zu überzeugen weiß. Gerade unter Soldaten gibt es aufrechte Gestalten mit hehren Idealen, die sich in ihrer Ehre gekränkt sehen, wenn man ihre Treue über das übliche Maß hinaus entlohnen will. Solche Männer und Frauen brauchen andere Wege der Überzeugung. Wege, auf die Ihr Euch besser versteht als ich.«

»Ihr habt mich hierherbestellt, damit ich Euch den Rückhalt der Truppen verschaffe?« Esmeraldos Gesicht blieb unbewegt, während er in Gedanken knapp überschlug, wie groß seine Erfolgsaussichten waren. Er kannte viele der Kommandanten noch aus der Zeit aus Port Corrad, aber es war schwer zu sagen, wie sie inzwischen zu General Oderin du Metuant standen. In fünf Jahren war viel geschehen, für ihn selbst und auch für jeden anderen.

Brotos nickte. »Das will ich. Ihr seid der Einzige, den ich dazu befähigt sehe, Heer und Stadt zusammenzuhalten. Sobald wir den General gestürzt haben, tretet Ihr an du Metuants Stelle. Ich werde Euch zum Generalissimus machen, und Ihr werdet den Krieg in Kemi für das Imperium zu einem triumphalen Sieg führen. Mit den Anhängern Prinzessin Rhôndas bin ich bereits im Gespräch. Diesen Gestalten ist es gleichgültig, wer das Heer führt, das Nisut Ela und die Horasier aus dem Land fegt. Als Triumphator werdet Ihr dann gemeinsam mit mir über die Stadt herrschen, alle Macht vereint in den Händen des Hauses Paligan.«

Esmeraldo hob eine Augenbraue. »Ihr seid Euch bewusst, dass Eure Anhänger etwas anderes erwarten? Die anderen Häuser werden es kaum hinnehmen, wenn Ihr sie übergeht. Shantalla Karinor sprach von der Vorstellung, Euch einen neuen Hohen Rat der Zwölf gleichberechtigt zur Seite zu stellen.«

»Ich weiß.« Brotos’ Lippen formten ein schmales Lächeln, das seine Raubvogelzüge einen Herzschlag lang noch härter erscheinen ließ. »Sie fordern auch, dass Ihr nach Eurem Triumph selbstlos zurücktretet und die Zukunft Gestalten wie diesem jungen Kugres überlasst, dessen einzige Tat es ist, große Reden zu schwingen. Womöglich plant man für Euch bereits ein ähnliches Schicksal, wie es einst unseren Schwarzen General mit seiner Verbannung ereilt hat, als die Granden seine Macht fürchteten. Selem ist sicher ein guter Ort, um in Vergessenheit zu geraten. Man könnte Euch dorthin schicken, um die Grenzen des Imperiums gegen aufrührerische Echsen zu verteidigen. Ich bin überzeugt, dass Euch diese Aussicht ebenso wenig gefällt wie mir.«

Esmeraldo lachte trocken auf. »Ich bitte Euch, Hochwürden Brotos. Warum sollte Euch mein Schicksal etwas kümmern? Als Patriarch ist Euch ein zerstrittener Rat doch wahrscheinlich lieber als ein starker General an Eurer Seite.«

Brotos schmunzelte flüchtig. »Es gefällt mir, wie Ihr denkt, Esmeraldo. Und ich beginne zu verstehen, warum mein Bruder Euch ausgewählt hat. Aber in dieser Sache kann ich Euch versichern, dass mich Euer Schicksal sehr wohl etwas kümmert. Ich bin alt, Esmeraldo. Wenn Boron mir noch ein paar Jahre gibt, werde ich sie nutzen, um aus Al’Anfa das Imperium zu machen, das es einst war, bevor es die Honaks von einer Niederlage in die nächste geführt haben. Doch wenn ich gehe und niemand an meiner Seite steht, der mein Werk fortsetzt, werden sich die Raubtiere auf mein Vermächtnis stürzen und es vernichten. Daher wird es auch Euer Werk sein, dem Imperium Größe zurückzugeben und es unter Borons Herrschaft zu stellen. Es gibt übrigens eine junge Geweihte, die ich Euch bei Gelegenheit vorstellen will. Sie hat den Geist, die Stärke und das Potenzial einer Paligan, die Großes zu bewirken vermag. Ihr werdet Euch ihrer annehmen, wenn die Zeit reif ist, wie ich mich Eurer nun annehme, und ihr helfen, mir nachzufolgen. Wenn man etwas von Bestand schaffen will, braucht man mehr als ein Paar Schultern, es zu stemmen. Und mehr als ein Leben, um es zu wahren.«

»Eine junge Paligan? Kenne ich das Mädchen?«

»Wahrscheinlich, auch wenn Ihr sie lange nicht gesehen habt. Es handelt sich um meine Nichte Boronita, die Tochter unseres verehrten Goldo mit seiner zyklopäischen Braut. Ein überaus kluges Kind und hübsch.« Brotos schmunzelte erneut auf diese flüchtige, düstere Weise. »Sie wird Euch sicher gefallen.«

Esmeraldo nickte, während er beschloss, die Zweideutigkeit, die in Brotos’ Worten mitschwang, vorerst zu übergehen. In dem engen Familiengeflecht der acht großen Häuser war es nicht unüblich, dass auch nahe Verwandte einen Bund eingingen, aber darüber würde er zu gegebener Zeit entscheiden, ob er bereit war, sich soweit in Brotos’ Lebenswerk einbinden zu lassen. Im Grunde plante der alte Geweihte nichts anderes als einen Staatsstreich, an dessen Ende das Haus Paligan über alle anderen Häuser triumphierte, indem es geistliche und weltliche Macht gleichermaßen in den Händen hielt. Ein hochtrabender Gedanke, der Esmeraldo erstaunlich gut gefiel, wenn es tatsächlich gelingen könnte, den Gedanken zur Tat zu machen.

»Eine Sache habt Ihr bislang vermieden anzusprechen«, sagte er nachdenklich, nachdem sie einige Momente schweigend weitergegangen waren. »Don Goldo. Mir ist seine Rolle in Euren Plänen nicht ganz klar. Ich bezweifle, dass er zusieht, wenn wir nach der Macht greifen, ohne selbst die Hand auszustrecken.«

»Natürlich. Deshalb wird er weichen müssen.« Brotos hielt unvermittelt inne. Die wasserblauen Augen, die trotz des Lächelns plötzlich unangenehm stechend wirkten, suchten Esmeraldos Blick. »Mein Bruder hatte seine Zeit. Für das, was vor uns liegt, braucht das Haus Paligan eine harte und vor allem entschlossene Hand. Wenn sein Kopf fällt, werdet Ihr das Haus führen. Das ist mein Angebot an Euch. Seid Ihr bereit, mir zu folgen?«

Esmeraldo war ebenfalls stehengeblieben, und zu seiner Überraschung stellte er fest, dass er den alternden Geweihten keineswegs an Haupteslänge überragte, sondern ihm geradewegs in das von Leben und Alter gezeichnete Gesicht sah. Tiefe Entschlossenheit lag darin, und Esmeraldo wurde mit einem Mal bewusst, wie viel dieses Vorhaben dem greisen Geweihten bedeutete. Brotos Paligan hatte sein Leben lang gewartet, und er hatte nichts mehr zu verlieren. Wenn er scheiterte, dann mit dem letzten Versuch, sein Lebenswerk zu vollenden. Doch war dieser Versuch tatsächlich vielversprechend genug, um sein Geschick auf Gedeih und Verderb an das Schicksal seines Großonkels zu hängen? Seine Stellung unter Oderin bot ihm andere Möglichkeiten, und der General war ebenfalls alt, sodass es nur eine Frage der Zeit war, bis sich ein Nachfolger durchsetzen musste. Alles deutete derzeit darauf hin, dass dies Alena Karinor wäre, doch Dinge konnten sich ändern, gerade wenn ein Krieg bevorstand. Und es gab kaum eine günstigere Gelegenheit, eine Konkurrentin zu beseitigen, als das Schlachtgetümmel, in dem nicht mehr auszumachen war, woher der tödliche Bolzen tatsächlich kam. Nach den Jahren in Sylla störte es ihn, dass er als Commandante unter Oderin du Metuant in die zweite Reihe zurücktreten musste, und ihn störte das Zögern und der Aufwand, den man um die kemsche Prinzessin und ihre unerträglichen Begleiter machte. Shantallas Versprechungen hatten ihn neugierig gemacht, sodass er sich bereit erklärt hatte, ihr zu diesem Treffen zu folgen. Brotos’ Rabenbund bot Möglichkeiten, aber er barg auch Risiken. Allerdings war Esmeraldo nicht so weit gekommen, weil er zauderte und zagte.

Er nickte langsam und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als sein Blick auf den hochgewachsenen Mann fiel, der auf sie zuhielt. Lange dunkelbraune Haare, die an den Schläfen zu zwei dünnen Zöpfen geflochten waren, umflossen die breiten Schultern, und der forsche Schritt verriet, dass er nicht zufällig hierherkam.

»Eure Erhabenheit!« Esmeraldo trat zurück und senkte den Kopf, während er in Gedanken hastig überschlug, ob sie an irgendeiner Stelle des Gesprächs doch zu nah an den Arbeitern gewesen waren. Doch in dem Gesicht des Patriarchen deutete nichts darauf hin, dass er zürnte. Ein junger Novize beeilte sich, ihm zu folgen, und blieb schließlich mit zwei Schritten Abstand hinter dem Kirchenoberhaupt stehen, den Blick auf die Hände gesenkt.

»Boron zum Gruß.« Ohne Eile drehte sich Brotos zu Amir Honak um. Sein Raubvogelgesicht formte ein höfliches Lächeln. »Welch unerwarteter Anblick zu dieser Stunde.«

»Der göttliche Rabe mit Euch«, erwiderte der Patriarch den Gruß knapp. Seine Mimik war unbewegt, als sein Blick kurz zu Esmeraldo glitt und dann gleich wieder zu Brotos zurückkehrte. »Das Gleiche mag ich auch sagen. Euer Neffe, wenn ich mich nicht irre?«

»Commandante Esmeraldo Paligan, Eure Erhabenheit. Ich wollte um eine Audienz ersuchen, um ihn Euch vorzustellen. Ihr seid mir nun zuvorgekommen.«

»Es steht Euch frei, es dennoch zu tun«, beschied Amir Honak knapp. »Sprecht deswegen mit meinem Sekretär. Doch nun muss ich Euch bitten, das familiäre Beisammensein zu beenden. Ich habe mit Euch einige Dinge zu besprechen.«

Brotos’ linke Braue wanderte ein Stück nach oben. »Ihr habt es gehört, mein Rat wird benötigt«, sagte er, und wenn Esmeraldo es nicht besser wüsste, hätte er angenommen, echtes Bedauern in seiner Stimme mitschwingen zu hören. »Es war mir eine Freude, mit Euch zu plaudern und alte Erinnerungen auszutauschen. Richtet Eurer Mutter meinen Gruß aus, wenn Ihr sie seht.« Er hob die Hand zu einer segnenden Geste. »Boron mit Euch, mein Sohn.«

»Der Götterfürst mit Euch, Hochwürden«, antwortete Esmeraldo steif, ehe er sich dem Patriarchen zuwandte und die Faust zum militärischen Gruß an die Brust führte. »Ehre dem Raben, Eure Erhabenheit.«

Amir Honak nickte stumm, doch Esmeraldo war, als blickten die klaren Augen einen Moment lang eindringlicher. Ein unangenehmes Schaudern griff nach seinem Nacken, als er sich umdrehte und dazu zwang, ohne Eile den Weg zurück zum Tempel einzuschlagen. Die Stimmen der Arbeiter waren nun sehr nah, aber er beachtete sie nicht. Vielleicht war es nur ein Zufall, der Amir Honak gerade in diesem Moment in die Tempelgärten geführt hatte, doch Esmeraldo war mit den Jahren zu vorsichtig geworden, um auf Zufälle zu vertrauen. Brotos’ Vorhaben war hochtrabend, aber nicht unmöglich, und es bot Möglichkeiten, die alles überstiegen, was er sich bei seiner Rückkehr aus Sylla erhofft hatte. Dennoch musste er vorsichtig sein und abwägen, ehe er dem alten Geweihten das Versprechen gab, das Brotos ihm abgerungen hätte, wäre der Patriarch nicht erschienen. Vielleicht war es ein Fingerzeig Borons, nicht voreilig Entscheidungen zu fällen, sondern in Ruhe abzuwägen. Denn eines wusste Esmeraldo sicher: Es war gleichgültig, wer im Hintergrund die Fäden zog, er würde keine Mirhamionette sein.

Said

Von draußen klangen die geschäftigen Geräusche des Hafens. Zwielicht drang durch die Ritzen zwischen den Brettern des Verschlags und beließ die Ecken in gnädigem Dunkel. Der Gestank nach altem Schweiß und menschlichen Ausscheidungen hing noch in der Luft, und auf dem Boden lag eine umgeworfene Schale mit den eingetrockneten Resten eines Reisbreis, auf dem sich eine dicke Traube Fliegen niedergelassen hatte.

Said ging in die Knie und hob das Stück raue Schnur auf, mit der er die Beine des Beschützers gefesselt hatte. Sie war glatt durchtrennt und nicht durchgerieben, wie er im ersten Moment befürchtet hatte. Rurescha musste ihn fortgebracht haben, aus welchem Grund auch immer, und das offensichtlich schon vor mehr als einem Tag.

Mühsam erhob er sich und tastete nach der Wand, als ihn erneut Schwindel überkam. Der Paligan hatte recht gehabt, es war nicht gut gewesen, mitten in der Nacht aufzubrechen. Der Sturm hatte Sturzbäche aus Wasser, Schlamm und Unrat durch die Gassen getrieben, sodass er nicht weit gekommen war, sondern die Zeit bis zum Morgen zusammengekauert in einer Hausecke verbracht hatte. Jede Faser seines Körpers schmerzte, und er hasste die Schwäche, die ihn ohne Grund straucheln ließ. Aber dass sein Unterpfand fort war, zeigte, dass er viel zu lange tatenlos geblieben war. Er hatte keine Ahnung, was Rurescha bewegt hatte, den Mann von hier fortzuschaffen. Vielleicht war er auch nicht vorsichtig genug gewesen, und die Karinor oder einer der Verschwörer aus den Katakomben hatte seine Spur aufgenommen. Dann war dieses Druckmittel verloren und dieser Unterschlupf nicht mehr sicher.

Said warf einen raschen Blick über die Schulter, aber das vertraute Kribbeln, das sich einstellte, wenn Gefahr drohte, blieb aus. Dennoch sollte er sich hier nicht länger als notwendig aufhalten.

Said wartete einen Moment, um sicher zu gehen, dass nicht gerade jemand zufällig an dem Verschlag vorbeikam. Dann stahl er sich hinaus und tauchte erneut ein in das bunte Treiben der Gassen. Es war nicht schwer, in der Menge zu verschwinden. Al’Anfa hatte über die Jahrhunderte Gestrandeten aus aller Herren Länder eine Zuflucht geboten, sodass sich die Völker vermischt hatten und es kaum noch etwas gab, wonach sich die Leute umgedreht hätten, weil es seltsam und fremd gewesen wäre. Glutäugige Tulamiden gab es ebenso wie Nachfahren güldenländischer Eroberer, Waldmenschen und Mischlinge jeder Art, selbst dunkelhäutige Hünen, deren Ahnen noch Thorwalerblut in sich getragen haben mochten, und Utulus mit hellen Augen, die schon vor Generationen den Sklavenstatus abgestreift hatten.

Die Kleidung, die der Paligan ihm gegeben hatte, war sauber, aber einfach und zweckmäßig, sodass niemand Said Beachtung schenkte, während er sich durch die Gassen treiben ließ und einen der schmalen Aufgänge emporstieg, die in die Abbruchkanten des Berges geschlagen waren, um die Ebenen der Stadt miteinander zu verbinden.

Der Schlund lag nicht unmittelbar am Hafen wie die anderen Elendsviertel, sondern weiter oben am Hang. Die rußgeschwärzten Ruinen verrieten, dass das Quartier einst wohlhabend gewesen sein musste, ein ähnlicher Ort wie die Grafenstadt, wo auch Amato Paligan seine Villa unterhielt. Vor einigen Jahrzehnten hatte hier ein furchtbarer Feuersturm gewütet, der das ganze Viertel vernichtet und von dem alten Glanz nur trostlose, verkohlte Mauern übriggelassen hatte, über denen noch immer ein leichter Brandgeruch lag. Anders als in den Brabaker Baracken gab es hier keine Mietskasernen. Wer hier lebte, hatte sich aus altem Mauerwerk, rohem Holz und Palmwedeln einen Unterschlupf gebaut oder hauste in einem der zerfallenen Hinterhöfe, in denen wild sprießende Blumen und Schlingpflanzen die Ruinen mehr und mehr zurückeroberten. Dazwischen fanden sich immer wieder fast intakte Häuser oder solche, die man allen Widrigkeiten zum Trotz wieder aufgebaut hatte, auch wenn der Schlund kein Ort mehr war, der dazu einlud, länger zu verweilen. Während die Baracken am Hafen all jene aufnahmen, die das Meer in die Stadt spülte, so hausten hier diejenigen, die geblieben waren und ihr Auskommen im Schatten der Rabenstadt gefunden hatten – Diebesbanden und Schläger, die ihre Fäuste an jeden verkauften, der nur genug zahlte, Hehler, Schutzgelderpresser und ehemalige Söldner, die verkrüppelt auf den Stufen ehemals herrschaftlicher Villen hockten und Vergessen im Rauschkraut suchten.

Im Gegensatz zu den anderen Stadtteilen lagen die Gassen unter der Hitze fast ausgestorben da. Das Surren von Fliegen und Moskitos hing in der flirrenden Luft. Stimmen drangen aus einer Taverne im Schatten schimmliger Palmwedel, und ein paar Häuser weiter spielte jemand auf einer Handtrommel den Takt zum eintönigen Gesang einer alten Frau.

Als Said in den Schatten des Durchgangs trat, der zum Hinterhof führte, wo Rurescha und er zuletzt untergekommen waren, fing sein Blick einen Herzschlag lang den eines alten Mannes, der schon beim letzten Mal hier gesessen hatte. Seine schwärenden Beinstümpfe hatte er vor sich auf einer feuchten Strohmatte ausgestreckt, ohne sich um die Fliegen zu scheren, die wie ein wimmelndes Tuch aus schwarzen Leibern über die zerstörten Gliedmaßen krochen. Sein Haar war schlohweiß, und sein Gesicht war von unzähligen Falten und Grübchen durchzogen, dass er Said fast an die alte Geschichtenerzählerin erinnerte, die in Meister Darjins Haus gelebt hatte. Die Augen unter den buschigen Brauen hingegen wirkten klar und kalt. Unverhohlen musterte er Said, ohne ein Wort zu sagen, und folgte ihm mit seinem Blick, sodass er sich zwingen musste, sich nicht umzudrehen.

Ein ungutes Gefühl legte sich um Saids Nacken, während er die wackeligen Stufen emporstieg, die zu der Kammer hinaufführten. Etwas stimmte nicht, aber es war zu spät, um einen anderen Weg zu wählen. Wenn ihn jemand erwartete, dann hatte man ihn ohnehin längst entdeckt.

Seine Sinne waren zum Zerreißen gespannt, als er die Bretter beiseiteschob, die eine behelfsmäßige Tür abgaben. Der Hinterhof gehörte zu einem ehemals prachtvollen Haus, von dessen rückwärtigen Zimmerfluchten nur die rußverschmierten Mauern stehengeblieben waren. Im Erdgeschoss hatte sich eine ehemalige Gladiatorin eingenistet, die von sich behauptete, die Hausherrin zu sein, und im oberen Stockwerk Verschläge aus Flechtwerk und Stoffbahnen vermietete. Die Kammer, die sie Said und Rurescha überlassen hatte, lag in eine Mauernische geduckt und war sogar recht geräumig, wenn man von dem mit morschem Holz notdürftig zugedeckten Loch absah, wo der Fußboden eingebrochen war. Licht sickerte durch den schmutzigen Stoff, der Hitze und Regen notdürftig abhielt, und offenbarte im Halbdunkel zwei Lager und daneben eine Tasche, in der Said sein spärliches Hab und Gut verstaut hatte. Der Geruch von Rauchkraut und Arangen hing in der Luft, der unter dem Tuch unangenehm stickig war.

Misstrauisch sah Said sich um. Es war alles, wie er es an dem Abend verlassen hatte, als er aufgebrochen war, um in Gilia Bonareths Gemächer einzusteigen. Nichts deutete darauf hin, dass Rurescha den Beschützer hierhergebracht hatte, auch wenn sie zwischendurch hier gewesen sein musste.

Said trat an das Lager heran und ging in die Hocke, um nach der Holzschale zu greifen, die er der Maraskanerin vor einigen Monden geschenkt hatte. Sie war gefüllt mit frischen Arangenschalen. Eine Wolke feiner Fliegen stieg von den Fruchtresten auf und eine schwarzschimmernde Schabe huschte eilig davon. Die Schnittkanten der Arangenschalen waren gerade erst angetrocknet, sodass es keine Stunde her sein mochte, seit jemand hier gewesen war. Und es war sicher kein Häscher der Karinor.

»Du bist zurück.«

Said erstarrte, als er Rureschas Stimme hinter sich hörte. Langsam stellte er die Schale zurück und drehte sich um.

Die Maraskanerin stand in der Tür. Grelles Mittagslicht umfloss ihre sehnige Gestalt, sodass er ihr Gesicht nur erahnen konnte. Das Haar trug sie zusammengebunden und über der Schulter die Tasche aus fleckigem Leinen, in der sie ihre Habseligkeiten mit sich herumtrug. Ihre Füße steckten in weichen Sandalen, vermutlich hatte er sie deshalb nicht gehört.

»Es tut mir leid, dass ich dir nicht Bescheid geben konnte«, sagte er, und tatsächlich fühlte er sich erleichtert, sie unversehrt zu sehen. Auch wenn es eine Reihe von Fragen gab, auf die er dringend eine Antwort haben musste, war es gut zu wissen, dass sie noch da war. »Die Häscher der Karinor hätten mich fast erwischt. Ich hatte Glück, aber es hat einige Zeit gedauert, bis ich wieder auf den Beinen war.«

»Ich habe es mir gedacht.« Er meinte, ein Lächeln zu erkennen, als sie nähertrat. Sie hob die Hand an seine Wange, suchte seinen Blick. Die Berührung war ebenso vertraut wie der Geruch nach Mohacca, der sie umgab, und doch war etwas in ihren Augen, was anders war als sonst.

»Ich habe dich vermisst, Saidjian«, flüsterte sie, während sie den Kopf hob, um ihn zu küssen. Ihre Fingerspitzen strichen über die Hebung seines Wangenknochens, gruben sich in sein Haar. Er spürte ihren warmen Atem auf den Lippen, als sie den Mund einen Spalt weit öffnete, um ihn willkommen zu heißen, erleichtert und voller Sehnsucht nach den Tagen der Ungewissheit.

Said schloss die Augen. Er wollte sie nicht küssen, sie mussten reden, über den Gefangenen, die Karinor, und auch über sich und darüber, wie es nun weitergehen sollte. Doch sein Vorsatz zerstob, als er ihre Lippen auf seinen spürte, die Zungenspitze, die sich nicht neckend wie sonst, sondern zielstrebig ihren Weg bahnte. Überrascht nahm er den Kuss auf, erwiderte ihn, während er zu verstehen versuchte, was sich verändert hatte. Zuletzt hatten sie nebeneinanderher gelebt wie Fremde, zu gefangen in ihrer Enttäuschung, um aufeinander zuzugehen. Vielleicht war es die Einsamkeit, die Rurescha daran erinnert hatte, dass sie einmal zwei gewesen waren. Seine Überlegungen schweiften ab, verloren sich in einem Moment plötzlichen Verlangens, als sich die Maraskanerin dicht an ihn heranschob, sodass er die harten Spitzen ihrer Brüste und die Wärme ihres Körpers durch den Stoff spürte. Sein Arm schob sich wie von selbst um ihren Oberkörper, zog sie an sich wie ein Ertrinkender. Schwindel erfasste ihn, aber dieses Mal versuchte er nicht einmal, ihn niederzuringen. Es war gleichgültig, ebenso wie die Karinor, Emilia Bonareth und Amato Paligan. Zumindest für ein paar kostbare Momente, die nicht Al’Anfa, sondern nur ihm und Rurescha gehörten.

Er spürte, wie sie sich in seiner Umarmung bewegte, ohne sich auch nur einen Wimpernschlag von ihm zu lösen. Hungrig küsste sie ihn, dass es fast wehtat, aber auch das störte ihn nicht. Sie war nie sanft gewesen, wenn sie etwas wollte, und der Moment wäre ihm seltsam erschienen, jetzt damit anzufangen. Grob schob er ein Bein zwischen ihre Schenkel, die sich bereitwillig öffneten, während ihre Hand nach seinem Nacken griff.

In dem Moment sah er aus den Augenwinkeln eine Bewegung, und mit einem Mal war das Kribbeln da, mit einer Heftigkeit, dass er erschrocken zurückfuhr. Etwas streifte seine Schulter, zerriss das Hemd, und einen Herzschlag lang spürte er die Kälte des Stahls auf der Haut.

Said dachte nicht nach, als er sich fallen ließ und Rurescha mit sich riss. Sie schrie auf, aber es klang nicht überrascht, wie er erwartet hätte, sondern zornig. Mit einem Ruck entzog sie sich seinem Griff und hob die Hand mit dem Dolch. Einen Herzschlag lang starrte Said sie ungläubig an, sah in das wutverzerrte Gesicht und die traurigen Augen, und plötzlich begriff er.

Im letzten Moment warf er sich zur Seite, als die Klinge auf ihn niederfuhr. Mit aller Anstrengung schlug er die Beine wie eine Schere um Rureschas Schenkel, sodass sie hart auf dem Boden aufprallte.

Hastig rutschte Said zurück. Schwärze schob sich vor seinen Blick, während er versuchte, wieder auf die Füße zu kommen. In seinen Schläfen hämmerte das Blut, aber sein Geist war klar. Wäre er bei Kräften, könnte er versuchen, Rurescha zu überwältigen, um zu erfahren, was für ein verfluchtes Spiel sie hier trieb. In seinem Zustand war er jedoch kaum mehr als ein Opfer, sodass er alles daransetzen musste zu entkommen.

Die Maraskanerin rappelte sich auf und schüttelte den Kopf. Offenbar war sie bei ihrem Sturz härter aufgekommen als erwartet, aber das verschaffte Said wertvolle Zeit. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, rollte er sich zur Seite und auf das Loch zu, das im Boden gähnte. Er sah noch, wie sich Rureschas Augen weiteten, dann brach das morsche Holz unter seinen Füßen weg und er rutschte nach unten ins Dunkel.

Über sich hörte er ein Fluchen, aber er hielt sich nicht damit auf, auf sie zu warten. Mit bleischweren Gliedern stemmte er sich hoch und taumelte zwei Schritte zur Seite, um hinter einem verkohlten Mauervorsprung in Deckung zu gehen. Sein Herz hämmerte vor Anstrengung, und er musste sich zwingen, ruhig zu atmen, während er sich an den abgeplatzten Putz lehnte.

Der verwinkelte Raum, in dem er gelandet war, war halbwegs intakt, auch wenn auch hier der Brand gewütet hatte. Berge von Schutt lagen in den Ecken, offensichtlich sorgsam zur Seite getragen, denn in der Mitte des Raumes hatte jemand eine behelfsmäßige Feuerstelle errichtet. Dünne Lichtfäden drangen durch die Ritzen einer Tür, die jemand aus groben Holzbohlen zusammengezimmert hatte, und vor dem Fenster wucherte dorniges Gestrüpp, dessen Geäst die Helligkeit des Tages aufsog wie ein Schwamm.

Eine magere Ratte stob beiseite, als Rurescha wie eine Katze auf allen Vieren aufkam. Langsam richtete sie sich auf, Staub tanzte in den Lichtfäden, die über ihren Arm und die Klinge ihres Dolches glitten.

»Komm heraus, Saidjian.« Ihre Stimme hatte jede Wärme verloren. »Ich würde dich töten, aber man will dich lebendig. Zwing mich nicht, es trotzdem zu tun.«

Said hielt die Luft an. Stumm horchte er in den Raum hinein, während seine Hand langsam zu dem Gurt unter seinem Hemd wanderte, wo er die Nadel verborgen hielt. Der Griff der Waffe fühlte sich vertraut an und beruhigend, und einen Herzschlag lang war er versucht abzuwarten, bis Rurescha nah genug war, um sie aus der Deckung heraus zu töten. Aber schon im nächsten Moment begann sich der Raum wieder vor seinen Augen zu drehen, sodass er die Lider zusammenkneifen musste, um an der Mauer nicht den Halt zu verlieren. Er konnte es nicht auf einen Kampf ankommen lassen. Er musste hier raus, koste es, was es wolle.

»Ich höre dich, Saidjian.« Die Stimme der Maraskanerin kam wieder näher, sie musste fast unmittelbar vor dem Vorsprung stehen. »Es ist sinnlos, sich hier zu verstecken. Bruder Boron wird dich finden, wo immer du dich auch versteckst.« Wieder scharrten ihre Füße auf dem Schutt, doch zu Saids Erleichterung entfernten sie sich ein Stück.

Seine Hand grub sich in das Geröll, das um ihn herumlag. Er musste etwas tun, solange sie noch mit ihm spielte. Meister Darjin hatte es ihre größte Schwäche genannt, dass sie leichtsinnig wurde, wenn sie sich überlegen fühlte. Nun war es gut, dass es dem alten Meister nie gelungen war, diese Schwäche ganz aus ihr zu tilgen.

Seine Finger zitterten, als sie sich um ein faustgroßes Stück Gestein schlossen. Es war die einzige Möglichkeit, riskant, aber eine andere Hoffnung blieb ihm nicht.

Said schloss die Augen, zählte in Gedanken zwei Mal bis vier, während er ihren Schritten lauschte und einzuschätzen versuchte, wo sie sich befand. Dann sprang er auf.

Sie stand nicht auf der anderen Seite des Raumes, wie er erwartet hatte, sondern keine zwei Schritte von ihm entfernt. Verblüffung zeigte sich auf ihrer Miene, Zorn und plötzliches Frohlocken, doch noch ehe sie zum Sprung ansetzen konnte, schleuderte Said den Stein.

Es gab ein hässliches Geräusch, als das Geschoss ihre Stirn traf. Wie vom Donner gerührt hielt sie inne, einen endlosen Herzschlag lang, in dem sich ihre Augen erschrocken weiteten. Dann verklärte sich ihr Blick und sie brach mit einem erstickten Seufzer in die Knie. Blut rann über die Stirn und die Schläfen hinab, als sie zur Seite kippte und regungslos liegen blieb.

Der aufgewirbelte Staub ließ Said husten, während er sich hinter dem Vorsprung hervorschob. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, Rurescha zu fesseln, um sie zu befragen, sobald sie wieder zu sich gekommen war. Aber er verwarf die Idee gleich wieder. Er hatte keine Ahnung, wer hier unten hauste, und er konnte sie unmöglich aus eigener Kraft nach oben schleppen. Er musste von hier verschwinden, ehe jemand mitbekam, was geschehen war. Für die Ratten des Schlunds war er eine viel zu leichte Beute.

Sein Blick glitt kurz nach oben, aber in seinem Zustand war kein Denken daran, sich durch das Loch hinaufzuziehen. Zu seiner Erleichterung war die Tür jedoch nicht verschlossen, sondern nur angelehnt und mit Schutt verklemmt, sodass er sie nach einigem Ruckeln einen Spalt weit aufschieben konnte.

Bleierne Stille lag über dem Hinterhof, als habe die Hitze alles Lebende in die Schatten der Ruinen getrieben. Noch einmal blickte Said zu Rurescha zurück, deren Kopf nach vorne gekippt war, sodass er ihr Gesicht nicht sehen konnte, und er zögerte. Er sollte sie töten, ehe er ging. Wenn sie jemand ausgeschickt hatte, um ihn zu fangen, dann würde sie wiederkommen, und beim nächsten Mal wäre sie nicht so leichtsinnig. Doch er konnte es nicht. Es war leicht, Leute zu töten, von denen man nicht mehr wusste als den Namen. Rurescha hingegen war ein Teil seines Lebens gewesen, eine Partnerin und Vertraute, seine Geliebte. Es tat erstaunlich weh, sie verloren zu wissen.

Said wandte sich ab und schlüpfte durch die Tür hinaus auf den Hof. Sein Schädel dröhnte, und seine Knie zitterten, als er die Holzstiege ein weiteres Mal emporkletterte, aber er hatte keine Zeit zu verlieren. Wenn Rurescha nicht alles an sich genommen hatte, musste bei seinen Sachen noch das Geld sein, das er aus Meister Darjins Haus mitgenommen hatte. Mehr brauchte er nicht, wenn er nach Travinaia ging – das einzige Ziel, das ihm blieb, nachdem Rurescha ihm sein Faustpfand genommen hatte. Außerdem wartete Rahanez dort auf ihn. Die drei Tage, die sie ihm gegeben hatte, waren längst verstrichen.

Shantalla

Shantalla liebte den Duft der Arangenblüten. Ihre Plantage, die Confidenza, war stets davon erfüllt, und wenn die Abgeschiedenheit allein kein Grund war, hierherzukommen, dann waren es die weitläufigen Haine, die wenig mit den streng symmetrischen Feldern anderer Plantagen gemein hatten. Die Karinor hatten immer schon ein Gespür für Schönheit gehabt, sei es bei der Wahl ihrer Gatten oder bei der Gestaltung ihrer Besitzungen. Wo andere Häuser danach strebten, möglichst viel Gewinn zu erwirtschaften, behielten die Karinor immer noch den Blick auf das Hübsche, Gefällige. Nicht umsonst trug ihr Zeichen neben der Rabenschwinge die Rose, das Symbol der schönen Göttin, die dem Haus ein ums andere Mal ihre Gunst erwiesen hatte. Shantalla atmete tief ein, und sie spürte, dass sie lächelte. Ja, Rahja und Boron meinten es gut mit den Karinor, und offensichtlich gefiel es nun auch dem Herrn Phex, sich diesem Reigen anzuschließen.

»Ihr scheint zufrieden«, stellte Gilia Karinor mürrisch fest. »Ich nehme an, Ihr habt einen guten Grund, mich hierherzubitten?« Die Grandessa trug die Haare offen, und ihr knöchellanges Kleid schmiegte sich an die gefälligen Kurven, sodass ihre Erscheinung ein wenig an die Statuen erinnerte, die Shantalla vor einigen Jahren dem Rahjatempel gestiftet hatte. Bei ihrem Eintreffen hatte sich Shantalla kurzzeitig gefragt, ob ihre Base hoffte, sie mit ihrer Aufmachung ablenken zu können. Doch dann hatte sie in Gilias missmutiges Gesicht geblickt und verstanden, dass der Bonareth rahjagefällige Tändelleien wohl gerade so fern lagen wie dem berüchtigten Piratenadmiral Dagon Lolonna der Besuch eines Vinsalter Flötenkonzerts.

Shantalla haschte nach einem Ast mit weißen Blüten, der tief genug hing, dass sie ihn erreichen konnte. »Den habe ich«, bestätigte sie lächelnd. »Sind Arangen nicht außergewöhnliche Pflanzen?«, fragte sie und schloss die Augen, während sie den Duft der Blüten in sich aufsog. »Ich habe bereits darüber nachgedacht, ob es nicht passend wäre, einen Hain auf dem Silberberg anlegen zu lassen. Es wäre entzückend, morgens mit ihrem Duft in der Nase zu erwachen. Ganz abgesehen davon, dass sie eine wunderbare Symbolkraft haben. Wusstet Ihr, dass sie wohl die einzigen Bäume sind, die Blüten und Früchte zugleich tragen?«

»Interessant.« Gilia war neben ihr stehen geblieben. »Eure Verwandtschaft wäre sicher begeistert, wenn Heerscharen von Erntesklaven über Eure Terrasse marschierten. Aber Ihr habt mich sicher nicht hergebeten, um über die Gestaltung Eures Anwesens zu sprechen.«

»Wie Ihr wisst, schätze ich Euren Rat, liebste Gilia. Doch Ihr habt recht, vertun wir keine Zeit. Schließlich naht ein Krieg.« Shantalla entließ den Ast, der sacht nach oben fuhr und dabei eine Handvoll Blütenblätter niederregnen ließ. »Wisst Ihr, es ist falsch zu glauben, dass wir immer nur diese eine, ausschließliche Entscheidung treffen müssen und Fronten verteidigen, die wir für unumstößlich halten. Manchmal eröffnen uns die Götter verschiedene Wege, und erlauben es uns, großmütig zu sein, anstatt den Gegner zu zerquetschen, nur weil Phex uns gerade ein gutes Blatt in die Hand gespielt hat.«

»Ihr versteht es, für alles schöne Worte zu finden. Was Ihr großzügig nennt, würden andere als Abhängigkeit bezeichnen. Was vermutlich ein sehr viel ehrlicherer Ausdruck wäre.«

»Ach was.« Shantalla winkte ab und setzte an, dem Weg weiter zu folgen. Die Pfade zwischen den Arangenbäumen waren sorgsam geharkt und von Unrat befreit, sodass der schattige Hain tatsächlich mehr einem wohlgestalteten Garten glich als einer Plantage, die dazu diente, Handelsgüter zu erwirtschaften. Hier und da schimmerte die Feuchtigkeit des mittäglichen Regens auf dem Laub, sodass trotz der hochstehenden Sonne eine angenehme Frische zwischen den Bäumen lag. »Abhängigkeit würde bedeuten, dass man einen Gegengefallen einforderte, der von der anderen Seite nur widerwillig gewährt würde. Das wäre kein Großmut, sondern Berechnung. Die ist auf Dauer schrecklich langweilig und zudem vorhersehbar – und gebiert obendrein neue Feindschaften.«

»Worauf wollt Ihr hinaus, Shantalla?« Gilia war stehengeblieben. »Wenn Ihr mir etwas zu sagen habt, dann sagt es. Lasst mich raten: Es geht um diesen unseligen Vorfall bei Hochwürden Brotos Paligan?«

Shantalla versicherte sich mit einem kurzen Blick, dass die Sklaven weiterhin außer Hörweite geblieben waren. Die Schönheit des Arangenhains war ein Grund gewesen, warum sie Gilia hierherbestellt hatte. Der zweite war, dass sie hier reden konnten, ohne dass sie anschließend ihren Hausmagus bemühen musste, die Erinnerung ihrer Dienstboten zu tilgen. Abgesehen von den Kosten war sie sich nicht sicher, wie viel der alte Zausel selbst dabei erfuhr, und sie würde es hassen, eines Tages vor die Entscheidung gestellt zu sein, wie sie mit einem käuflichen Zauberer umgehen sollte, der so viele ihrer großen und kleinen Geheimnisse kannte.

»Ihr habt recht«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. Gilia würde ihr folgen, schließlich war sie es, für die seit besagtem Treffen viel auf dem Spiel stand. »Es war ein unerfreulicher Abend mit ebenso unerfreulichen Überraschungen. Habt Ihr bereits etwas unternommen, um Euren verschwundenen Beschützer zu finden?«

»Natürlich. Er wird verschwinden, sobald man seiner habhaft geworden ist.«

»Wie unschön.« Shantalla verzog das Gesicht. »Und unnötig. Der arme Tropf hat wahrscheinlich nichts weiter getan als seine Pflicht. Glücklicherweise besteht kein Grund, ihm ein Leid zuzufügen. Er befindet sich in meiner Obhut.«

Gilia, die sich gerade wieder in Bewegung gesetzt hatte, hielt abrupt inne. »In Eurer Obhut?«, fragte sie scharf. »Der Spitzel war Euer Werk?«

»Boron behüte!« Shantalla drehte sich um und lächelte unschuldig. »Wo denkt Ihr hin, liebste Base? Ich glaube an die Ideen unseres hoffnungsvollen zukünftigen Patriarchen, und es läge mir fern, ihm und damit auch uns zu schaden. Ich habe den Mann suchen lassen, und ich war erfolgreich. In dem Zusammenhang ist mir noch eine weitere Sache in die Hände gefallen, die Ihr sicher bereits vermisst. Ein Schreiben aus der Stadt des Schweigens, eine äußerlich belanglose Botschaft bezüglich einer Frage um irgendwelche Lotuspflanzungen. Der Inhalt wird jedoch ungleich brisanter, wenn man sie zu lesen weiß. Ihr seid unvorsichtig, Gilia. Man vernichtet solche Schreiben, wenn man sie gelesen hat.« Ihr Lächeln vertiefte sich ein wenig, als sie den Kopf zur Seite legte und Gilias Miene studierte. »Ihr seid Euch sicher darüber im Klaren, dass die Aussage Eures Beschützers zusammen mit diesem Schreiben den Schwarzen General dazu veranlassen könnte, Euren Kopf noch heute auf die Zinnen des Silberbergs zu spießen?«

Gilia war blass geworden. Erschrecken, Unglaube und Zorn wechselte auf ihrem Gesicht einander ab, während sie Shantalla anstarrte.

»Ich weiß nicht, ob Euch bewusst ist, was Ihr da gerade sagt?«, stieß sie hervor. »Euer Kopf wird dem meinen Gesellschaft leisten, wenn Ihr das tut. Ihr seid ebenso verstrickt wie ich und all die anderen, und ich bezweifle, dass sich der Schwarze General von Euren schönen Worten einlullen lassen wird.«

»Ach Gilia. Ich sagte Euch bereits, dass ich an die Ideen eines Brotos Paligan glaube. Allerdings, und das ist der entscheidende Punkt, haben diese Ideen für mich nur eine Zukunft, wenn Ihr und Eure Tochter aufhört, mir einen Dolch an die Kehle zu halten. Ich will unserer gemeinsamen Sache nicht schaden und noch weniger will ich Euch wehtun, Gilia. Aber ich verlange, dass Ihr auf Eure Tochter einwirkt, von ihren albernen Machtkämpfen abzulassen. Wir sind keine Feinde, Gilia, aber wenn Ihr mich weiter bedrängt, sehe ich mich gezwungen, einen Schritt zu tun, der weder Euch noch mir gefällt.«

»Ihr glaubt tatsächlich, Euch herauswinden zu können! Das Schlimme ist, dass ich Euch sogar glaube, dass Ihr es könnt.« Gilias Unterlippe zuckte. »War das von vornherein Euer Plan? Habt Ihr Euch deshalb dem Rabenbund angeschlossen, um etwas gegen mich in der Hand zu haben? Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr dafür bereit seid, einen göttlichen Eid zu brechen. Sonst hätte ich niemals zugelassen, Euch ins Vertrauen zu ziehen.«

»Ich will es nicht tun, Gilia.« Shantalla versuchte, ihren Blick zu fassen. »Boron sei mein Zeuge, dass mir nichts fernerläge, als einen Eid zu brechen, den ich in seinem Namen geschworen habe. Andernfalls würde ich nicht mit Euch sprechen, sondern hätte du Metuant an Eurer Stelle hierherbestellt.«

»Dann lasst meinen Beschützer gehen!«

»Das werde ich tun, sobald es möglich ist.« Shantalla lachte und machte einen Schritt auf sie zu. Das war der gefährlichste Teil ihres Plans, denn wenn Gilia sich störrisch zeigte, blieb ihr tatsächlich nichts anderes übrig, als die Verschwörung auffliegen zu lassen. Das wäre äußerst unschön, weil sie dann auf den Schwarzen General festgelegt war und womöglich Esmeraldo Paligan verlor, dessen Vorzüge sie gerade erst richtig kennenzulernen begann. »Wir müssen keine Feindinnen sein, Gilia«, sagte sie sanft. »Wir waren es nie. Im Gegenteil, gerade in diesen Zeiten sollten wir zusammenstehen, anstatt uns über Nichtigkeiten zu entzweien. Ihr wisst sicher, wer der Spitzel war, der uns in die Krypta gefolgt ist?«

Gilia runzelte die Stirn. Noch immer stand Misstrauen in ihren Augen, aber weniger eisig als zuvor. »Woher sollte ich das wissen? Die Beschützer sahen nur jemanden davonlaufen.«

»Alle bis auf die bedauernswerte Leibwächterin Don Esmeraldos. Die im Übrigen überlebt hat, wie ich mir habe sagen lassen. Und Euer Beschützer. Die Dreistigkeit des Eindringlings reicht zwar nicht an das heran, was er bei der Feier zum Tsatag Eurer Tochter getan hat, aber es offenbart seine Ziele, Euch zu vernichten.«

»Es war dieser elende Bastard?«

Shantalla nickte. »Die Brut unseres guten Aurelian lässt uns in der Tat keine Ruhe. Meine Leute konnten ihm zwar die Beute abjagen, aber bedauerlicherweise ist er entkommen. Es wäre jedoch wünschenswert, seiner habhaft zu werden, ehe er Gelegenheit findet, an ungünstiger Stelle weiterzugeben, was er gesehen und gehört hat. Lasst es uns gemeinsam tun, Gilia.« Sie streckte die Hand aus und ergriff die Finger der Bonareth. »Er bedroht nicht nur Euch, sondern auch mich. Und ich bin sicher, dass er erneut lästig wird, wenn wir es nicht verhindern.«

Einen kurzen Moment schien es, als wollte Gilia die Hand zurückziehen. Aber sie ließ die Berührung zu.

»Ich verstehe, was Ihr beabsichtigt«, sagte sie langsam, als denke sie noch über ihre Worte nach, während sie sie aussprach. »Ihr habt Angst vor diesem Bastard und braucht mich. Weil wir einen gemeinsamen Feind haben.«

»Der Bastard ist der Anlass, nicht der Grund.« Shantalla lachte leise, auf diese Art, die sie so perfektioniert hatte, dass es nicht einmal aufgesetzt klang. »Ein ärgerliches Übel, nicht mehr. Tatsächlich ist mir vor allem an einem guten Einvernehmen mit Euch gelegen. Wir leben in gefährlichen Zeiten, Gilia. Lasst mich Eure Freundin sein. Wie früher.«

Die Bonareth verzog die Lippen zu einem bemühten Schmunzeln. »Schöne Worte und ein Dolch, den Ihr mir an die Brust setzt. Ihr seid eine Harpyie, Shantalla. Wir waren nie Freundinnen und werden es sicher nie werden. Aber ihr habt recht, wir sollten diesen Bastard gemeinsam zur Strecke bringen. Eure Leute sind ihm auf der Spur?«

»Es ist schwer, seiner habhaft zu werden. Al’Anfa ist groß, und dass er in der Lage ist unterzutauchen, wissen wir ja nun aus leidvoller Erfahrung.«

»Ich werde sehen, was ich erreichen kann«, sagte Gilia steif. Sie wand ihre Hand aus Shantallas Griff und machte einen Schritt zurück. »Ihr entschuldigt mich sicher, aber ich werde nun aufbrechen, um das Notwendige zu veranlassen. Eine Bedingung habe ich jedoch.«

»Bedingung ist so ein hartes Wort.«

»Ihr werdet keine Schwierigkeiten haben, sie zu erfüllen«, sagte Gilia knapp. »Ich will, dass Ihr mir den Bastard überlasst, sollte er Euch ins Netz gehen. Diese Angelegenheit ist eine Sache des Hauses Bonareth.«

»Natürlich.« Shantalla lächelte sacht. »Was immer Ihr wollt.«

Emilia

Wenigstens war er hübsch. Emilia Bonareth drehte das Weinglas zwischen den Fingern, während sie den Tulamiden musterte, der vergeblich versuchte, nach einem der erschrocken fiependen Vögel zu haschen. Emilias Mutter hatte den Käfig bauen lassen, weil sie es liebte, dem Zirpen und Pfeifen zu lauschen und die buntschillernden Viecher dabei zu beobachten, wie sie von Ast zu Ast hüpften. Ganze Heerscharen von Questadores hatte sie ausgesandt, um ihr die schönsten und seltensten Exemplare aus den Tiefen des Dschungels zu bringen. Sie kannte sogar all die Namen, die so ähnlich klangen, dass Emilia sie bereits vergaß, noch ehe sie ganz ausgesprochen waren. Vögel waren langweilige und anstrengende Geschöpfe, die sie mit ihrem ewigen Gezwitscher ermüdeten. Umso interessanter war die Frage, ob Vögel auch andere Laute von sich geben konnten.

Sie hatte mit Cherim darüber gesprochen, als sie nach genossener Rahjaslust noch dämmernd im Bett lagen. Ein Vogel hatte unter dem Fenstersims gezirpt, und sie hatte angekündigt, ihn in Stücke zu reißen, bis er schrie, wenn er nicht bald aufhörte. Halb gefangen von der Schwüle und der Ermattung hatte Cherim angemerkt, dass Vögel gar nicht schreien könnten wie andere Lebewesen. Das war in doppelter Hinsicht bemerkenswert gewesen. Zum einen hatte sein Einwand ihr Interesse geweckt, der Frage auf den Grund zu gehen. Zum anderen hatte er es gewagt, ihr zu widersprechen. Das war nicht mehr geschehen, seitdem sie ihn gezwungen hatte, sich diese Bastarddirne vorzunehmen. Er hatte es getan, mit versteinerter Miene und mechanisch wie ein Golem, aber es hatte etwas in ihm gebrochen.

Emilia führte den Weinkelch an die Lippen und nahm einen kleinen Schluck von dem schweren Almadaner, während sie seine Bemühungen aufmerksam verfolgte. Sie mochte gebrochene Menschen. Sie widersprachen nicht, wurden nicht aufsässig und hatten diesen leeren Ausdruck in den Augen, der Emilia tiefe Genugtuung verschaffte. Wer gebrochen war, ergab sich ihrem Willen. Letztendlich hatte sie auch Cherim nur aus diesem Grund bei sich behalten. Außerdem war er schön, und Emilia liebte schöne Männer, und wenn sie ihr bedingungslos zu Willen waren, umso mehr.

Sie nahm einen weiteren Schluck, dann stellte sie den Kelch ab. Der Wein schmeckte schwer und unpassend für diese Gelegenheit, die eher nach etwas Leichtem verlangt hätte. Vögel brauchten Weißwein, am besten gekühlt, und dazu ein wenig Wind, der die beklemmende Schwüle vertrieb. Dass es an beidem mangelte, störte sie nunmehr und legte sich wie ein unangenehmes Kratzen unter die satte Zufriedenheit, die dem erfüllenden Liebesspiel gefolgt war.

»Verschwinde damit«, fuhr sie die Sklavin an, die regungslos hinter dem Korbstuhl stand. »Und teile deinem Aufseher mit, dass ich dich nicht mehr sehen will. Sonst lasse ich dir die Flügel ausreißen. Und du«, wandte sie sich an Cherim, der immer noch versuchte, einen der Vögel zu erhaschen. »Bist du endlich soweit? Das kann doch nicht so schwer sein!«

»Was kann nicht so schwer sein?«, erklang hinter ihr die scharfe Stimme ihrer Mutter.

Emilia drehte gereizt den Kopf. Aus den Augenwinkeln sah sie die Sklavin, die kreidebleich geworden war und eilig die Kristallkelche und die Schale mit dem Dattelkonfekt zusammenräumte.

»Du kommst gerade richtig«, ließ sie Gilia wissen. »Cherim soll mir einen Vogel holen. Selbst das scheint ihn zu überfordern.«

»Nun, er hat sicher andere Qualitäten. Sonst wärst du seiner längst überdrüssig.« Gilias Stimme klang neutral, aber ihr Blick ging an Emilia vorbei und blieb an der offenstehenden Käfigtür hängen. »Umsicht zählt jedoch nicht dazu. Oder beabsichtigt er, meine Vögel entkommen zu lassen?«

»Nein, er will herausfinden, ob Vögel schreien können.« Emilia lehnte sich wieder zurück und sah zum Käfig. »Wenn es diesem Dummkopf denn gelingt, einen zu fassen zu bekommen.«

»Es freut mich, dass du dich für meine Vögel interessierst. Aber ruf Cherim zurück.«

»Warum?« Emilia sah sie verwundert an. »Die Vögel werden ihm doch schon nichts tun?«

»Nein.« Ihre Mutter klang ungewohnt kurz angebunden.

»Ich habe jedoch Wichtigeres mit dir zu besprechen. Außerdem habe ich gerade nicht die Muße, jemanden zu finden, der Ersatz besorgt.«

»Ist ein Vogel nicht ebenso gut wie der andere?« Emilia verzog den Mund, aber sie gab Cherim mit einer Geste zu verstehen, zu ihr zurückzukehren. Erleichterung stand dem Tulamiden ins Gesicht geschrieben, als er heraustrat und die Tür sorgsam hinter sich verschloss. Der Käfig war groß genug, dass ein Mensch aufrecht darin stehen konnte, und geräumig, um den Vögeln die Möglichkeit zu geben, umherzuflattern und ihr prachtvolles Gefieder zu zeigen. Dennoch war es durch die Sitzstangen eng, sodass er ein oder zwei Mal gestürzt war und seine Hände und Knie mit Vogeldreck besudelt waren.

»Was ist denn so wichtig?«, erkundigte sich Emilia, nachdem sie dem Tulamiden mit einer ungeduldigen Geste bedeutet hatte, einen zweiten Stuhl für ihre Mutter herbeizuschaffen. »Gibt es Neuigkeiten wegen der Sache?« Ihre Mutter und sie hatten sich darauf verständigt, den Rabenbund nicht offen zu erwähnen. Emilia hatte ohnehin wenig Interesse an den geheimen Treffen. Ob der Patriarch nun Amir Honak oder Brotos Paligan hieß, ob der Schwarze General herrschte oder ein Rat aus Granden, das spielte für sie keine Rolle. Im Gegenteil, sie war du Metuant irgendwie sogar dankbar, dass er damals den Tod ihres Bruders gerächt und die Duumvirn niedergeworfen hatte. Aber ihre Mutter hielt es für wichtig, die Zukunft der Stadt und des Imperiums nicht anderen zu überlassen. Das Haus Bonareth habe zu sehr geblutet, um sich darauf beschränken zu können, Wunden zu lecken. Emilia fühlte sich jedoch schnell gelangweilt, wenn es um Macht und Politik ging, sodass sie diese Dinge gerne an ihre Mutter abtrat. Gelegentlich sprachen sie darüber, aber meist setzte Gilia sie erst in Kenntnis, wenn etwas Wichtiges geschehen war. Dass sie sie hier im Garten aufsuchte, war ungewöhnlich.

»In der Tat.« Gilia verschränkte die Arme, während sie kurz Cherim nachsah, der zum Haus hinübereilte. Ihre Miene war ernst, als sie sich wieder Emilia zuwandte. »Wo ist die Bastardtochter von Aurelian?«

»Dieses weinerliche Ding mit dem komischen Namen?« Emilia grinste und lehnte sich zurück. »Sie ist in Sicherheit. Ich habe sie in die Arena bringen lassen. Als Gladiatorenhure. Das macht sie wohl ganz gut. Kürzlich war Don Amato bei mir und hat mir ein Angebot für sie gemacht. Einer seiner Gladiatoren hat an ihr Gefallen gefunden. Ich habe natürlich abgelehnt.«

»Das ist gut.« Gilia holte tief Luft. »Hör zu. Wir brauchen das Mädchen, um diesen elenden Said in die Finger zu bekommen.«

»Deshalb habe ich sie in die Arena eingesperrt.«

»Und zugelassen, dass jeder wildfremde Gladiator sie bespringt, anstatt dafür zu sorgen, dass der Bastard von ihrem Aufenthaltsort erfährt! Nein, wir müssen ihn anlocken und dazu zwingen, übereilt zu handeln.«

Emilia runzelte fragend die Stirn. »Wie genau sollen wir das anstellen?«

»Erst einmal musst du unterbinden, dass sie von Gladiatorenpferch zu Gladiatorenpferch gereicht wird. Kette sie an und lass niemanden zu ihr. Dann lass verbreiten, dass sie bei den nächsten Spielen in der Arena steht. Mach ein Spektakel daraus oder lass sie von wilden Tieren zerfleischen. Das ist mir gleichgültig, solange es ihren Bruder zum Handeln zwingt.«

»Danach ist sie aber tot«, protestierte Emilia.

»Es reicht, wenn sie ihren Zweck erfüllt.«

Emilia nickte verstehend. Sie hatte keine Ahnung, warum es ihrer Mutter nun so eilig war, aber ihr war es recht. Auch wenn sie ein klein wenig Wehmut dabei verspürte, ihren Plan dann nicht mehr umsetzen zu können. In den Tagen nach der Orgie hatte sie sich in bunten Farben ausgemalt, was sie tun würde, wenn sie beide Bastarde in ihrer Gewalt hatte. Doch ihre Mutter hatte recht, am Ende mussten sie ohnehin sterben, und wenn ein Arenaspektakel half, Said zu fassen, musste sie eben auf das Mädchen verzichten. Aus den Augenwinkeln sah sie Cherim, der einen Stuhl herangeschleppt hatte und nun abwartend verharrte. Mit einer ungeduldigen Handbewegung winkte sie ihn heran. Er schien noch bleicher als zuvor, aber sein Blick ging stumpf ins Leere.

»Ich kümmere mich darum«, versprach sie und schenkte ihrer Mutter ein Lächeln. »Unter einer Bedingung. Ich will einen Vogel.« Sie deutete auf den Käfig. »Den goldenen dort am liebsten. Mir gefallen seine Federn.«

Sie sah, wie ihre Mutter zögerte, aber sie wusste, dass sie ihr den Wunsch nicht abschlagen würde. Dafür waren ihr die Bastarde zu wichtig, und außerdem hatte sie ihr noch nie einen Wunsch abgeschlagen.

Tatsächlich nickte Gilia langsam. »Ich lasse meinen Sklaven kommen«, sagte sie. »Er weiß, wie man ihn einfängt.«

Amato

Die Schwüle lag über der Villa wie ein erstickendes Tuch. Vom Übungsplatz her drang Waffengeklirr zu seinem Fenster hinauf, sodass Amato kurz erwogen hatte, die Holzläden zu schließen, um den Lärm und die Hitze auszusperren. Es hätte jedoch nichts genutzt. Er konnte sich ohnehin nicht auf die Korrespondenz konzentrieren, und noch weniger auf die Listen, die Samana Cortez ihm vorgelegt hatte. Es ging um Verpflegung und Gerät für den Ludus, Papiere, wie er sie jeden Mond gegenzeichnete. Heute fiel es ihm jedoch schwer, seine Gedanken zusammenzuhalten und zu verstehen, was die Lanista vermerkt hatte. Dabei hatte er sich bewusst dazu entschlossen, sich den Unterlagen zu widmen, um Ablenkung zu finden. Doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab.

Amato wusste, dass es ein Fehler war, Said zu helfen. Es war nicht richtig, sich in die Belange der Bonareth und der Karinor einzumischen, die ihn nichts angingen. Aber er hätte nicht anders handeln können. Seit Said fort war, kreisten seine Gedanken immerfort um ihn und die Frage, wo er wohl war und ob es ihm gelang, den Häschern zu entkommen. Und ob er ihn wiedersehen würde.

Amato atmete aus und versuchte, die Gedanken von sich zu drängen. Er sollte sich von ihm fernhalten. Er war drauf und dran, sein Herz an einen Mann zu verlieren, den er kaum kannte. Der ihm fremd war, in seinem Wesen, seinem Denken, seinem Handeln, in allem. Dennoch beherrschte er seine Gedanken, und das, obwohl er seinen Verstand gerade jetzt aufmerksam und wach brauchte. Die Zeit verrann, und mit jedem Tag mochte die Verschwörung sich entschließen zuzuschlagen – wenn es denn tatsächlich eine gab. Manchmal fragte sich Amato, ob er sich dieses gewisperte Gespräch im Tempel nicht nur eingebildet hatte, ob es vielleicht nur ein Traumbild war, das ihm sein übermüdeter Geist vorgegaukelt hatte. Aber das würde er nicht herausfinden, wenn er hier herumsaß und seine Gedanken sehnsuchtsvoll hinab in die Stadt glitten.

Mit einem leisen Seufzen nahm er die Liste noch einmal auf und überflog die Einträge. Er stutzte, als sein Blick auf den letzten Punkt fiel, eine Anmerkung, die Cortez wohl nachträglich hinzugefügt hatte und in der die Lanista darum bat, den Wilden zurück in den Ludus zu holen.

Amato runzelte verwundert die Stirn. Bislang war er davon ausgegangen, dass der Nordländer unter der Arena gut aufgehoben war, wo man ihn in Eisen schlagen und sicher bewachen konnte. In seinem Ludus genossen die Gladiatoren sehr viel mehr Freiheiten, und er war nicht sicher, ob der Wilde schon dafür bereit war. Die Tulamidin, die er getötet hatte, war ein schwerer Verlust gewesen, und auf weitere Opfer konnte Amato gut verzichten. Vielleicht hätte diese Sklavin mäßigend auf ihn eingewirkt, die sich in der Arena so entschlossen vor den Nordländer gestellt hatte. Es war augenscheinlich gewesen, dass der Wilde etwas für das Mädchen empfand. Allerdings hatte sich Emilia Bonareth geweigert, sie ihm zu verkaufen, sodass es womöglich besser war, ihn hierherzuholen, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Amato seufzte. Es war einfacher gewesen, als der Nordländer noch ein namenloser Sklave gewesen war. Jetzt war er ein Held, den er nicht mehr leichtfertig aufs Spiel setzen konnte. Ihn zu hassen, brachte Reto nicht zurück.

Amato nahm einen Schluck Wein, und griff dann nach Feder und Tintenfass, um seinen Namenszug unter Cortez’ Auflistung zu setzen. Die Lanista war ein Glücksgriff, denn anders als ihr Vorgänger wusste sie nicht nur Kämpfer auszubilden, sondern ebenso den Ludus zu führen, ohne dass Amato ständig eingreifen musste. Und sie hatte eine gute Hand für Gladiatoren. Wenn sie der Meinung war, dass der Nordländer hier besser aufgehoben war als in dem Pferch unter der Arena, dann wollte er ihr glauben.

Etwas zufriedener legte Amato das Papier beiseite und warf einen Blick auf das letzte Schreiben, das sein Sekretär bereitgelegt hatte. Er hob irritiert eine Augenbraue, als er das Siegel erkannte, das eine prachtvolle Krone zeigte: das Zeichen Goldo Paligans.

Ein ungutes Gefühl machte sich in seinem Magen breit, während er auf das Schreiben starrte und mit sich rang, ob er es wirklich öffnen sollte. Dass Goldo ihm sein Wohlwollen entzogen hatte, war spätestens mit Esmeraldos Ankunft offenkundig, und das Oberhaupt des Hauses Paligan tat nichts ohne Grund. Wenn er ihm nun schrieb, dann sicher nicht, um ihm zum bevorstehenden Tsatag zu gratulieren.

Amato wog den Brief einen Moment lang unschlüssig in der Hand, ehe er sich ein Herz fasste und das Siegel brach. Es waren nur wenige Zeilen, die sein Großonkel ihm geschrieben hatte. Der Tonfall, in dem Goldo sein Missfallen über den Tod des Schwarzen Schreckens mitteilte, war gewohnt jovial, die unterschwellige Drohung jedoch kaum zu überlesen. Amato solle sich auf Gran Paligana einfinden, und auch, wenn das Wort ›unverzüglich‹ nicht ausdrücklich erwähnt wurde, schwang es doch in jedem Satz unüberhörbar mit.

Amato ließ das Schreiben sinken. Von draußen klang immer noch das Scheppern der Waffen und Rüstungen und zerriss die träge Stille des späten Nachmittags. Wenn er heute aufbrach, konnte er vor Mitternacht die Plantage erreichen, mit einem Pferd vielleicht sogar noch eher. Er musste nur Ismene rufen, um das Notwendige zu veranlassen. Die Cortez hatte die Unterschrift auf ihrer Liste, sie würde ihn die nächsten Tage nicht brauchen. Wenn er zurückkehrte, musste er sich womöglich keine Gedanken mehr um eine mögliche Verschwörung machen, weil Goldo ihn zurückstoßen würde in die Bedeutungslosigkeit, aus der er ihn damals erhoben hatte, als Amato seine Wahl in den Rat der Zwölf mit nemekathäischen Tempelfriesen erkauft hatte. Der Tod des Gladiators bot seinem Großonkel die Gelegenheit, das Spiel vor der Zeit zu beenden. Seine Figuren hatte Goldo bereits in Stellung gebracht, es bedurfte nur dieses einen, letzten Zuges, den Amato in den letzten Wochen und Monden so oft ersehnt hatte. Und doch, in seinem tiefsten Innern wusste er, dass dieser Ausweg falsch war.

Er spürte, wie seine Finger das Papier umschlossen und es langsam zerknüllten. Amato hatte die Wahl, er konnte sich dafür entscheiden, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Der Bastard hatte recht, er war ein Grande, kein Sklave. Er konnte gestalten oder sich Goldo ergeben und mit eingezogenem Schwanz in Bedeutungslosigkeit versinken. Doch dafür hatte Marbo ihn nicht erwählt und von den Gestaden des Nirgendmeeres zurückgeholt.

Amato erhob sich und trat um den Schreibtisch, um den silbernen Leuchter mit den Ölleuchten zu erreichen. Das Papier fasste augenblicklich Feuer, als er es in die Flamme hielt. Mit starrem Blick sah er dabei zu, wie sich der Brand durch das Schreiben fraß und Goldos Worte verschluckte. Es war keine Antwort, die einem Goldo Paligan gefallen würde. Aber es war die einzige, die er ihm geben konnte.

DSA: Rabenbund

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