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III

Inion

Mit gesenktem Kopf schritt Inion neben Verno her, der den düsteren Gang entlanghumpelte. Fackelschein brach sich in den gemauerten Wänden, wo man mit Ziegeln und Bruchstein Mauern in die unterirdischen Katakomben gezogen hatte. Raue Stimmen und das Knallen einer Peitsche drangen von irgendwoher. Der Gestank nach Schweiß, Ruß und den Ausdünstungen wilder Tiere hing in der Luft und machte das Atmen unangenehm. Inion blickte starr vor sich hin, während sie auf das Tappen ihrer bloßen Füße lauschte. In den ersten Tagen hatte sie noch die Zeit zwischen dem Einschlafen und Hochschrecken gezählt, um sich in dieser düsteren Welt ohne Praiosscheibe und Madamal nicht zu verlieren. Sie hatte an den Garten auf der Plantage gedacht, den Duft der regennassen Blüten und den Dunst, der von den Blättern aufstieg, wenn das Sonnenlicht sie traf. Doch das alles schien in eine Welt zu gehören, die es nicht mehr gab. Inzwischen hatte sie jedes Gefühl dafür verloren, wie viel Zeit vergangen sein mochte, seitdem man sie in die Katakomben der Arena gebracht hatte. Manchmal hatte sie Hunger, meistens nicht, und wenn niemand sie zu sich rief, um seine Lust an ihr zu stillen, half sie den Sklaven beim Austeilen des Reisbreis und versuchte, nicht aufzufallen. Wenn sie keine Aufmerksamkeit auf sich zog, war sie in Sicherheit, ein Schatten, der mit der Düsternis verschmolz. Es war erschreckend, wie schnell sie gelernt hatte, dieser Schatten zu sein. Doch noch erschreckender war der Tag gewesen, an dem sie sich kaum mehr an den Duft der regennassen Blüten erinnern konnte.

»Ich werde behaupten, dass ich dich gesucht habe.« Verno senkte die Stimme, während er sich dichter an sie heranschob. Sein säuerlicher Atem strich über ihre Wange. »Die Gänge sind unübersichtlich, da kann man sich schon einmal verlaufen. Der Wilde wird es verkraften, und wenn du ein bisschen nett zu mir bist, muss es niemand wissen.«

Inion verengte die Augen, aber sie sagte nichts, sondern schritt schneller aus, um den hinkenden Gehilfen hinter sich zu lassen. Verno war eine Ratte, die sich geschickt verbarg und nur dann hervorkroch, wenn sie leichte Beute witterte. Zum Glück war er auch feige, sodass er es bislang nicht gewagt hatte, sie anzurühren, aber Inion ekelten die hungrigen Blicke, mit denen er sie maß. Es waren solche Momente wie diese, in denen sie unendlich dankbar war, dass es Ceibhin gab. Seit seinem Sieg in der Arena galt er in den Katakomben als Held, und das erlaubte ihm, Inion jederzeit zu sich zu rufen. Sie verstand immer noch nicht, warum er es tat, aber sie war dankbar, bei ihm sein zu können. Meistens saß sie stumm an das Gitter gelehnt, während er von seiner Heimat im Norden erzählte. Er tat ihr nicht weh, und das war mehr, als sie hier unten erwarten durfte.

Verno murmelte etwas, während er ihr folgte, ohne einen weiteren Versuch zu unternehmen, sie anzufassen. Dennoch war Inion erleichtert, als sie endlich den Pferch erreichten, in dem der Nordländer untergebracht war.

»He, Wilder!« Verno löste den Schlüssel von seinem Gürtel und schob sich an Inion vorbei. »Ich habe dir was mitgebracht. Kannst froh sein, dass sie gerade kein anderer haben wollte.« Es machte ein hässliches Geräusch, als er den Schlüssel im Schloss drehte und die Gittertür aufzog. »Lass sie ganz, hörst du? Sonst wird die Herrin wütend, und dann wirst du dir wünschen, nicht geboren worden zu sein.«

Inion sah, wie sich der rothaarige Krieger auf dem Lager aufrichtete. Noch immer trug er Ketten an Händen und Füßen, und das war vermutlich der einzige Grund, weshalb sich dieses hinterhältige Wiesel Verno überhaupt so weit vorwagte.

Ihr Herz klopfte schneller, als sie an Verno vorbei in die Zelle trat, um zu verhindern, dass er den Nordländer noch mehr reizte. Ceibhin hatte ihr zwar nie etwas getan, aber sie wusste nicht, ob es ihr tatsächlich gelingen würde, ihn zu beschwichtigen, wenn er die Beherrschung verlor.

Tatsächlich entspannte sich Ceibhins Haltung ein wenig. Im düsteren Zwielicht schien es fast, als streiche ein flüchtiges Lächeln über seine Lippen.

»Verschwinde«, grollte er mit seinem harten Akzent an Verno gewandt. »Oder ich schlage dir den Schädel ein.«

»Das käme deinem Herrn teuer zu stehen.« Er verzog den Mund zu einem abfälligen Grinsen. »Sei vorsichtig, Wilder. Auch Helden können sterben. Manche haben das Glück, vor den Augen des Publikums zu fallen. Andere ... krepieren hier unten, einfach so, ohne dass es jemand mitbekommt.«

»Willst du mir drohen?«

»Drohen?« Verno stieß ein meckerndes Lachen aus. »Manche Dinge geschehen hier unten einfach. Da schaut jemand einmal nicht hin und schon ...« Vernos Fuß schnellte vor und stieß den Krug um, der neben der Pritsche auf dem Boden stand. Mit einem dumpfen Geräusch kippte er zur Seite, sodass sich das Wasser mit einem Schwall in das Stroh ergoss.

»Du elendes Stück Ogerscheiße!« Ceibhin sprang auf, aber Verno war bereits wieder an der Tür, ehe der Nordländer ihn zu fassen bekam.

»Pass auf, was du tust, Wilder«, höhnte der Gehilfe. »Du hast dir hier unten eine Menge Feinde gemacht. Und du kannst nicht immer bei deinem Mädchen sein. Ich hörte kürzlich, wie die Florios-Gladiatoren darüber sprachen, was sie mit ihr machen wollen, wenn sie an der Reihe sind.« Er bleckte die Zähne in einem boshaften Grinsen. »Das willst du vermutlich gar nicht wissen, aber die Letzte, bei der sie das gemacht haben, ist dabei verendet.«

Ceibhin warf sich in seine Ketten, die bedenklich knirschten. »Du elende Kreatur, wage es nicht, sie anzufassen! Verno lachte nur und zog die Gittertür hinter sich zu. Der Schlüssel quietschte im Schloss, dann humpelte er ohne Eile davon. Inion hörte ihn noch, wie er mit einem der herbeieilenden Gardisten sprach, ehe sich seine Schritte in den Gängen langsam verloren.

»Diese Sumpfranze!« Ceibhin riss noch einmal an den Ketten. »Wenn ich hier rauskomme, werde ich ihm das Genick brechen!«

»Sie werden mir nichts tun.« Inion hob die Hand, zögerte einen Moment, ehe sie sie vorsichtig auf seinen Oberarm legte. Ihr Herz pochte, dass sie meinte, es müsste zerspringen, als Ceibhins Blick sie traf und sie einen Wimpernschlag lang dieses dunkle Lodern darin erkannte, das auch dagewesen war, als er den Schwarzen Schrecken erschlagen hatte. Doch dann senkte er den Kopf, und sie spürte, wie die Anspannung mit einem stummen Seufzer von ihm abfiel.

»Sei dir nicht so sicher«, sagte er, während er sich abwandte und auf die Pritsche fallen ließ. »In ihren Augen bist du eine Sklavin, eine Hure. Wenn sie dich auf diese Weise umbringen wollen, werden sie es tun. Und solange ich hier festgekettet bin, kann ich nichts dagegen ausrichten.«

»Sie werden mich nicht umbringen.« Inion ließ sich an den Gitterstäben nieder und schlug die Arme um die angewinkelten Beine. »Das wissen sie.«

»Tatsächlich?« Er stieß einen trockenen Laut aus, der entfernt an ein Lachen erinnerte. »Hier wird so viel gestorben. Warum sollten sie ausgerechnet vor dir Halt machen?«

»Weil ... meine Herrin mich braucht.« Inion biss sich auf die Lippen, zögerte kurz, ehe sie leise weitersprach. »Sie braucht mich als Köder, um meinen Bruder zu fangen.«

»Du hast einen Bruder?« Der Nordländer drehte überrascht den Kopf, sodass er sie ansehen konnte. »Du hast noch nie etwas von ihm erzählt.«

»Du hast mich nicht gefragt.«

Ceibhin runzelte die Stirn. »Was will deine Herrin von ihm?«

»Ich habe meinen Bruder seit Jahren nicht mehr gesehen. Aber sie hoffen wohl, ihn herlocken zu können. Wahrscheinlich wird sie ihn umbringen, wenn sie ihn in die Finger bekommt. Und mich dann auch.« Inion starrte vor sich auf das schmutzige Stroh, das in der Wasserlache schwamm. Die Gewissheit war unumstößlich, sodass sie aufgehört hatte, deswegen zu verzweifeln. Wenn kein Wunder geschah, würde Emilia Bonareth sie früher oder später ohnehin töten lassen. Ihren Glauben an Wunder hatte sie spätestens in dem Moment aufgegeben, als die Gladiatoren das erste Mal über sie hergefallen waren. »Es ist gleichgültig, was mit mir geschieht«, sagte sie leise und zog die Arme enger um die Knie.

»Ich kann nur beten, dass sie ihn nicht erwischen.«

»Es ist nicht gleichgültig.« Ceibhin schüttelte aufgebracht den Kopf. »Du gehörst hier nicht her, kleine Elfe, und ich werde alles daransetzen, dich vor diesen Aasgeiern zu beschützen.«

»Nein! Du musst aufhören, sie zu reizen. Sie werden dich töten! Verno ... sie hassen dich, weil sie Angst haben.«

»Das sollen sie erst einmal versuchen.« Ceibhin schnaubte abfällig. »Ich kenne solche Ratten wie diesen Krüppel. Sie wagen sich nicht aus der Deckung, solange man wachsam ist. Ich werde ihm sicher keine Gelegenheit geben, mich zu überraschen.«

»Du bist nicht in deiner Heimat. Er wird dir nicht offen entgegentreten, sondern ...« Inion verstummte, als sich Ceibhins Kiefer plötzlich spannten und er sich aufrichtete. Hastig sah sie sich um und entdeckte nun auch die Gestalten, die sich dem Pferch näherten. Ihr Herz tat einen erschrockenen Sprung, als sie den blassen Granden erkannte, dem sie sich in den Weg gestellt hatte. Er wurde von zwei Gardisten begleitet und einer breitschultrigen Frau, die sich mit undurchsichtiger Miene hinter ihm aufbaute, als er an das Gitter herantrat. Wachsam hielt sie Ceibhin im Blick, eine gedungene Beschützerin wahrscheinlich.

Die Miene des Nordländers hatte sich verdüstert, als er sich langsam erhob. Die Ketten, die ihn von der Tür fernhielten, rasselten leise, aber der Grande machte keine Anstalten, den Pferch zu betreten. Stattdessen musterte er den Gladiator durch die Gitterstäbe hindurch. Auf einen Wink hin trat einer der Gardisten heran und reichte ihm einen Schlüssel.

»Was wollt Ihr?« Ceibhins Stimme klang misstrauisch, wie das unterschwellige Knurren eines wilden Tiers. Seine Augen taxierten den Granden. »Heute ist kein Kampftag.«

»Ich weiß.« Der Anflug eines Lächelns strich über die ebenmäßigen Züge des Granden, schwand aber gleich wieder. »Meine Lanista befand, dass es Zeit sei, dich zurück in den Ludus zu holen. Du warst lange genug hier unten, um zu verstehen, dass es leichter ist, sich anzupassen.«

»Ach, tue ich das?« Ceibhin bleckte die Zähne. »Und wenn ich Euch verspreche, dass ich Euch die Kehle zudrücken werde, sobald Ihr auch nur einen Fuß in diese Zelle setzt?«

»Ich könnte es dir nicht verdenken. Es wäre dennoch dumm.« Der Schlüssel kreischte im Schloss. »Wenn es nach mir ginge, würde ich dich an die Krokodilpfähle binden lassen. Aber die Götter sind mit dir, und die Fana lieben dich, sodass es mir nicht zusteht, selbstgefällig über dich zu richten. Ich biete dir die Möglichkeit, frei zu sein, wenn du mir gut dienst. Das Volk will dich sehen, also wirst du ihm geben, wonach es verlangt. Meine Lanista gibt dir den letzten Feinschliff, und dann wirst du noch einmal in der Arena siegen. Sollte dir ein weiterer Sieg gelingen, werde ich dich freilassen, und du kannst gehen, wohin zu willst. Auch in deine Heimat, wenn es dein Wunsch ist.«

»Meine Wünsche gehen Euch nichts an.« Ceibhin verengte die Augen, als die Tür aufschwang. Die Muskeln unter dem groben Hemd spannten sich. »Ihr seid tatsächlich so töricht zu glauben, mich kaufen zu können?«

»Ich will dich nicht kaufen.« Der Grande machte einen Schritt vor, hielt aber inne, als die Beschützerin einen zischenden Laut von sich gab. »Am liebsten wäre ich dich eher heute als morgen los. Doch du weißt vermutlich selbst, dass das nicht möglich ist. Die Fana wollen dich kämpfen sehen. Sie werden meinen Kopf fordern, wenn ich sie um ihr Vergnügen brächte.«

»Vergnügen.« Ceibhin spie aus. »Es ist widerlich, dieses unsinnige Schlachten Vergnügen zu nennen. Aber es passt zu Euch und dieser verdorbenen Stadt. Ihr nehmt Euch, was Ihr wollt, ohne danach zu fragen, welchen Preis es haben mag. Ihr verkauft Menschen wie Vieh, gebraucht sie und werft sie weg, wenn Ihr ihrer überdrüssig seid. Ein Leben ist Euch doch nicht mehr wert als das Seidentuch, das Ihr Euch vors Gesicht drückt, um den Gestank des Elends nicht ertragen zu müssen! Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass ich in Euren verfluchten Ludus zurückkehre und die Kleine den Ratten hier unten überlasse? Nur, damit Euch die geifernde Masse zujubelt, wenn ich in der Arena um mein Leben kämpfe?«

Das Gesicht des Granden verhärtete sich. »Ich glaube kaum, dass du auch nur eine Ahnung davon hast, was mich bekümmert. Im Übrigen habe ich Donna Emilia Bonareth ersucht, mir das Mädchen zu überlassen, an dem du so viel Gefallen zu haben scheinst. Bedauerlicherweise hat sie abgelehnt, sie zu verkaufen.«

»Und Ihr habt natürlich sofort nachgegeben?« Ceibhin schüttelte abfällig den Kopf. »Wollt Ihr wissen, was sie hier unten mit ihr machen? Wollt Ihr es wirklich wissen?«

»Bitte.« Inion hatte nicht laut gesprochen, aber es reichte aus, um die Aufmerksamkeit des Nordländers auf sich zu ziehen. Stumm schüttelte sie den Kopf und betete, dass er verstand, ehe er etwas Unbedachtes sagte.

»Ich kann nichts tun«, sagte der Grande. Seine Stimme klang ungewohnt hart. »Wenn du unbedingt hier unten bleiben willst, gut. Lanista Cortez wird dich morgen aufsuchen und mit dir wegen des kommenden Kampfes sprechen. Ich wäre damit zufrieden, wenn du ihr wenigstens zuhören würdest. Die gnädige Marbo mit dir. Möge sie dich auf deinem Weg leiten.«

»In die Niederhöllen mit Euch!« Ceibhin packte den Krug und holte aus, um ihn nach dem Paligan zu schleudern, aber die Gittertür schloss sich bereits wieder hinter ihm. Die Beschützerin warf ihm noch einen warnenden Blick zu, ehe auch sie sich abwandte und ihrem Herrn folgte.

Mit einem Fluch ließ sich Ceibhin wieder auf die Pritsche fallen und warf den Krug ins Stroh. Inion betrachtete ihn stumm, während sich der grobe Stoff über seinen Schultern spannte, als ringe er mit sich, aufzuspringen und die Fesseln kurzerhand zu zerreißen. Doch dann drehte er den Kopf ein wenig, und seine hellen Augen unter den dichten Brauen fanden ihren Blick. »Warum hast du dich eingemischt?«

Inion zog das Kinn tiefer auf die Brust und zuckte mit den Schultern. »Es hätte keinen Unterschied gemacht«, sagte sie leise. »Er weiß es doch. Er muss es wissen, wenn er nicht blind ist. Schließlich ... wollte er mich für dich kaufen.«

Sie sah, wie der Nordländer tief Luft holte. Aber er widersprach ihr nicht, sondern ließ den Kopf zurücksinken und fuhr mit der Hand durch das verfilzte Haar. »Er hätte es tun sollen«, murmelte er. »Verdammt, er hätte es tun sollen. Ich kann dich nicht länger schützen, wenn sie mich hier rausholen.«

Inion nickte stumm.

Said

Unbarmherzig brannte die Sonne auf die Hänge des Visra nieder. Dunst hing zwischen den Felsen und den niedrigen Büschen, die auf dem dunklen Geröll Halt gefunden hatten.

Said stützte sich auf einen Stecken, den er auf seinem Weg durch die Hüttenansammlungen außerhalb der Stadtmauern aufgelesen hatte. Schweiß rann ihm über Stirn und Schläfen, während er beharrlich einen Fuß vor den anderen setzte. Noch nie war ihm der Weg nach Travinaia so weit vorgekommen. Die Erschöpfung fraß an ihm, Schwindel griff nach seinem Geist, ließ helle Punkte vor seinen Augen tanzen, während er sich zwang weiterzugehen. Der Paligan hatte recht gehabt, es war Wahnsinn gewesen zu gehen, solange er nicht wieder bei Kräften war. Schon bei dem Zusammentreffen mit Rurescha hatte er mehr Glück als Verstand gehabt, dass der Maraskanerin die letzte Entschlusskraft fehlte, die man brauchte, um zu töten. Vielleicht war es doch Zuneigung gewesen, vielleicht auch jene Schwäche, die Meister Darjin davon abgehalten hatte, sie in die letzten Geheimnisse einzuweihen. Ihr Verrat schmerzte. Er hatte gehofft, dass sie wieder zueinanderfänden, wenn alles vorbei war. Doch dafür war es nun zu spät.

Schweiß brannte in seinen Augen, sodass er sie gegen die gleißende Sonne zusammenkniff. Sein Blick glitt weiter zu dem verlockenden Schatten des nahen Dschungels, der sich vielleicht hundert oder zweihundert Schritt hangabwärts wie eine grüne Wand über den schwarzen Felsen schob, und einen Moment lang war er versucht, es zu wagen. Aber der Dschungel war tödlich, wenn man nicht auf der Hut war, und in seinem Zustand war er für die Räuber, die sich im Dickicht verbargen, eine zu leichte Beute.

Said schloss die Augen und sandte ein stummes Gebet zu Boron. Es war dumm gewesen, kopflos aus der Stadt zu fliehen, aber nun musste er es zu Ende bringen. Wenn er es zu Rahanez nach Travinaia schaffte, konnte er sich ausruhen, zu Kräften kommen und gemeinsam mit ihr darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte.

Schwerfällig setzte er sich wieder in Bewegung.

Er erreichte das Dorf in der Talsenke noch vor Sonnenuntergang. Seine Lunge brannte, und seine Beine zitterten vor Anstrengung, als er zwischen die heruntergekommenen Hütten trat und zielstrebig auf Rahanez’ Unterkunft zuhielt. Er spürte die Blicke, die ihn streiften, aber niemand beachtete ihn weiter, während er auf den Stecken gestützt an den Feuern vorbeihumpelte. So abgerissen und erschöpft hielt man ihn vermutlich selbst für einen jener Rattenmenschen, die an diesem Ort Zuflucht fanden. Said war es recht, denn das letzte, was er wollte, war unnötige Aufmerksamkeit.

Rahanez’ Hütte lag verlassen da. Said runzelte die Stirn, während er die letzten Schritte hinter sich brachte. Drei Tage hatte sie ihm gegeben, die natürlich längst vergangen waren. Dennoch hatte er darauf gehofft, sie hier anzutreffen. Vorsichtig klopfte er mit dem Stecken gegen den Türpfosten und lauschte, ob sich drinnen etwas regte.

»Sie ist nicht hier.«

Said zuckte zusammen und warf einen erschrockenen Blick über die Schulter. Unwillkürlich zog er das schmutzige Tuch tiefer ins Gesicht, das er zum Schutz gegen Sonne und neugierige Blicke um Kopf und Schultern gewunden hatte, als er den alten Mann erkannte, der sich ihm unbemerkt genähert hatte. Faltige Mundwinkel hoben sich unter dem dürren Bart zu einem Lächeln, während er ihm aus einem vom Leben gezeichneten Gesicht freundlich entgegenblickte. Unter der lederartigen Haut zeichneten sich die krummen Knochen scharf ab. Die Hände hatte er auf einen knorrigen Stock gestützt, der mit zahlreichen ehemals bunten Bändern umwickelt war.

Said drehte sich langsam um, die Sinne mit einem Mal bis zum Reißen gespannt. »Ich kenne dich irgendwoher«, stellte er fest.

Der Alte nickte. »Du hast gelauscht, als ich die Geschichte erzählt habe, die sie so gerne hören.«

»Manakus.« Said verengte die Augen. »Du hast am Feuer gesessen.«

»Das ist richtig. Und du suchst schon wieder die Frau, die hier lebt.«

»Rahanez.« Said fasste seinen Stecken fester, während sein Blick wachsam zur Seite huschte. »Weißt du, wo sie ist?«

»Gut möglich.« Das Lächeln des Alten schwand. Er wandte sich ab. »Komm mit.«

Said öffnete den Mund, um nach Wohin und Warum zu fragen, aber er schloss ihn, weil er ohnehin keine Antwort erhalten würde. Wenn der Geschichtenerzähler ihm Auskunft geben wollte, dann hätte er es bereits getan, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als ihm zu folgen.

Der Alte führte ihn zu einem Gebäude, das sich etwas abseits von den anderen an den Hang der Senke schmiegte. Stützpfosten und Streben aus Dschungelholz trugen ein Dach aus Palmwedeln, das erstaunlich intakt schien. Von der Decke und den Querbalken hingen zahlreiche Schnüre, an denen verschiedene Kleinodien befestigt waren: Muschelschalen, bunte Federn, Knochen, Glasscherben und sogar durchbohrte Münzen, die der Wind sanft hin und her bewegte, sodass ein leises, unaufhörliches Klimpern diesen Ort erfüllte. Die Pfeiler waren mit Stofffetzen und altenBlumen umkränzt, ganz so, wie man es aus den Tempeln in der Stadt an hohen Feiertagen kannte. Doch wo der Tempelschmuck nicht mit Gold und leuchtenden Bändern geizte, war der Stoff hier ausgeblichen und die Blumen teils verfault, als kümmerte es niemanden, dass die Gaben mit der Zeit ihren Glanz verloren.

Said verlangsamte seine Schritte, blieb schließlich stehen. »Das ist ein Götterschrein«, stellte er verblüfft fest.

Der Alte schmunzelte nur und trat in den Schatten des Palmwedeldachs. Said seufzte ergeben und humpelte hinter ihm her. Selbst eine Emilia Bonareth konnte kaum so unverfroren sein, dass sie ihm an einem Ort der Götter einen Hinterhalt stellte. Behutsam schob er die Schnüre mit den Geschenken beiseite und blinzelte in das Zwielicht der Hütte, die sich an der Stirnseite an den Berghang anschmiegte und in eine halbrunde Höhle überging. Das Licht einer Öllampe schimmerte auf der blanken Oberfläche einer Holzstatue, die mit ausgebreiteten Armen in der Felsnische stand. Blumengewinden lagen zu ihren Füßen und wanden sich um Schultern und Hals der Göttin, die Said mit einigem Erstaunen als Travia erkannte.

»Die gütige Herrin wacht über diesen Ort.« Der alte Geschichtenerzähler lächelte sacht und ging in die Knie, um zu beten. Said tat es ihm gleich, auch wenn er nicht recht wusste, welche Worte er an die Göttin richten sollte. Travia war die Göttin des heimischen Herdfeuers, der Familie und der Treue, all jener Dinge, die er nie gehabt hatte. Doch diesen Menschen hier schenkte sie ihren Segen, gab denen ein Zuhause, die sonst nirgendwo willkommen waren. Mit einem Mal erinnerte Said sich wieder an das Strahlen in den Augen der Zuhörer, als der alte Mann seine Geschichten erzählt hatte, an das freundliche Angebot, sich dazuzusetzen, obwohl sie ihn nicht kannten und nicht wussten, was ihn hierher verschlagen hatte. Es war ein seltsamer, aber guter Ort, der etwas barg, was Al’Anfa niemals haben würde. Frieden.

Der Alte neben ihm bewegte sich und nahm einen Krug, der mit einer Tonscherbe bedeckt war. Bedächtig schenkte er eine goldgelbe Flüssigkeit in einen Becher und reichte ihn Said.

Unter anderen Umständen hätte Said gezögert und Ausflüchte gefunden, nicht zu trinken, aber er verspürte keine Furcht. Der Mann würde ihn nicht vergiften. Es war eine Geste der Gastfreundschaft, die er dankend annahm. Der Saft schmeckte süß auf der Zunge, angegoren und mit einer leichten Schärfe, die aber erstaunlich erfrischend war. Der Alte trank ebenfalls, nachdem Said ihm den Becher zurückgegeben hatte, und goss den Rest in eine flache Schale zu Füßen der Statue, in der noch die getrockneten Überreste vormaliger Trankopfer klebten. Die üblichen Schwärme Fliegen und anderer Insekten fehlten jedoch, als wüssten auch sie, dass dieser Nektar der Travia gehörte.

Der Geschichtenerzähler erhob sich ächzend und bedeutete Said mit einer Geste, ihm nach draußen zu folgen. Die Sonne war inzwischen hinter den Gipfeln des Regengebirges verschwunden, sodass sich Dunkelheit über die Senke gelegt hatte, die nur vom Schein der verschiedenen Kochfeuer durchbrochen wurde. Die Geräusche des Dschungels klangen nun sehr nah, und von den Hütten schwebte ein eigentümlicher, schwermütiger Gesang den Hang empor. Der Alte humpelte ein Stück bis zu einem Felsbrocken, auf dem er sich niederließ. Auffordernd klopfte er neben sich und nestelte aus seinem Beutel eine geschnitzte Pfeife und etwas Mohacca, das er in ein schmutziges Tuch eingeschlagen hatte. Said wartete geduldig, bis er das Rauchwerk gestopft und mit einem Stück alten Eisens entzündet hatte. Würziger Rauch stieg wenig später von dem knorrigen Pfeifenkopf auf, und der Alte lehnte sich mit einem leisen Seufzer zurück.

»Ich kannte deinen Vater«, durchbrach er schließlich das Schweigen. »Er hat viel für uns getan. Für diesen Ort. Nicht nur mit Geld. Er hat Leute geschickt, die uns geholfen haben, die Hütten neu zu bauen. Sie haben die Zisterne angelegt, uns Reis gebracht, damit wir nicht hungern mussten. Das Leben ist besser geworden, damals.« Er lächelte, während er die Pfeife wieder zwischen die Lippen nahm und gedankenverloren auf die schäbigen Hütten in der Senke hinabblickte. »Viele hier verehren deinen Vater noch heute«, fuhr er nach einer kleinen Weile fort. »Als Heilsbringer und jemanden, der ihre Not gesehen hat. Die Schwarzen Garden kamen nicht her, als sie die Stadt gesäubert haben, sodass viele hier Zuflucht gesucht haben. Travinaia hat sein Gesicht verändert, seitdem. Es ist rauer geworden. Aber es steht unter dem Schutz der gütigen Herrin, und das sollten wir nicht vergessen.«

»Ich wusste nicht, dass mein Vater so viel auf Travia gegeben hat«, wandte Said zögerlich ein. Tatsächlich wusste er sehr wenig darüber, an was Aurelian geglaubt hatte, stellte er fest. Der Glaube an den Götterfürsten Boron gehörte in Al’Anfa dazu wie der Arenabesuch und das wohlgefällige Nicken bei der Flottenparade. Was seinen Vater jedoch wirklich bewegt hatte, wusste Said nicht. Er konnte nicht sagen, ob Aurelian Bonareth überhaupt vor irgendeiner Gottheit sein Knie gebeugt hatte, oder letztendlich der Frevler war, zu dem ihn die Verlautbarungen des Generals gemacht hatten.

Der alte Mann deutete ein Kopfschütteln an. »Die Leute haben es geglaubt, weil sie es glauben wollten. Aber dein Vater hat sie benutzt. Sie waren die Waffe, die er gegen seine Feinde führen konnte, indem er ihnen Hoffnungen gemacht hat.«

»Was ist daran falsch?« Said runzelte die Stirn. »Man sollte Hoffnung haben im Leben. Sonst unterscheidet man sich kaum von den Selemferkeln, die den Straßendreck durchwühlen. Wobei selbst das Schwein noch die Hoffnung hegt, in seinem nächsten Leben ein besseres Dasein zu erlangen«, fügte er mit einem flüchtigen Schmunzeln hinzu. Es war eine Eigenart der Maraskaner gewesen, in allem die Harmonie und die Schönheit der Welt wiederfinden zu wollen. Selbst in den mageren, langbeinigen Ferkeln, die Al’Anfas Unrat fraßen.

Der Geschichtenerzähler schmunzelte ebenfalls unter seinem schütteren Bart, ohne Said dabei anzusehen. »Hoffnungen sind gut. Aber es ist gefährlich, Hoffnungen zu wecken, die man nicht erfüllen kann. Oder will.« Er blickte auf die Pfeife in seiner Hand und reichte sie an Said weiter. »Dein Vater wusste, dass er mit den Hoffnungen nur spielen konnte. Er hatte niemals vor, sie wahr werden zu lassen. Die Ordnung der Welt lässt sich nicht mit ein paar Versprechen ändern. Auch das wusste er.«

Said nickte langsam, während er einen vorsichtigen Zug aus der Pfeife nahm. Das Kraut war gestreckt, aber stark genug, dass es den erdigen Geschmack nach getrocknetem Palmbast übertünchte. »Du redest, als seist du damals dabei gewesen«, sagte er, nachdem er die Pfeife zurückgegeben hatte. »Wenn du all das wusstest, warum bist du ihm trotzdem gefolgt?«

»Ich bin ihm nicht gefolgt«, sagte der alte Mann leise, und nun endlich sah er Said an. »Ich habe gesehen, was geschehen ist. Er war grausam denen gegenüber, die das Wort gegen ihn ergriffen haben und zweifelten, ob sein Weg der richtige war. Deshalb habe ich damals geschwiegen und habe zugesehen, wie sie in ihr Verderben gelaufen sind. Man kann Träume nicht aus Blut formen.«

Said runzelte die Stirn. Eindringlich hielt der Alte seinen Blick, dass er sich zwingen musste, ihm nicht auszuweichen.

»Warum erzählst du mir das alles?«, fragte er misstrauisch.

»Ich bin nicht mein Vater.«

»Ich habe mir geschworen, nicht noch einmal zu schweigen.« Der dürre Bart zitterte, als die Mundwinkel des Alten zur Seite zuckten. »Deshalb will ich wissen, warum du hier bist. Wirst du auch Verderben über diesen Ort bringen?«

»Wovon sprichst du?« Said schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht vor, hier irgendwem etwas zu tun. Ich bin hier, um Rahanez zu treffen.«

»Und sie will dich treffen.« Der alte Geschichtenerzähler nickte schwerfällig und zog seinen Beutel auf den Schoß, um darin zu wühlen. Er klang mit einem Mal müde und alt. »Ich habe eine Nachricht für dich. Sie wollte, dass ich sie dir gebe, wenn du hier auftauchst. Hier.«

Er zog zwei Holztafeln hervor, die mit einer dürren Schnur zusammengehalten wurden, und hielt sie Said hin. Doch ehe dieser danach greifen konnte, zog er sie noch einmal zurück. »Vergiss nicht, dass du den Trank der gütigen Herrin gekostet hast«, sagte er leise. »Vergiss es nicht.«

Said blinzelte verwirrt und ließ die Hand wieder sinken, die er bereits erhoben hatte. »Natürlich vergesse ich das nicht.«, antwortete er. »Ich danke dir dafür. Und für deine Worte.«

Der Alte nickte langsam und hob die ledrige Hand mit den Tafeln. »Travia schütze dich, Said«, sagte er mit einigem Zögern. Es klang nicht überzeugt.

Said konnte sich später nicht mehr daran erinnern, wie lange er durch die Dunkelheit gestolpert war. Er hatte das Band um die Tafeln gelöst, kaum dass der Alte gegangen war. Natürlich konnte jemand wie Rahanez nicht schreiben, sodass sich seine erste Enttäuschung rasch verflüchtigt hatte, als er sah, dass sie ihm anstelle einer Nachricht eine Art Karte hinterlassen hatte. Im ersten Moment war er versucht gewesen, noch in der Nacht aufzubrechen, aber sein geschwächter Körper und die Tatsache, dass er in der Finsternis an Wegmarken vorbeilaufen würde, ohne sie zu bemerken, hatten ihn davon abgebracht. Im Schutz des Traviaschreins hatte er ein paar Stunden Schlaf gefunden, ehe er sich im ersten Sonnenlicht mit knurrendem Magen auf den Weg gemacht hatte.

Die Anhaltspunkte auf der Karte waren nicht leicht zu entziffern und führten ihn geradewegs in den Dschungel hinein. Schon nach wenigen Schritten drang kaum noch ein Sonnenstrahl durch das Blätterdach der uralten Urwaldriesen. Ein unwirkliches Zwielicht lag zwischen den rauen Stämmen, an denen sich Lianen und andere Schlingpflanzen emporschlängelten. Dazwischen erhoben sich mannshohe Farne und Buschwerk mit ausladendem Blattwerk, auf dem noch die Feuchtigkeit der Nacht schimmerte. Affen und Urwaldvögel krakeelten auf den Ästen, das Surren und Zirpen unzähliger Insekten hing in der Luft wie das Raunen auf den Rängen an Arenatagen.

Trotz der Erschöpfung waren Saids Sinne bis zum Zerreißen gespannt, während er sich durch das dunkle Grün bewegte. Die Nadel hielt er in der Hand, während er mit der anderen den Stecken führte, mit dem er sich einen Weg bahnte. Schon bald war er am Ende seiner Kräfte, aber er wusste, dass er hier nirgends bleiben konnte. Er kannte den Dschungel der Stadt, in dem er untertauchen konnte, wie es ihm gefiel, Doch das hier war eine andere Art von Dschungel, genauso unberechenbar und tödlich, in dem er nicht der Jäger war, sondern die Beute.

So bemerkte er die Bewegung den Moment zu spät, den er gebraucht hätte, um noch zwischen den Farnen abzutauchen. Zwei heruntergekommene Gestalten standen plötzlich vor ihm, so unvermittelt, dass sie wohl auf der Lauer gelegen haben mussten. Schmutzige, vielfach geflickte Lumpen hingen ihnen von den Schultern, und in den Händen hielten sie Säbel, die an mehreren Stellen bereits Rost angesetzt hatten.

»Halt!«, schnarrte der Jüngere von ihnen unnötigerweise. Die Spitze seines Säbels zitterte vor Saids Nase. »Wer bist du?«

»Ich suche Rahanez.« Saids Stimme zitterte vor Anstrengung, und er hoffte, dass er sich in der ehemaligen Gladiatorin nicht getäuscht hatte. Wenn das eine Falle sein sollte, hatte er nach seiner Flucht und dem Marsch durch den Dschungel kaum noch die Kraft, sich ernsthaft zur Wehr zu setzen. »Sie hat mir eine Nachricht in Travinaia zurückgelassen. In meinem Beutel.« Er deutete mit einem Nicken auf die Tasche an seiner Seite. Die Hände mit dem Strecken und dem Dolch bewegte er lieber nicht.

Die beiden tauschten einen unsicheren Blick. »Woher sollen wir wissen, dass du uns nicht anlügst?«, fragte der Ältere nun misstrauisch. »Vielleicht bist du ja ein Spitzel der verfluchten Schwarzen Garden.«

»Die Garden hätten sicher jemanden geschickt, der besser zu Fuß ist als ich im Augenblick.« Ein bitteres Grinsen zuckte in seinen Mundwinkeln. »Bringt mich zu Rahanez, wenn ihr mir nicht glaubt. Sie kennt mich. Mein Name ist Said ... Said Bonareth.«

Der Jüngere warf einen fragenden Blick zu seinem Gefährten, der die Stirn runzelte und Said nun eingehender musterte. »Komm mit«, befahl er knapp. »Wenn du wirklich der bist, der du zu sein behauptest, wirst du bereits erwartest. Wenn du uns täuschst, werden wir dich töten.«

Said nickte ergeben und ließ zu, dass sich der Jüngere hinter ihn schob und ihm mit gewichtiger Miene folgte, während der Ältere voranging.

Sie hatten vielleicht hundert oder zweihundert Schritt hinter sich gebracht, als sich der Dschungel unvermittelt lichtete und sich vor ihnen eine Lichtung erstreckte. Verwilderte Felder ließen erahnen, dass es sich um eine ehemalige Plantage handelte, die man einst dem Urwald abgetrotzt hatte. Nun hatte die Wildnis einen Großteil des Landes zurückerobert und rückte an einigen Stellen bereits bis an die verbliebenen Gebäude heran, die verwittert und zerfallen nur noch erahnen ließen, wie es hier früher einmal ausgesehen haben mochte. Allerdings schien der Ort keineswegs verlassen. Dutzende abgerissene Gestalten lungerten zwischen den Ruinen herum und blickten ihnen neugierig entgegen, während sie auf das Hauptgebäude zuhielten, das noch am besten erhalten zu sein schien. Der Geruch von billigem Mohacca und Alphana hing in der Luft und der Rauch feuchter Kochfeuer.

Said spürte die Blicke, die ihm folgten, während er sich die Stufen hinaufquälte. Er war fast erleichtert, als der ältere seiner Führer ihm mit einer Geste zu verstehen gab zu warten. Schwer stützte er sich auf den Stecken und schloss einen Moment lang die Augen, um sich zu sammeln und gegen den Schwindel und das Zittern in seinen Knien anzukämpfen.

Als er sie wieder öffnete, stand Rahanez vor ihm. Die Gladiatorin schien gewachsen zu sein, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Nichts erinnerte mehr an die versoffene Frau, die in ihrer erbärmlichen Hütte hauste. Ein herrischer Zug lag um ihren Mund, als sie aufrecht vor ihm stand, die Schultern zurückgezogen wie ein General vor der Schlacht.

»Du kommst spät«, stellte sie fest.

Said richtete sich auf und sah ihr in die Augen. »Ich wurde aufgehalten.«

»Ich habe davon gehört.« Ihre Lippen kräuselten sich und formten ein vielsagendes Grinsen. »Leute erkundigen sich nach dir, sprechen deinen Namen aus. Das ist gut.«

»Es wäre besser, wenn meine Suche nach meiner Schwester Erfolg gehabt hätte.«

»Das wird sie. Wenn wir so weit sind. Ich habe die Zeit genutzt.«

»Das sehe ich.« Said warf einen Blick über die Schulter, wo die zerlumpten Gestalten inzwischen nähergekommen waren und sich abwartend um sie geschart hatten. Es waren mehr, als er im ersten Moment angenommen hatte, achtzig, vielleicht hundert, die ihn ansahen, misstrauisch manche, die meisten aber aufmerksam und gespannt, als erwarteten sie, dass er etwas tue oder sage.

»Sie sind bereits deinem Vater gefolgt«, hörte er Rahanez’ Stimme neben sich. »Jetzt sind sie hier, um dir zu folgen. Ich habe ihnen gesagt, dass es dich gibt, und dass du sie führen wirst, wie dein Vater es getan hat.«

»Du hast eine Armee gesammelt!«

»Noch sind wir keine Armee. Aber wir werden jeden Tag mehr.« Rahanez legte die Hand auf Saids Schulter und zwang ihn mit sachtem Druck, sich der Menge zuzuwenden, sodass er in die hageren Gesichter sah, die ihn erwartungsvoll anblickten. »Sie wollen Rache«, sagte sie leise. »Gib ihnen Blut, und du hast eine Klinge, die scharf genug ist, um jede Kette zu zersprengen. Sie haben auf dich gewartet. Bist du bereit, sie zu führen?«

Said holte Luft. Irgendwo in seinem Hinterkopf klangen noch die Worte des Geschichtenerzählers wider, aber er schob sie beiseite. Was wusste der alte Mann schon von Inion und der Falschheit einer Shantalla Karinor? Von dem Versprechen, dass Said seiner Mutter gegeben hatte und dem Verrat der Silberberger? Er hatte versucht, andere Wege zu gehen, aber er war gescheitert. Wenn er sein Schicksal in die Hand nehmen wollte, brauchte er eine Waffe, die stark genug war, dass man ihn fürchtete. Und diese Waffe hatte schon einmal den Silberberg mit Blut getränkt. Für einen kurzen Moment tauchte Amato Paligans Gesicht vor seinem geistigen Auge auf, doch er schob das Bild entschlossen beiseite. Die Gründe des jungen Granden, ihm zu helfen, waren nicht weniger egoistisch als die einer Shantalla Karinor oder eines Meister Darjin. Wenn er Inion retten und den Namen seines Vaters tragen wollte, durfte er keine Rücksicht mehr nehmen, sonst würde man ihn zerschmettern. Er würde ein Niemand bleiben, der Sklave, als der er geboren wurde.

»Ich bin bereit«, sagte er leise und straffte die Schultern. Mit einer harschen Bewegung schüttelte er Rahanez’ Hand ab und trat einen Schritt vor. »Ich bin bereit«, wiederholte er mit fester Stimme, die in die erwartungsvolle Stille lauter klang als erwartet, »euch zu führen. Wenn ihr bereit seid, mir zu folgen!«

Der ausbrechende Jubel verriet, dass die Klinge scharf war.

DSA: Rabenbund

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