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Meine geistig-moralische Wende

Mein Freund Ralf stammte aus einem stramm konservativen Haus, wie eigentlich fast alle meine Mitschüler und auch ich selbst. So war das eben, in den Achtzigern, in einem Vorort der schwarzen westfälischen Metropole Münster. Als 1982 die sozial-liberale Koalition zerbrach, standen wir am Beginn der Pubertät. Unser politisches Bewusstsein war noch äußerst begrenzt und beschränkte sich im Wesentlichen darauf, dass wir CDU waren, weil unsere Eltern auch CDU waren, und jeder in Münster war eigentlich CDU. Bis auf die ganz Wilden. Da waren manche auch SPD. Angeblich. Wir kannten aber niemand von diesen verruchten Typen. Es waren vermutlich dieselben, vor denen uns unsere Eltern immer eindringlich warnten, wenn sie sagten, wir dürften auf keinen Fall mit fremden Leuten mitgehen.

Erster Oktober 1982. In der Schule und in den Elternhäusern bekamen wir natürlich mit, dass sich da etwas Großes anbahnte. Die Aufregung übertrug sich auch auf uns, obwohl wir keinen blassen Schimmer von unechten Vertrauensfragen und Koalitionswechseln hatten. Aber, und noch heute bin ich etwas fassungslos, bei so etwas mitgemacht zu haben, Ralf rief anlässlich des Tags des konstruktiven Misstrauensvotums eine Party bei sich aus, denn es galt zu feiern, dass jetzt bald alles gut werde im Land und letztlich in der Welt. Die Probleme, von denen wir zwar keine sehr konkreten Vorstellungen hatten, aber von denen wir ahnten, dass es sie gab, diese Probleme jedenfalls würden jetzt alle gelöst werden.

Und so sahen wir nachmittags live, wie Helmut Schmidt aufrechten Ganges auf den in der ersten Reihe feixenden Helmut Kohl zuging, ihm die Hand gab und zur Wahl zum Bundeskanzler gratulierte, und wie kurz darauf, um 15:12 Uhr, Kohl, vor Zufriedenheit fast platzend, zur Kenntnis gab: »Herr Präsident, ich nehme die Wahl an.« Wir stießen darauf mit unseren Fanta-Gläsern an, während Ralfs Mutter zur Feier des Tages ein Tablett mit Negerküssen – die hießen damals noch so – ins Zimmer brachte. Ein rauschendes Fest also. So rauschend, dass mit zunehmendem Zuckerpegel im Blut die Hemmschwellen allmählich fielen. In Wirklichkeit, das brachte das Alter mit sich, waren die real existierenden Mädchen doch letztlich erheblich interessanter als das Duell der Helmuts im Fernsehen. Und diese Mädchen fanden wir seit kurzem nicht mehr grundsätzlich blöd wie noch vor den Sommerferien. Deren Gesellschaft war plötzlich irgendwie cool.

Was soll ich lang reden: An jenem Nachmittag geschah es. Es fing unschuldig an, mit einem Negerkuss, der Zuckerschaum an den Lippen von Martina, ihr albernes Kichern, das vorsichtige Streichen mit dem Finger über ihre Lippen, das Ablecken, das scherzhafte »jetzt schmier’ ich dir auch den Mund ein«. Schließlich küssten wir uns. Mit Zunge. Für mich war es das erste Mal. Mit Negerkussschaum auf den Geschmacksknospen und Helmut Kohl auf dem Bildschirm, der etwas von einer »geistig-moralischen Wende« erzählte. Womit er in meinem Fall eindeutig Recht hatte. Unzählige Male musste ich in den nächsten Monaten an diese erregende Situation zurückdenken. Und fortan richtete sich jedes Mal, wenn ich einen Negerkuss aß, mein winziges Glied keck ein wenig auf.

Martina, die wie Ralf in Münster-Amelsbüren wohnte und nicht auf unsere Schule ging, sah ich erst ein halbes Jahr später wieder. Kohl hatte die Sache mit der uneigentlichen Vertrauensfrage durchgezogen, und so standen Neuwahlen an. Erneut lud Ralf zu sich nach Hause, diesmal zum Abend, damit wir bei dem historischen Machtwechsel live dabei sein könnten. Eine echte Wahlparty also. Aber Helmut Kohl interessierte mich inzwischen einen Dreck. Denn Martina war da! Und: Es gab Negerküsse! Prickelnde Erotik lag also in der Luft, denn meine erste gemeinsame Nacht mit Martina stand bevor – ich würde erst um neun abgeholt werden.

Wir saßen vor dem Fernseher, und ich hatte mich im Lauf des Abends allmählich so vorgearbeitet, dass ich pünktlich zur Prognose wieder neben Martina auf dem Sofa saß. Der Balken für die Union kletterte auf unglaubliche 48 %, wir jubelten. Helmut Kohl dankte für das Vertrauen, das ihm die Deutschen entgegengebracht hätten, wir ließen die Negerküsse kreisen. Graf Lambsdorff hinkte durchs Fernsehstudio, Martina biss herzhaft in einen hinein. Meine kühnsten Träume schienen wahr zu werden. Helmut Schmidt zog traurig an seiner Pfeife, wir sogen glücklich an unseren Mündern.

Schließlich zog Martina mich unauffällig in den benachbarten Spielkeller. Wir verkrochen uns hinter einigen Kisten mit Playmobil, die schon lange niemand mehr ausgepackt hatte, und hier, ganz ungestört, knutschten wir weiter. Und weiter. Und weiter. Allmählich legte sich die erste Euphorie bei mir. Dafür wurde mir zunehmend klar, dass ich nicht die geringste Vorstellung davon hatte, wie das hier weitergehen sollte. Die Situation machte mir Angst. Plötzlich zog Martina den Reißverschluss meiner Hose auf. Ich war starr vor Schrecken. Sie wühlte ein bisschen in meiner Hose herum, dann legte sie, sorgfältig wie ein Chirurg bei der Operation, meine kleine Erektion frei. Und sah mich überrascht an. Und lachte laut auf. »Da ist ja noch gar nichts!«, kicherte sie, »du hast ja noch nicht mal Haare!« Auf der Stelle verlagerte sich mein gesamtes Blut in den Kopf, für den Unterleib waren da leider keine Kapazitäten mehr frei. Das kleine Stängelchen schrumpelte in sich zusammen, da half auch nichts, dass ich protestierend darauf hinwies, dass da sehr wohl schon Haare seien: »Hier! Guck doch!«, und ich zog das T-Shirt ein bisschen höher, damit sie freie Sicht hatte auf den zarten, zu allem Überfluss auch noch hellblonden Flaum, auf den ich so stolz gewesen war in den letzten Wochen, aber sie schüttelte nur lachend mit dem Kopf und zog das Schlüpfergummi nach oben, sodass gnädig alles verhüllt wurde.

Dann gingen wir wieder rüber zu den anderen. Um überhaupt irgendwo hinschauen zu können, guckte ich von nun an konzentriert und stier auf den Fernseher und sah direkt in das feiste Gesicht von Helmut Kohl, der sehr glücklich und zufrieden wirkte. Ich konnte den Blick nicht davon lassen, bloß nicht zu den anderen, bloß niemand ins Gesicht gucken, erst recht nicht Martina, und so starrte ich auf Kohl und hing an jeder Bewegung seiner Lippen. Dieses Bild brannte sich für immer unauslöschlich in mein Gedächtnis. Lange Zeit schmeckte ich unweigerlich den penetranten Geschmack von Negerküssen auf meiner Zunge, wenn ich im Fernsehen Helmut Kohl sah. Und der Mann war lange Zeit wirklich oft im Fernsehen.

Schließlich überfällt mich noch heute ein Gefühl tiefer Scham, wenn ich etwas von Negerküssen höre. Weshalb ich ihre Umbenennung sehr begrüße.

Schlimme Nächte

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