Читать книгу Schlimme Nächte - Heiko Werning - Страница 9
ОглавлениеLetzte Worte
Im Fall von Herrn Böttger entfiel immerhin dieser schreckliche Moment, wenn man einen bei vollem Bewusstsein liegenden Patienten zum Sterben in ein Einzelzimmer schiebt. Das habe ich in meiner Zivildienstzeit am meisten gehasst. Ich kam mir dabei vor wie der Assistent des Henkers, der den Delinquenten zum elektrischen Stuhl führt, nur dass der Vollstrecker bei uns in aller Regel Krebs hieß und sich weigerte, den Hebel auf Kommando zu drücken, das Überraschungsmoment gab er nie aus der Hand. Dennoch, wenn es wirklich zu Ende ging, veranlasste Schwester Eugenia die Verlegung aus dem Dreibett- in ein Einzelzimmer, wann immer das möglich war. Sie wollte die anderen Patienten nicht zu stark belasten, bei uns waren Sterbende immer Einzelfälle, wir hatten keine praktischen Sammelräume für sie wie die drüben auf der Internistischen, die meisten unserer Kunden gingen nach kurzem Aufenthalt auf der Station und noch kürzerem auf dem OP-Tisch wieder frohgemut nach Hause.
Nur hin und wieder entpuppte sich die vermeintliche Zyste am Anus – von Schwester Eugenia wurden solche Patienten bei der Übergabe immer etwas respektlos als »wieder einer mit ‘nem Säuferpickel am Hintern« vorgestellt – als Botschafterin eines weit fortgeschrittenen Tumors, und dann wurde es sehr hektisch und ungemütlich. »Auf- und wieder zugemacht«, lautete der interne Kodex für hoffnungslos, wenn die Chirurgen nichts mehr ausrichten konnten, und wir versuchten dann, die Patienten möglichst schnell wieder loszuwerden. Wir waren eine chirurgische Station, und da gab es dann in so einem Fall ja nun einmal nichts mehr zu tun. Aber manchmal scheiterte die Abschiebung, dann mussten wir die Sache eben zu Ende bringen, und irgendwann wurde das Einbettzimmer fällig, damit die anderen Patienten nicht beunruhigt wurden und damit sich der Priester seinem fluchtunfähigen Opfer in Ruhe allein widmen konnte. Schließlich waren wir ein katholisches, klösterlich geführtes Krankenhaus.
Im Fall von Herrn Böttger entfiel immerhin also dieser schreckliche Moment, wenn man einen bei vollem Bewusstsein liegenden Patienten zum Sterben in ein Einzelzimmer schiebt, weil Herr Böttger von Anfang an in einem Einzelzimmer lag, denn er war Erste-Klasse-Patient. Als solcher genoss er das Privileg, von Schwester Eugenia, unserer Stationsnonne, persönlich für die Operation rasiert zu werden ebenso wie von ihr die Wundversorgung am Anus zu bekommen. Ich weiß nicht, wie sehr er das zu schätzen wusste, als er eingangs auf allen Vieren auf seinem Bett knien und der Nonne den Hintern entgegenstrecken musste, damit diese ihm dann mit ihren gummibehandschuhten Fingern seine Backen so weit wie möglich auseinander schieben konnte.
Eigentlich also sollte nur der Säuferpickel wegoperiert werden. Herr Böttger war ein sehr vital wirkender 60-jähriger, ein Geschäftsmann, sichtlich wohlhabend, gebildet und humorvoll, ein echter Traumpatient, einer von denen, die für üppige Trinkgelder und wenig Ärger sorgen. »Wieso Säuferpickel?«, hatte ich Schwester Eugenia gefragt, denn wie ein Alkoholiker wirkte der vornehme Herr Böttger wirklich nicht, und der Zusammenhang zwischen Anuszyste und Alkohol war mir auch nicht ersichtlich, aber Eugenia klärte mich darüber auf, dass bei überzogenem Biergenuss der Stuhlgang häufig sehr flüssig würde, was auf Dauer eben verstärkt zu solchen Zysten führe, daran erkenne man es dann immer.
Dann war Herr Böttger auf- und wieder zugemacht worden, und jetzt wurden wir ihn nicht mehr los. »Es ist seltsam«, meinte Schwester Eugenia, »die Leute merken überhaupt nichts, kommen wegen irgendeiner Lappalie zu uns, dann finden wir den Krebs und in ein paar Tagen ist plötzlich alles vorbei, die kommen nicht mal mehr wieder raus. Als würde sich der Krebs, wenn seine Heimlichtuerei einmal aufgeflogen ist, provoziert fühlen. Oder als ob die frische Luft bei der Operation ihn erst richtig munter gemacht hätte.« Der Krebs von Herrn Böttger war jedenfalls richtig munter geworden, hat vermutlich einen Sauerstoffschock erlitten oder sich erschrocken, als die Scheinwerfer im Operationssaal ihn plötzlich geblendet haben, und jetzt machte er Ernst.
Herr Böttger wirkte merkwürdig gefasst, nachdem er das niederschmetternde Resultat erfahren hatte, seiner Frau fiel es schwerer. Sie war eine Hausfrau, die alles sehr gut im Griff hatte, als sie ihren Mann abgab. Die bei jedem Besuch an Blumen für die Schwestern oder Kuchen für uns Pflegepersonal dachte. Die anschließend immer zu irgendeinem Termin musste, zur Dauerwelle oder zum Tennis, oder der Gärtner kam, um einen Baum zu stutzen. Und jetzt lief plötzlich nichts mehr nach Plan, jedenfalls nicht nach ihrem, das CA, wie es auf unserer Station hemmungslos angekumpelt wurde, das Carcinom also hatte die Planung übernommen und scherte sich nicht um die Gartensaison und das Turnier am Wochenende. Frau Böttger gelang es nicht, sich auf die neue Situation einzustellen, sie wurde zerrieben bei dem Versuch, draußen alles reibungslos aufrechtzuerhalten und drinnen ihrem Mann angemessen beizustehen. Wir waren verblüfft, ihrem täglich rasant fortschreitenden Zerfall zuzusehen. Erst als die Ärzte ihr sagten, dass es jetzt wohl jeden Moment so weit sein könnte, gab sie ihr Doppelleben auf und stellte sich ganz dem bevorstehenden Ende ihres Mannes, dessen Wunsch nach einer Erweiterung des Steingartens inzwischen ja irgendwie auch irrelevant geworden war. Trotzdem verschob sie den Termin mit dem Gärtner nur auf nächste Woche.
Ich schob ihr ein zweites Bett ins Zimmer, »es ist ja nicht für lange«, wie Schwester Eugenia meinte, »und ihr Mann isst ja auch nichts mehr, das kann sie ruhig haben. Ist ja schließlich bezahlt.«
Es war dann aber doch für überraschend lange. Herr Böttger starb und starb einfach nicht. Seit vier Tagen schon war er nicht mehr ansprechbar, atmete nur noch ganz flach, eigentlich war man sich nie ganz sicher, ob er überhaupt noch lebte. Seine Frau war der Verzweiflung nahe, aber sie weigerte sich, Eugenias Rat zu befolgen und nach Hause zu gehen. »Wir rufen Sie doch sofort an, wenn irgendwas ist«, versuchte sie, sie wegzulocken, als wäre nicht klar, was nur noch sein könnte. Aber Frau Böttger blieb standhaft, sie wollte auf jeden Fall dabei sein, Rhododendronpflanzung hin oder her.
Der Zustand von Herrn Böttger stabilisierte sich knapp über Null. Am achten Tag schließlich meinte seine Frau am Nachmittag, sie müsse jetzt doch wenigstens einmal eine Nacht wieder zu Hause schlafen, noch mal könne sie den Gärtner auch nicht verschieben, der käme gleich. Schwester Eugenia bekräftigte sie in ihrem Vorhaben und versprach flüsternd erneut, dass wir uns sofort melden, wenn »etwas ist«. Alle flüstern immer, wenn Sie vor Sterbenden stehen. Ob man dadurch ruhiger entschläft? Ich glaube, mich wird es eher einmal sehr beunruhigen, wenn es so weit ist und ich als Letztes mitbekomme, dass alle nur noch wispern.
Ich hatte Nachtdienst. Gegen vier Uhr morgens war nichts mehr los auf der Station, ich ging zu Herrn Böttcher und legte mich in das Bett neben ihm. Ich hoffte, der blöde Pieper würde den Schnabel halten bis zum Morgen.
Ich wachte kurz vor sechs wieder auf. Der Schichtwechsel nahte, ich musste ins Schwesternzimmer. Ich sah kurz zu Herrn Böttger rüber. Der lag mit wachen Augen da und lächelte mir entspannt zu. Mir schnürte sich die Kehle zu. Hatte ich nicht mal so was gehört, dass Sterbende noch einmal, kurz bevor es dann wirklich vorbei ist, einen klaren Moment haben? Verdammt, dachte ich, bloß das jetzt nicht. Halt durch! Deine Frau ist in einer halben Stunde wieder hier! Bloß jetzt nicht ...
»Was guckst du denn so erschrocken? Hast du gedacht, ich wär‘ schon tot?«, fragte Herr Böttger lächelnd.
»Äh, nein, es ist nur ... Ihre Frau kommt gleich zurück, die müsste jeden Moment hier sein.« Ich rang mit mir, ob ich jetzt einfach wild auf ihn einreden sollte, sozusagen um ihn am Einschlafen zu hindern, es konnten nur noch Minuten sein, bis sie zurückkäme, andererseits schien es mir auch unpassend, ihn am Ende nicht mehr zu Wort kommen lassen, zu jenen womöglich letzten Worten. Wer weiß, vielleicht hatte er ja noch etwas Wichtiges zu sagen, oder etwas Schönes, und wäre aber zu schwach, sich gegen meinen aufgeregten Wortschwall durchzusetzen, vielleicht hatte er sich etwas wirklich Großes zurechtgelegt, und ich plapperte ihn mit den Saufgelagen in der Zivi-Küche voll – war das wirklich das, war er als Letztes hören wollte? Ich hielt den Mund.
Er sah mich an und wirkte sehr entspannt dabei: »Meine Frau ist nicht da?«
Mein Mund, mein Rachen waren schlagartig ausgetrocknet, mühsam brachte ich ein leises »Nein, aber sie kommt wirklich gleich wieder« heraus, verdammt, wo blieb sie denn, sie war doch sonst immer pünktlich, um halb sieben, hatte sie gesagt, um halb sieben ist sie zurück. Er lächelte.
»Und ich hatte schon befürchet, die bleibt die ganze Zeit hier sitzen, die kann wirklich zäh sein«, sagte er kichernd. Dann griff er plötzlich nach meiner Hand, drückte sie fest – und das war es dann. Irgendwie sieht man sofort, wenn jemand tot ist. Einen kurzen Moment spürte ich Panik in mir aufsteigen und wollte den Alarmknopf drücken – aber wozu? Und schließlich musste seine Frau jeden Moment wieder reinkommen. Ich betrachtete noch einmal seinen zufriedenen, fast glücklichen Gesichtsausdruck. Seine Hand ruhe fest in meiner. Ich entschied mich, gar nichts zu machen. Fünf Minuten später kam seine Frau herein. Noch ehe sie etwas sagen konnte, flüsterte ich ihr zu: »Ich glaube, es ist so weit«, sie stürzte heran, ich ließ los und ging.
Als ich gerade nach Hause gehen wollte, kam sie zu uns ins Schwesternzimmer. »Ich habe Brötchen für Sie alle mitgebracht«, flüsterte sie zu den Schwestern und stellte uns die Papiertüte auf den Tisch. Dann wandte sie sich mir zu: »Ist denn noch irgendwas gewesen? Hat er noch irgendwas gesagt?«
Ich sah sie kurz an. »Nein«, antwortete ich, »es ist nichts gewesen. Er hat nichts mehr gesagt.«