Читать книгу Schlimme Nächte - Heiko Werning - Страница 7
ОглавлениеInterrail machen
Wir konnten es kaum abwarten bis zu den Sommerferien. Ralf und ich waren gerade sechzehn geworden, und das bedeutete: Wir waren alt genug, Interrail zu machen.
Interrail machte man. »Machst du Interrail in den Sommerferien?« – »Natürlich mache ich wieder Interrail, ich habe ja letztes Jahr auch schon Interrail gemacht.« Interrail machen – das war die Chiffre für Abenteuerurlaub, Freiheit, Erwachsensein. Autofahren durften wir noch nicht, Fliegen war generell viel zu teuer, Bahnfahren eigentlich auch, aber Interrail, das ging. Ein Bahnticket, das es einem erlaubte, vier Wochen lang sämtliche Züge in fast ganz (West-)Europa kostenlos zu benutzen, ohne jegliche Einschränkung. Und das zu einem erstaunlich günstigen Preis. Interrail war für fast jeden finanzierbar. Wer sehr wenig Geld hatte, lebte halt ganz in den Zügen. Und galt damit zudem als ausgesprochen cool. Wir hatten mit leuchtenden Augen die Geschichten gehört davon, wie sie einfach abends zum Bahnhof gegangen und in den nächsten Nachtzug gestiegen sind, ganz egal, wo der hinfuhr, Hauptsache: Er fuhr durch bis zum nächsten Morgen. Wir hörten von Travellern, die in den Gepäckablagen in den Abteilen schliefen, wir hörten von Geschlechtsverkehr auf Zugtoiletten und davon, wie in Großraumwaggons Freundschaften in alle Teile Europas geschlossen wurden.
Unsere Eltern waren weniger angetan. Sie mochten es generell nicht, dass wir herumreisen wollten, sie hätten es lieber gesehen, wir wären einfach wieder auf einen Zeltplatz in Holland gefahren, so wie letztes Jahr. Herumreisen, das war ihnen suspekt. Trampen war uns kategorisch verboten, man sah ja bei Aktenzeichen XY ungelöst allmonatlich, was dabei herauskommt. Der Bahn, die damals ja noch Bundesbahn hieß und auch ein wenig die Aura einer rollenden Behörde hatte, war da ein gerade noch akzeptabler Kompromiss. Dabei, und das war für uns das Verlockendste, galt Interrail sogar in Marokko. Das war unser Plan. In Münster in den Zug steigen, und dann direkt durch Frankreich und Spanien bis nach Marokko. Wir waren zwar außer in Holland noch nie zuvor in Europa unterwegs gewesen, so gesehen wäre alles neu gewesen, aber Marokko, das klang halt doch noch mal ganz anders, das war Afrika! Exotisch, eine fremde Welt, da gab es eine richtige Wüste und wirkliche wilde Tiere, Dromedare etwa oder Dornschwanzagamen, und eine andere Kultur, Basare und Beduinen. Da wollten wir hin.
»Auf keinen Fall!« Da waren unsere Eltern sich ungewohnt einig. Marokko, das war Afrika. Dritte Welt. Elend. Kriminalität. Bürgerkrieg. Die würden einen nur ausrauben und schließlich gegen Maultiere in irgendein Arbeitslager verkaufen. »Aber Papa, warum sollten die uns in ein Arbeitslager verkaufen, wir können doch gar nichts, das sagst du doch selbst immer.«
»Außerdem hassen die uns, wegen dem Krieg. Wegen dem Rommel, dem Wüstenfuchs. Das ist nämlich einer der Guten gewesen, der konnte richtig Krieg führen, der verstand was davon!«
»Aber Papa, wir haben den Krieg doch verloren.«
»Ja, aber in Nordafrika hätten wir ihn gewinnen können. Weil der Rommel so gut war, und deshalb hassen die uns. Und außerdem: Da ist es sehr schmutzig. Da wird man krank vom Essen.« Es hatte keinen Zweck.
»Dann fahren wir halt nach Spanien.« »Auf keinen Fall!« Da waren unsere Eltern sich ungewohnt einig. Die Argumentation verlief ungefähr analog, ebenso bei Italien und Griechenland. Insgesamt, das war klar, war der kriminelle und unhygienische Süden einfach zu gefährlich für uns.
Wir einigten uns schließlich auf Irland und England. Vor allem angesichts des Arguments vom Essen, das einen krank mache, war das natürlich eine eher bizarre Wahl, aber gut. Leichte Vorbehalte gab es zwar auch, wegen dem Krieg, aber mein Vater war in englischer Gefangenschaft gewesen und hatte die Tommys, wie er sie zu nennen pflegte, als einigermaßen faire Gefangenschaftsgastgeber empfunden. Außerdem waren sie in Münster unsere persönlichen Besatzer, unser Wohngebiet war direkt eingekeilt zwischen der Kaserne und ihren Reihenhäusern, da hatte man über die Jahre Zeit gehabt, sich aneinander zu gewöhnen. Über Irland wusste ohnehin niemand etwas, das galt gemeinhin als abgeschieden, ruhig und unproblematisch. Und mein Vater mochte den Whiskey von dort.
So machten wir also Interrail auf die britischen Inseln. In Sachen Exotik und Wetter zwar eine herbe Schlappe für unsere Urlaubsplanung, verheißungsvoll war es aber trotzdem. Dass wir dafür durch Frankreich mussten, um mit der Fähre von Le Havre nach Cork überzusetzen, behielten wir lieber für uns.
Es wurde eine aufregende und schöne Reise. Zurück ging es über London, wo wir in einem internationalen Jugend-Zeltlager unterkamen. Im Prinzip wie eine Jugendherberge, nur in Form großer Zelte, mit Feldbetten. Abends gab es Grillfeste und Lagerfeuer. Ralf und ich feierten unsere letzte Nacht. Am nächsten Tag würde es über Dover zurück aufs Festland und dann direkt nach Münster gehen, unser Interrail-Ticket lief ab.
Wir saßen an einem der großen Tische, die überall aufgestellt waren, und kamen ins Gespräch mit den anderen Jugendlichen. Eine vielleicht zehnköpfige Gruppe junger Männer aus Marokko. Die auch Interrail machten. Wir erzählten ihnen, dass wir zuerst überlegt hatten, nach Marokko zu fahren. Die Gründe, warum wir uns dann doch anders entschieden, unterschlugen wir lieber. Sofort hatten die Jungs, die vielleicht so um die zwanzig waren, uns freundlich in ihre Mitte aufgenommen. Sie boten uns von ihren Getränken und ihrem Essen an, alles war sehr fremd für uns, wir waren begeistert. So gab es zum Abschluss unserer Reise doch noch einen Hauch der ursprünglich erhofften Kontakte mit aufregenderen Ländern und Kulturen.
Es gab auch Bier, und bald schon stießen wir auf unsere Völkerfreundschaft an, tauschten Adressen aus, und wir versprachen, dass wir im nächsten Jahr dann aber wirklich Interrail nach Marokko machen würden. Ob das denn auch wirklich ungefährlich für uns sei, fragte ich behutsam. Ja, ganz bestimmt, beruhigten unsere neuen Freunde uns. Marokko sei ein friedliches, gastfreundliches Land. Da habe niemand etwas zu befürchten. Und wir ganz bestimmt nicht, denn schließlich seien wir doch Deutsche! Da würden wir überall in Marokko mit offenen Armen empfangen.
Ralf und ich sahen uns erstaunt an. Da hatten wir ja nun schon ganz anderes gehört. Warum werden wir als Deutsche mit offenen Armen empfangen, fragte ich also vorsichtig. Wegen dem Fußball, rief sofort einer. Die Deutschen sind die Besten im Fußball! Wir lachten und empfahlen, diese Einschätzung hier in England vielleicht lieber nicht so laut zu vertreten. Und wegen Hitler natürlich, riefen unsere neuen Freunde fröhlich. Ralf und ich sahen uns irritiert an. Was war das denn jetzt? Haben sie uns nur in Sicherheit gewogen, um jetzt doch mit uns abzurechnen? Würden sie uns verantwortlich machen für die Verbrechen, die in Nordafrika wahrscheinlich ja auch passiert waren? Und für den ganzen verdammten Krieg? Wir hatten ja im Grunde gar keine Ahnung davon, was dort damals passiert war.
Wir versuchten uns sofort in Verteidigung. Das sei doch schon so lange her, gaben wir zu bedenken, Deutschland heute sei doch ganz anders. Natürlich gebe es ein paar Unverbesserliche, aber die meisten Deutschen seien anderen Völkern gegenüber sehr aufgeschlossen. Ja, natürlich, rief einer der Marokkaner, mit dem Krieg hätten wir natürlich nichts zu tun. Darauf stießen wir erleichtert mit ihnen an. Aber, spann der Wortführer die Unterhaltung weiter, aber wenigstens hätte Hitler mal was gegen die Juden gemacht. Ralf und ich starrten ihn sprachlos an. War das eine Falle? Wir hatten ausgiebig im Unterricht die Gräuel des Holocaust durchgenommen, wir hatten Filme gesehen und Anne Franks Tagebuch gelesen, wir hatten leidenschaftlich geschworen, dass so etwas nie wieder passieren dürfe und man den Anfängen wehren müsse, wir hatten gegen die Wahlerfolge der Republikaner protestiert, und nun das. Jetzt wollten sie uns dafür verantwortlich machen? Überschwänglich prostete unser Gegenüber uns zu, dann rief er: Deutsche und Araber, wir sind Freunde und werden immer Freunde sein! Weil wir gemeinsam gegen die Juden kämpfen! Die anderen aus der Gruppe fielen jubelnd ein, die Bierdosen tockten zusammen. Und mir wurde allmählich klar: Die wollten uns überhaupt keine Vorwürfe wegen der Vergangenheit unseres Landes machen. Die mochten uns wegen der Vergangenheit unseres Landes.
Auf eine solche Situation hatte uns in der Schule niemand vorbereitet. Judenhass – das kannten wir ausschließlich als deutsches Phänomen aus der dunklen Geschichte. Uns wurde sehr unwohl zumute. Aber, so versuchten wir noch ein letztes Argument, die Deutschen hätten doch im Krieg auch gegen sie, die Nordafrikaner, gekämpft? Ja, schon, aber das sei doch so lange her, das könnten sie uns heute doch nicht mehr vorwerfen. Was zählt, ist das Heute! Und da verbinde uns eben die Abneigung gegen die Juden! Prost! Auf die arabisch-deutsche Völkerfreundschaft!
Wir hätten widersprechen müssen. Wir hätten gehen müssen. Wir hätten irgendwas tun müssen.
Wir sagten nichts. Wir gingen nicht. Wir taten nichts. Wir saßen da, versuchten uns nichts anmerken zu lassen, wir ließen uns sogar, als wir dann doch ins Bett gehen wollten, noch zu einem weiteren Bier überreden, auf die deutsch-arabische Freundschaft. Trotz allem: Wir genossen die Herzlichkeit und Freundlichkeit unserer neuen Bekannten, wir waren auch ein wenig stolz, dass wir dieses exotische Abenteuer bestanden hatten. Das leidige Juden-Thema war längst vergessen. Wir bleiben in Kontakt! Wir schreiben Euch mal! Wir besuchen Euch!
Der Kater am nächsten Morgen fühlte sich stärker an als üblich. Wir packten unsere Rucksäcke und zogen los, Richtung Bahnhof. Wir hatten Interrail gemacht. Morgen würden wir wieder im übersichtlichen, ruhigen Münster sein.
Wir haben uns nie geschrieben. Im nächsten Jahr haben wir tatsächlich wieder Interrail gemacht. Diesmal nach Skandinavien.