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Kapitel 2

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»Komm bitte hierher!«

Der Arzt forderte Linda energisch auf, als sie sich sofort nach dem Einsteigen an den Geräten zu schaffen machte.

»Ich muss dich hier anschnallen, sonst können wir nicht losfahren! Wenn du nicht sitzt, gibt es kein Tatütata und auch kein Blaulicht.«

Widerwillig kam sie und ließ sich anschnallen. Als der Rettungswagen wenige Augenblicke später tatsächlich mit Tatütata losfuhr und das Blaulicht durch die Fenster flackerte, leuchteten Lindas Augen. Gebannt und fasziniert verfolgte sie die rasante Fahrt. Nachdem sie angekommen waren, erfuhren sie, dass Clara sich bereits auf der Intensivstation befand. Der Notarzt ging nach dieser Information mit beiden in die Ambulanz, um dort das Mädchen zu untersuchen. Eine Krankenschwester bat er vorher, das Kuscheltier gründlich zu reinigen, was Linda sehr beruhigte. Überhaupt war Gert erstaunt, wie bereitwillig sich seine Tochter behandeln ließ und bei den verschiedenen Tests konstruktiv mitmachte. Nach einer eingehenden Untersuchung sagte der Arzt:

»Bei Ihrer Tochter ist alles in Ordnung. Sie hat vor allem keine inneren Verletzungen. Und die leichten Schürfungen am Oberarm sind gar nicht der Rede wert.«

Er pustete sanft über die Wunde.

»Papa, auch pusten!«

Sie hielt ihm den Arm hin und lachte ihn an.

»Linda, schau her, hier ist dein Kuscheltier. Ich habe es gebadet, geföhnt und gekämmt! Gefällt er dir?«

Die Krankenschwester zeigte stolz den zotteligen Hund und strich zärtlich über die lange, helle Hundeschnauze.

Das Mädchen strahlte sie glücklich an, vergaß alles um sich herum und knuddelte ihren Liebling.

»Was hältst du davon, wenn ich dir mit Friedi das Krankenhaus zeige? Da gibt es so viele interessante Dinge zu sehen! Dein Vater hat nichts dagegen!«

»Cool«, rief sie und lief auf den Doktor zu.

»Sie können in der Zwischenzeit einen Kaffee am Kiosk trinken, der schmeckt dort ganz ausgezeichnet. Die Untersuchung Ihrer Frau wird sowieso noch einige Zeit in Anspruch nehmen«, schlug er Gert vor.

»So machen wir es«

»Nach unserer Tour bringe ich sie wieder hierher«, erklärte der Arzt, nahm das Mädchen an die Hand und verschwand mit ihr.

Gert ging zum Kiosk. Als er dort einen Kaffee trank, betrat eine Frau die Klinik, mit der er und Linda gestern beim Einkauf im Supermarkt kurzen Kontakt hatten. Er sprach sie an:

»Machen Sie einen Krankenbesuch?«

»Nein, ich bin dienstlich hier. Ich möchte Sie sprechen!«

»Mich?«, antwortete er total perplex.

»Ja, am Unfallort ging es nicht. Ich kam spät zum Einsatz und sah Sie erst, als Sie mit Linda in den Rettungswagen einstiegen.«

»Wer sind Sie überhaupt?«, fragte er.

»Entschuldigung. Ich bin Hauptkommissarin, mein Name ist Helene Krautkopf."

Sie zeigte ihm ihren Dienstausweis.

»Ich untersuche die Hintergründe des Sturzes.«

»Untersuchen? Das war ein fürchterlicher Unfall, da gibt es nichts zu untersuchen«, antwortete er ziemlich aufgebracht.

»Beruhigen Sie sich bitte! Das ist Routine, unser Tagesgeschäft, wie die kriminaltechnischen Untersuchungen am Unfallort. Wir sind damit fast fertig. Meine Kollegen würden anschließend gerne einen Blick auf ihren Balkon werfen. Geht das?«

»Ohne mich? Das gefällt mir gar nicht! Ich verstehe nicht, warum Sie bei uns rumschnüffeln wollen. Was vermuten Sie denn?«, erregte er sich abermals.

»Wir vermuten nichts und schnüffeln tun wir schon gar nicht! Wir wollen uns lediglich ein Bild machen, ohne Untersuchungen anzustellen. Solchen Ereignissen müssen wir nachgehen. Es ist doch gewiss auch in Ihrem Interesse, herauszufinden, wie es dazu kam. Oder haben Sie den Sturz gesehen?«

»Nein, ich war zu der Zeit nicht zu Hause, sonst hätte es den Unfall nicht gegeben«, entgegnete er aufgewühlt.

»Wie meinen Sie das?«, hakte die Kommissarin sofort nach.

»Normalerweise bin ich abends immer daheim, um unsere Tochter ins Bett zu bringen, weil Clara oft erst spät von der Arbeit nach Hause kommt. Aber heute ... sie war so kaputt, als sie zurückkam, völlig ausgebrannt ... Ich hätte nicht gehen dürfen!«

Er schlug sich heftig gegen die Brust.

»Wo waren Sie denn?«

»Bei der Autorenlesung von Tatjana Strobel in der Buchhandlung Vogel. Ich bin freier Journalist und schreibe Artikel über Schriftsteller oder rezensiere deren Werke.« »Wie haben Sie von dem Unfall erfahren?«, erkundigte sie sich.

»Als ich auf dem Nachhauseweg in unsere Straße hineinging, sah ich Menschen, wohin ich auch blickte. Das verunsicherte mich, sodass ich sofort zum Haus rannte. Dort sagte man mir, dass eine Frau und ein Kind vom Balkon gestürzt seien. Natürlich dachte ich gleich an Clara und Linda. Und leider bestätigte sich der Verdacht.«

"Was befürchteten Sie? Sprach Ihre Frau jemals von Selbstmord?", hakte Helene nach.

"Nein! Dafür ist sie nicht der Typ, obwohl sie in letzter Zeit öfters ziemlich niedergeschlagen nach Hause kam."

Gert trank noch einen Schluck aus der Tasse und stellte sie auf die Theke. Genervt sagte er zur Hauptkommissarin:

»Jetzt reicht´s aber! Ich will nicht mehr reden! Hier ist der Schlüssel. Sie können ihn mir morgen zurückgeben. Ich habe einen zweiten bei mir. Mich interessiert jetzt nur noch, wie es Clara geht!«

»Das verstehe ich. Danke für Ihr Verständnis. Ich werde Sie morgen besuchen und den Schlüssel mitbringen.«

»Aber rufen Sie mich vorher bitte an! Hier ist meine Karte!«

»Danke, ich wünsche Ihnen viel Kraft. Übrigens, was ist mit Ihrer Tochter?«

»Gott sei Dank, sie hat den Sturz unbeschadet überstanden und ist putzmunter. Der Arzt zeigt ihr gerade das Krankenhaus.«

»Das wird ihr gefallen! Gute Nacht, Herr Kunkel!«

»Auf Wiedersehen, Frau Krautkopf!«

Ohne Umwege eilte er ins Wartezimmer der Intensivstation und setzte sich. Die ausliegenden Zeitschriften interessierten ihn nicht. Vielmehr schaute er mehrmals gebannt auf die Tür zum Untersuchungszimmer, aber sie blieb verschlossen, was seine Unruhe nach und nach steigerte. Er spazierte nervös durch das Zimmer. Gelegentlich setzte er sich wieder auf die Bank, auf der er es jedoch immer nur wenige Augenblicke aushielt. Je länger es dauerte, desto kribbliger wurde er. Er fühlte sich, als ob eine Armada von Ameisen in ihm herumkrabbelte. Es juckte an Leib und Seele und alle Versuche, sich innerlich zu kratzen, scheiterten jämmerlich.

Das Handy klingelte. Nervös holte er es aus der Tasche und sah die Nummer seines Bruders Heinz auf dem Display. Er nahm das Gespräch an, doch das Sprechen fiel ihm unheimlich schwer, sodass er es schnell beendete.

»Ich will im Moment niemanden sehen, auch dich nicht! Bitte versteh´ das!«

Abrupt drückte er die Verbindung weg. Kaum hatte er sein Handy weggesteckt, hörte er die Stimme seiner Tochter. Blitzschnell drehte er sich um.

»Papa, Papa!«, rief Linda begeistert. Sie riss sich von der Hand des Arztes los und rannte auf ihren Vater zu, der sie auffing, als sie ihn stürmisch ansprang.

»Wie war´s, Knuddel«, erkundigte er sich fast teilnahmslos, weil ihn die Sorge um Clara gefangen hielt.

»Super!«, antwortete sie euphorisch und zeigte ihm im gleichen Moment eine Spritze ohne Nadel.

Der Vater schaute sie fassungslos an, denn er kannte ihre Angst vor Spritzen. Deshalb fragte er auch sofort:

»Und du hast nicht gebrüllt?«

»Nein, Papa!«

»Ich kann Ihnen das erklären, Herr Kunkel«, begann der Arzt zu dozieren.

»Linda hat mir von ihrer Angst erzählt, und wissen Sie, ich konnte sie davon überzeugen, dass Spritzen hilfreich sind. Glauben Sie, dass sie sonst eine Spritze von mir verlangt hätte?«, beendete er zufrieden lächelnd seinen Vortrag.

»Alles schön und gut, aber ich will jetzt wissen, wie es meiner Frau geht!«

»Das ist doch klar. Mein Kollege wird Sie informieren.«

Kaum gesagt betrat ein Mann das Wartezimmer und ging auf Gert zu.

»Grüß Gott, Herr Kunkel. Mein Name ist Heribert Strohbeck. Ich leite die Untersuchungen. Der Zustand Ihrer Frau ist unverändert kritisch. Die Verletzungen am Körper sind nicht besorgniserregend. Sorgen macht uns allerdings das Schädel-Hirn-Trauma. Wir wollen ein Hämatom entfernen, um mögliche Nachblutungen zu verhindern. Dazu brauchen wir jedoch Ihre Zustimmung. Wir haben bereits alles für die Operation vorbereitet.«

Gert spürte, wie ihm die Kraft aus dem Körper gezogen wurde. Er konnte seine Tochter nicht mehr halten und stellte sie sofort auf den Boden. Sein Kreislauf sackte ab, und seine Haltung erschlaffte. Sascha Kienle griff ihm geistesgegenwärtig unter die Arme und schleifte ihn auf eine Bank.

»Danke, Herr Doktor. Es geht schon wieder«, sagte er nach kurzer Zeit.

»Sind Sie sicher?«

Der Arzt blickte ihm in die Augen und setzte die Untersuchung unbeeindruckt fort.

»Ja, wirklich. Ich bin mit der Operation einverstanden«, entgegnete er gefasst und schaute dabei Doktor Strohbeck an.

»Ich gebe Ihnen aber auf jeden Fall eine kreislaufstärkende Spritze!«, erwiderte Sascha Kienle.

»Nein, das ist nicht mehr nötig!«

»Doch, Papa, die Spritze hilft dir«, bestärkte Linda. Gert konnte es immer noch nicht fassen, dass Linda keine Angst mehr vor Spritzen zu haben schien, wo sie früher schon bei Erwähnung des Wortes losbrüllte.

»Wenn es denn sein muss, dann machen Sie doch, was sie nicht lassen können. Aber danach will ich meine Frau sehen«, antwortete er patzig.

»Das geht natürlich. Bei der Operation allerdings können Sie nicht dabei sein. Ich bleibe bei Ihnen, bis mein Kollege zurück ist.«

Wenig später stand er mit der Spritze in der Hand wieder vor Gert. Ohne weitere Erklärungen griff er seinen Arm und setzte die Spritze an.

»Siehste, Papa, du hast gar nicht gebrüllt!«

»Ja, Knuddel, ich fühle mich schon viel besser.«, reagierte er ein wenig schmunzelnd.

»Gehen Sie mit mir!«, bat Doktor Strohbeck.

»Mein Kollege bleibt so lange bei Ihrer Tochter.«

»Ich will mit!«, protestierte das Mädchen energisch. Während die Männer sich kurz anschauten, rannte sie schon Richtung Intensivstation. Kienle erwischte sie gerade noch vor dem Öffnen der Tür.

»Also gut, du darfst mit, Linda, aber du musst dich ganz ruhig verhalten und darfst nichts anfassen. Versprichst du mir das?«

»Ja, Herr Doktor«, entgegnete sie sehr folgsam.

»Noch was. Wir müssen alle eine Schutzkleidung anziehen«, erklärte der Mediziner.

»Schööön«, antwortete sie begeistert, denn bei der Krankenhaustour hatte sie bereits eine anprobieren dürfen, was ihr viel Spaß gemacht hatte.

Gert und Linda waren fassungslos, als sie Clara sahen. Sie waren einiges von der Unfallstelle her gewohnt, doch dieser Anblick schockierte sie. Sie trauten sich nicht, sie zu berühren, weil so viele Schläuche an ihrem Körper angeschlossen waren und die Apparate ständig Geräusche machten. Das flößte ihnen Angst ein. Linda klammerte sich ans Hosenbein des Vaters. Gerade hatten sich die beiden vom ersten Schock erholt, da bat sie der Arzt, sich zu verabschieden.

»Darf ich meine Frau zum Abschied streicheln«, fragte Gert verunsichert.

»Ja, natürlich«

Er streichelte Clara mehrmals übers Gesicht und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen.

»Du schaffst das, Clara! Ich liebe dich!«, flüsterte er ihr zu. Währenddessen zerrte Linda kräftig an seinem Hosenbein:

»Ich will Mama einen Kuss geben!«

Gert hob sie hoch.

»Höher«, bat sie. Linda küsste ihre Mutter auf die Wange und sagte ihr:

»Wir klettern bald wieder!«

Ihre Mutter hatte extra für sie eine Kletterwand in ihrem Spielzimmer errichten lassen, an der sie bergsteigen lernte.

»Komm, Linda, jetzt müssen wir gehen«, sagte der Vater und trug sie aus der Intensivstation. Nach dem Ausziehen der Schutzkleidung gingen die beiden mit dem Arzt in den Warteraum.

»Es ist besser, wenn Sie mit Ihrer Tochter nach Hause gehen. Die Operation kann sehr lange dauern. Wir benachrichtigen Sie sofort über das Ergebnis.«

»Wir bleiben!«, antwortete er kategorisch.

»Okay, wenn Sie etwas brauchen, bitte klingeln!«

Der Arzt verließ die beiden.

»Linda!«

Er bückte sich zu seiner Tochter hinunter.

»Ja, was ist Papa?«

Sie schaute ihn gespannt an.

»Eben bei Mama, habe ich mich gefragt, ob du dich an den Sturz erinnern kannst?«

Er stockte, weil sie den Kopf senkte. Gert fasste sie an die Schultern, worauf sie ihn betrübt ansah und schleppend antwortete:

»Nein, Papa! Ich kann mich an nichts erinnern!«

»Vielleicht ist das ganz gut so«, rutschte es ihm heraus, was ihn ärgerte. Er nahm seine Tochter in die Arme, um seine Verlegenheit zu überspielen. Danach spazierte er wie vorher unruhig und getrieben im Wartezimmer umher und drehte seine Runden. Er war dermaßen in seiner Angst und seinen Befürchtungen gefangen, dass er Linda nur noch vernebelt wahrnahm, die verstört den mal hastigen und dann wieder schleppenden Schritten ihres Vaters folgte. Sie musste etwas tun, dachte sie und stellte sich kurzerhand mit Friedi in seine Laufbahn.

»Papa, nicht traurig sein. Mama wird wieder gesund. Wir besuchen sie oft!«

Überrascht und erstaunt zugleich blickte er seine Tochter an. Bevor er reagieren konnte, sprach sie ihn erneut an:

»Vorwärts leben, Papa!«

Das Mädchen nahm ihren Vater an die Hand und zog ihn aus dem Zimmer, was er sich widerstandslos gefallen ließ. Er ging mit Linda wie ferngesteuert aus der Klinik und registrierte erst am Ausgang, dass sie ohne Auto gekommen waren. Ein herbeigerufenes Taxi brachte sie augenblicklich nach Hause.

Mordsriecher Tatort Böblingen

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