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Inhaltsverzeichnis

Da klingelte es schon wieder.

Käthe hatte ihren Posten auf der obersten Treppenstufe gleich gar nicht verlassen. Elli stürmte mit lachender Neugier aus der Stube und bog sich so weit über das Geländer, daß die ältere, bedächtigere Schwester sie leise schalt und zupfte, einmal, weil es leichtsinnig war und man gesehen werden konnte, dann aber, weil sie selbst, obwohl die größere von beiden, so nicht auf ihre Kosten kam. Und der neue Ankömmling für Papas Sprechstunde mußte doch ganz genau gemustert werden. Das war so Brauch, so oft ein neues Semester begann und die Hörer einer nach dem andern anrückten, um sich den Namen des Geheimrats ins Kollegbuch schreiben zu lassen.

Marga war allein in dem gemütlichen Zimmer zurückgeblieben, das ihr und Ellis Mädchenreich war. Aber auch in ihren Fingern ruhte für einen Augenblick die feine Knüpfarbeit. Mit vorgebeugtem Kopf lauschte sie hinaus nach dem Treppenhaus. In der erwartungsvollen Stille war jedes Geräusch zu hören.

Im Erdgeschoß wurden Schritte laut. Es war Therese, die mit Brummen an die Glastür schlürfte und öffnete. Elli polterte in der Spannung einige Stufen hinunter. Ein zürnendes „Bst!” von Käthe wies sie zurecht.

Über Margas Gesicht huschte ein Lächeln. Ihre Blicke suchten die Tür. Sie ließ sich von der Spannung anstecken, als könnten die lichtlosen blauen Augen das unerbittliche Dunkel durchdringen, das sie inmitten der sonnigen Stube einhüllte.

Jetzt mußte der Ankömmling sichtbar sein.

Mit einem unverhohlenen „Oh!” der Enttäuschung fuhr Elli zurück und glitt von der Treppe ins Zimmer. „Nu mach' ich nicht mehr mit!” ließ sie sich halb traurig, halb zornig vernehmen, während sie sich in dem roten Plüschsofa, Margas Korbsessel gegenüber, schmollend zurückwarf.

„Wer war's denn?” forschte die Blinde.

„Ach was! Nicht der Mühe wert! Einfach lächerlich!” lautete die unklare Antwort, die ein tiefer Seufzer begleitete.

„Trabner, der alte Oberlehrer,” erklärte Käthe, die jetzt, gleichfalls enttäuscht, zurückkam.

„Ach der!” nickte Marga und nahm die auf den Knien liegende Handarbeit wieder auf.

„Der Flanellstorch!” ergänzte Elli, die ihren Unwillen an irgendwem auslassen mußte. „Mit der Glatze und der Stahlbrille, den Gummimanschetten und dem famosen Trikot-Stehumlegekragen. Ich glaube, er hört Papa seit fünfzig Jahren, der — der —”

„Ein sehr netter, vernünftiger Mensch,” meinte Käthe strafend. „Papa schätzt ihn sehr.” Als Älteste hielt sie es stets für ihre Pflicht, gerecht zu sein und Ellis vorlauten Urteilen die Spitze abzubrechen.

Aber Elli war heute gar nicht in der Laune, sich schulmeistern zu lassen. „Sieh mal an!” Sie bog ihren lichtblonden Lockenkopf zur Seite. „Du schwärmst wohl gar für den guten Flanellstorch?”

„Das ist ehrlich dumm, Kleinchen! Ich kann nur nicht leiden, daß man jemand in Bausch und Bogen ablehnt. Das weißt du.” Käthe setzte sich an den kleinen Schreibtisch am Fenster. Sie wollte fortfahren, in ihr Tagebuch zu schreiben.

„Vergiß das ja nicht gleich mit aufzuschreiben,” neckte Elli weiter. „Unter ‚Gedankensplitter‛.”

Käthe drehte sich empört nach der Spötterin um. „Das verbitt' ich mir, hörst du?” Ihre dunklen Augen zürnten, und sie strich sich die Haare aus der Stirn, zurück nach den schwarzen, wohlgeordneten Flechten. „Ich kann nicht dafür, daß dein Herr Wilkens ausbleibt,” setzte sie mit spitzem Vorwurf hinzu.

„Oho!” brauste Elli auf. „Ich kümmere mich wohl um Wilkens? Nicht so viel! Nicht so viel!” Die Röte, die ihr in die Wangen schoß, ärgerte sie noch mehr. „Nicht so viel!” erklärte sie zum drittenmal mit vor Erregung zitternder Stimme.

„Aber Kinder! Ihr seid ja garstig miteinander,” mahnte jetzt Margas weiche, ruhige Stimme. Ihre Hand tastete über den Tisch weg nach Elli, als wollte sie ihren Liebling beruhigen. „Er kann ja noch kommen,” flüsterte sie der jüngeren Schwester zu.

Elli entzog sich ihrer Liebkosung. Trotz und Schmerz kämpften in ihren hübschen Zügen und preßten ihr Tränen in die Augen. Sie war in dem seligen siebzehnjährigen Alter, wo Freude und Leid durcheinanderjagen wie Regen und Sonne an einem Apriltag. Sie kam sich unsagbar verkannt vor, nicht weil sie sich um den besagten Wilkens „nicht so viel” kümmerte, sondern gerade weil sie auf ihn gewartet hatte. Ihr kleines Geheimnis, über das sie mit den Schwestern sonst ganz gern einmal tuschelte, war nach ihrem Empfinden von Käthe furchtbar verletzt und entweiht.

Marga erriet diese Stimmung. Sie stand auf, legte die Arbeit auf den Tisch und setzte sich neben Elli aufs Sofa. Sie nahm sie in den Arm. Während Käthe mit großen steilen Schriftzügen ein neues Blatt des Tagebuchs füllte, redete sie in ihrer verständigen, zarten Weise halblaut dem Kleinchen zu, das nach einigem Widerstreben nicht nur den Trost in sein wundes Herz aufnahm, sondern auch dieses Herz auszuschütten begann.

Das Schnarren von Käthes Feder, das Flüstern der beiden auf dem Sofa waren die einzigen Geräusche, die das Zimmer, ja das ganze in nachmittägliche Stille versunkene Haus belebten. Kein Ton drang vom unteren Stockwerk, wo Geheimrat Richthoff arbeitete, herauf in die Mansardenstube. Der Flanellstorch mußte längst wieder seines Wegs gezogen sein, ohne daß sein Gehen auch nur ein winziges Teilchen des Interesses gefunden hätte, das seine Ankunft wachgerufen. Die kräftige, leuchtende Maisonne kam, zu mattem Gold gedämpft, durch die zugezogenen gelben Vorhänge an den Fenstern und tauchte die altmodischen Möbel, die erinnerungsreichen, behaglichen Kleinigkeiten in den Ecken und an den Wänden in ein wohliges Halbdunkel. Nichts schien mehr den dämmerigen Frieden dieser Ruhestunde stören zu wollen, die die Schwestern wie gewöhnlich zwischen Mittag und der Kaffeestunde da oben unter dem Dach verträumten und verplauderten.

Der Zeiger rückte auf drei Uhr los. Noch zwei Minuten, und der heisere Kuckuck mußte den Kopf dreimal zur Tür herausstrecken und sie wieder energisch hinter sich zuklappen. Damit war dann Papas Sprechstunde und alle Spannung für heute zu Ende.

Ein neues schrilles Klingeln an der Haustür kam dem Kuckuck zuvor. Marga und Elli hielten in ihrem Flüstern ein. Käthe blickte halb von ihrem Tagebuch auf.

„Sicher nichts Überwältigendes,” erklärte Elli mit einer Gleichgültigkeit, der die Neugier aus allen Fugen sah. „Ich stehe schon gar nicht mehr auf.”

„I wo, Kleinchen! Flugs auf deinen Posten!” ermunterte sie Marga.

Eine ziemlich tiefe, etwas hastige Stimme klang von unten aus dem Hausflur.

Elli rückte auf ihrem Sitz hin und her. Sie wollte nicht mehr, und doch wollte sie brennend gern. Käthe hatte die Feder weggelegt. Auch sie überlegte. Schon stand Elli auf und huschte nach der Tür. Käthe folgte langsam. Mit vereinten Kräften beugten sie sich draußen über das Geländer und spähten den heraufsteigenden Schritten entgegen. Marga lauschte wie zuvor. Es war wieder das alte lustige Spiel, das sie nicht lassen konnten, heute zum zehntenmal nicht. Die kleine Zänkerei war längst vergessen. Die Treppen, das Nußbaumgeländer knackten unter der Last der beiden vornübergebeugten Mädchenkörper verräterischer denn je.

Die Musterung des ahnungslosen Besuchers dauerte lange. Für Marga in ihrem Alleinsein schienen die Schwestern eine Ewigkeit auszubleiben. Endlich klappte im ersten Stock die Tür zum Zimmer des Geheimrats ins Schloß. Käthe und Elli stürmten gleichzeitig zurück ins Zimmer. „Etwas schrecklich Interessantes!” rief Elli aufgeregt schon von weitem.

„Ein Neuer! Hat noch nie bei Papa gehört!” berichtete auch Käthe mit ungewohnter Lebhaftigkeit, während sie vorsichtig die Tür nach dem Flur zuzog.

„Alt? Jung? Groß? Klein? So erzählt doch nur!” forschte Marga mit jener Neugier, die sie mitunter leidenschaftlich überkam, wenn ihr junger Sinn sich aufbäumte, als fürchtete sie, die Schwestern möchten ihr ein Stück Leben vorenthalten, nach dem sie sich in ihrer Dunkelheit nicht minder sehnte als die anderen mit ihren hellen Augen.

Alle drei rückten an dem runden Tisch ganz nahe zusammen. Fast stießen sie mit den eifrig aufgestützten Ellbogen aneinander. Käthe und Elli überstürzten und ergänzten sich in ihren Mitteilungen. Die ganze ausgelassene Lust der „Bande”, wie Papa Richthoff seine Mädels nannte, machte sich in dieser halb spaßhaften, halb ernsten Kritik Luft.

„Sehr straffe männliche Erscheinung,” beschrieb Käthe.

„Groß, schlank!” unterbrach Elli. „Schick gekleidet! Jackettanzug — Pfeffer und Salz! Braune Stiefel!”

„Weißt du, Marga, ähnlich wie der eine Assistent von Professor Lepart,” erklärte Käthe.

„Doktor Zerweck? Das Gigerl? Ich danke!” ereiferte sich Elli. „Nicht die Spur, Marga. Viel natürlicher, gar nicht geckenhaft!”

„Nicht wie ein Philologe, weißt du,” nahm Käthe den Bericht wieder auf. „Mehr weltmännisch.”

„O, das will ich nicht sagen,” widersprach Elli. „Es gibt sehr feine Philologen.” Sie verstummte plötzlich und wurde wieder rot. Wilkens war nämlich Philologe, derselbe Wilkens, der vorhin an der kleinen Tränenszene schuldig geworden war.

Jetzt mußten sie alle drei über Ellis Naivität lachen, sie selber nicht zum wenigsten.

„Aber wie sieht er denn nun eigentlich aus?” fragte Marga ganz unglücklich. „So erzählt doch mal ordentlich!”

Käthe und Elli fingen wieder von vorn an. Schwatzend und lachend lieferten sie eine Charakteristik, so wirr und widerspruchsvoll, daß Marga sich nach noch so vielen Beschreibungen so klug vorkam wie zuvor. Was sie mit einiger Bestimmtheit erfuhr, war nur, daß er einen braunen Vollbart trage und sehr ausdrucksvolle dunkle Augen habe. Über diese Augen, die keine der beiden Schwestern länger als eine Sekunde in beträchtlicher Ferne gesehen, drohte es zu neuem Streit zu kommen. Elli fand sie feurig, Käthe schmelzend.

Marga legte sich ins Mittel. „Wir müssen mal Papa fragen, wer es war,” sagte sie einfach und entschieden.

Käthe und Elli waren einen Moment sprachlos über diesen verblüffend klaren und offenen Rat. Dann fielen sie vereint mit ihren Bedenken über Marga her. Als ob das so einfach wäre, Papa zu fragen! Man würde ja verraten, daß man Posten gestanden! Papa würde Gott weiß was denken! Und wenn er erst merkte, daß man gern etwas von ihm wissen wollte, konnte man sicher sein, daß er schwieg wie ein Löwe. Das mußte fein eingefädelt werden. Da mußte ein richtiger Feldzugsplan gemacht werden. Wieder steckten sich die drei Mädchenköpfe wie die Häupter einer Verschwörung über dem Tisch zusammen. Sie fuhren erst erschrocken auseinander, als ziemlich laut an die Tür gepocht wurde.

Therese streckte den Kopf herein. „Der Kaffee steht unten,” meldete ihre mürrische Stimme. „Er wird kalt. Und der Herr Geheimrat hat nach dem seinen schon gerufen.”

Wie im Nu ging es aus der Stube und die Treppe hinunter. Elli voran, denn an ihr war die Reihe, Papa den Nachmittagskaffee zu bringen. Das war eine wöchentlich abwechselnde Ehre.

Käthe und Marga folgten Arm in Arm. Sie hatten am Nachmittag eine Besorgung zu machen und verabredeten den Stadtbummel. Bis zum Abendbrot galt es schon zu warten, ehe man gemütlich mit Papa plaudern konnte. Dann mußte man — man mußte erfahren, wer der „Neue” war.

Der Geheimrat hatte allerdings nicht die leiseste Ahnung von dem, was seine Mädels zu seinen Häupten trieben und planten. Wenn er nach dem Essen seinen Verdauungsgang im Garten gemacht hatte, wobei er mit der gewissenhaften Liebe von Jahrzehnten die Fortschritte seiner Bäume und Spaliere feststellte, die Schnecken von den Weinstöcken ablas, das allzu vordringliche Unkraut mit der Stockspitze aus den Wegen bohrte und nachbarwärts schleuderte — dann bildete die Sprechstunde den Übergang von der beschaulichen Ruhe zur eifrigen Arbeit. Wie ihm seine Besucher gefielen oder seine Laune es ihm eingab, fertigte er seine Hörer bald kurz und ohne viele Worte ab, bald verwickelte er sie in ein Gespräch und stellte — das war der Schrecken der jungen Semester, die zum erstenmal sich bei ihm anmeldeten — ein kleines historisches Examen an, sein Opfer unvermittelt an einem Rockknopf fassend und sich an seiner Verwirrung innerlich belustigend. War dann der letzte glücklich expediert und die Tür endgültig für weitere Besucher geschlossen, so schlüpfte er in den befreienden grauen Schlafrock, der schon bedenklich viele Jahre erlebt hatte, aber für unersetzlich galt, und steckte sich eine Zigarre an. Er verschwand hinter dem gewaltigen Zylinderbureau aus Nußbaumholz, das vom einen Fenster aus quer in die Stube stand und mit den mächtigen bändereichen Regalen im Rücken ein kleines Zimmer im Zimmer bildete. Eine Flut von Zetteln und Zettelchen, alle beschrieben mit seiner winzigen, mikroskopisch feinen Handschrift, breitete sich vor ihm und um ihn aus. Es war ein besonderes Kunststück, das nicht immer gleich gut gelang, den Nachmittagskaffee geräuschlos hereinzubringen und auf dem blätterbesäten Schreibtisch ein Eckchen zu erspähen, wo er hingesetzt werden konnte, ohne daß der alte Herr einen grollenden Sturm losbrechen ließ, weil man ihm alles durcheinanderwerfe und die peinliche Ordnung seiner Manuskripte, die für jeden andern einer peinlichen Unordnung zum Verwechseln ähnlich sah, gewissen- und verständnislos zerstöre. Nur Marga genoß das Vorrecht, daß ihren suchenden Fingern Nachsicht, sogar etwas Hilfe gewährt wurde. Das war aber eine Zartheit, die als geheimes und stillschweigendes Abkommen zwischen Vater und Tochter verborgen blieb.

Heute, wo Elli an der Reihe war, hatte es grimmiges Murren gegeben, so daß sie den Schwestern verstört berichtete, Papa sei grauenhaft aufgelegt und müsse wie ein schalloses Ei behandelt werden. Dabei war der alte Herr bei sich selber ganz zufrieden. Mit Bedacht und Vorliebe spielte er den Pascha, der unberechenbar seine Gnaden und Ungnaden verteilt. Nach seiner wohlgemeinten Ansicht gab es kein besseres Mittel, um die „Bande” einigermaßen in Zaum und Zucht zu halten. Nachdem ihm seine um fünfzehn Jahre jüngere Frau gestorben, ehe Elli und Marga auch nur aus den Kinderschuhen waren, hatte er eine Erzieherin ins Haus genommen. Eine Zeitlang war es auch mit einer Hausdame versucht worden. Aber aus alledem waren so viel Unbequemlichkeiten und Mißhelligkeiten entstanden, die seine ihm notwendige Gelehrtenruhe störten, daß er, als die beiden jüngsten leidlich herangewachsen waren, das Hauswesen mit seinen drei Töchtern allein zu führen unternahm. Etliche Kollegen, unterschiedliche Tanten und Basen hatten erklecklich dazu den Kopf geschüttelt. Eine Musterwirtschaft war's ja auch nicht gerade geworden. Aber er war zufrieden, wie es war; er und die drei Mädchen fühlten sich glücklich in dem alten wohnlichen Haus am Wenzelsberg.

An den Tagen, an denen nicht eine Kolleg- oder Seminarstunde ihn abrief, saß Geheimrat Richthoff vom Nachmittag bis zum Abend in seiner Schreibtischecke. Im qualmenden Nebel der Zigarren, die er eine an der andern ansteckte, verschwand für ihn die Außenwelt. An ihre Stelle traten die geistigen Gestalten seiner römischen Kaiser, mit denen er leibhaftig und wie mit seinesgleichen umging. Aus der Unzahl kleiner Züge, die er mit unermüdlichem Fleiß Tausenden von Inschriften, spärlichen, unverläßlichen Geschichtschreibern, all den zwar unermeßlichen, aber noch so unverarbeiteten Quellen abzwang, formte er mit feiner, geistreicher Kunst seine Kaisergeschichte. Die Studien eines ganzen Lebens trug er, an der Schwelle des Alters, in einem darstellenden Werke großen Stils zusammen. Mit eiserner Energie hatte er von Jahr zu Jahr den Wunsch, das Erforschte und Gesammelte zum Kunstwerk umzuschaffen, niedergehalten. Jetzt endlich, seit Jahresfrist, hatte er sich der Haft der Kleinarbeit entlassen. Mit dem Ungestüm eines Jungen begann er zu gestalten. In der Seligkeit, das kritisch Erklügelte endlich künstlerisch erleben zu dürfen, erfüllte sich ihm der Traum seines Daseins. Alle Freuden und Leiden des Schaffenden erlebte er in der drangvoll-fürchterlichen Enge seines Schreibtisches. Verzweiflung und Resignation wechselten mit feurigem Entzücken. Er haderte mit seinen Kaisern; er knirschte, brummte, schalt vernehmlich und drohte, wenn sie sich spröde zeigten und ihre glatten, scharfen Cäsarenköpfe in den Schleier der Undurchdringlichkeit hüllten. Das waren die Tage, wo die Arbeit um zwei, drei Zeilen vorrückte, von denen die eine wieder gestrichen werden mußte. Dann wurde er unzugänglich, griesgrämig, unwirsch und konnte mit seinem Unmut das ganze Haus durcheinanderwerfen. Ein andermal war alles eine Herrlichkeit: die Kaiser hielten ihm stand; sie traten hervor wie aus Marmor gemeißelt, klar, formgebietend, lebenheischend; dann verklärte ein heimliches Lächeln sein Gesicht, heimlich, denn es saß tief drinnen zwischen dem weißen dichten Vollbart und schoß höchstens einmal wie ein neckender Blitz unter den scharfen Brillengläsern hervor. Flüssig und leicht und selbstverständlich sprangen die Worte, die Sätze aus der Feder, und Blatt um Blatt bedeckte sich mit der minutiösen, schwer leserlichen Schrift. An solchen Tagen war Vater Richthoff umgänglich, zu einem Scherz bereit, innerlich von einer kindlichen Heiterkeit. Da hielt der barsche Pascha nicht vor. Er drückte ein Auge zu, ließ sich Wünsche und Bitten vortragen, gab Lob und Zustimmung, kurz: Papa hatte seinen guten Tag und die Bande mit ihm.

Einen guten Tag hatte der alte Herr auch heute hinter sich, als er sich endlich entschloß, die Feder wegzulegen und den Rest der soundsovielten Zigarre dem Aschenbecher zu opfern. Er rieb sich befriedigt die Hände und schob die kleine schwarze Samtkappe, die — ein würdiges Seitenstück des betagten Schlafrocks — den dünnbehaarten, massigen Schädel schützte, über die Stirn zurück. Dann stand er auf und öffnete ein Fenster. Vom Vorgarten, der Haus und Straße gleich einer erhöhten Terrasse trennte, atmeten die in voller Blüte stehenden zwei Kastanienbäume ihren milden, süßen Duft. Die untergehende Sonne warf rote Lichtbündel auf den Kiesplatz und sprenkelte die Gartenmöbel, die um den steinernen Tisch standen. Dort saß Marga, die Hände im Schoß, den Kopf mit dem schlichten, aschblonden Knoten weit gegen den Baumstamm zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Vom Kamin eines Hauses gegenüber schmetterte eine Amsel ihre Triller in die auffallend weiche, stille Luft des Maiabends. Marga schien angespannt zu lauschen. Ein Ausdruck, von Wonne und Weh seltsam gemischt, lag auf dem zarten Gesicht, das im Dämmerschatten des Baumes blasser aussah, als es war.

Der Geheimrat sah ihr einen Augenblick ruhig zu, ehe er sich entschloß, ihre Träumerei zu unterbrechen. Bei ihr, die sein Sorgenkind war, bekämpfte er mit einer Strenge, die ihm nicht leicht wurde, den für ihre zwanzig Jahre und ihre Blindheit begreiflichen Hang, sich in einer schwärmenden Gemütsstimmung einseitig zu verlieren. Gerade sie, der das Schicksal ein kärgeres Los zugemessen als den andern, wollte er davor behüten, ihre Kraft in einem überschwenglichen Gefühlsleben zu verzehren. Er vergaß darüber, daß die Unendlichkeit ihrer Träume sie auch wieder mit der verdunkelten Endlichkeit und Beschränkung ihres Daseins versöhnte.

„Na, Marga, du scheinst nicht so hungrig zu sein wie ich,” klang es jetzt mit neckendem Vorwurf zu ihr hinunter.

Ein leises Zittern lief über Margas Körper. Sie schrak zusammen, als kehrte sie plötzlich aus weiter, luftiger Ferne zurück, und die Augen irrten in die Höhe.

„Wir haben mit dem Abendbrot nur auf dich gewartet. Es ist alles fertig,” gab sie in leichter Verwirrung zurück; sie stand auf und eilte mit geübter Sicherheit der Glastür zu, die vom Erdgeschoß in den Vorgarten führte.

„Langsam, langsam!” mahnte der Geheimrat, während er sich vom Fenster zurückzog. Fast tat es ihm leid, sie aus ihrem verlorenen Sinnen geweckt zu haben. Er warf noch einen halb schmeichelnden, halb wehmütigen Abschiedsblick auf das Wirrsal seiner Manuskriptblätter, ehe er sein Zimmer verließ und die Treppe hinunterstieg.

Im Eßzimmer war alles seines Erscheinens gewärtig. Die Mädels kamen ihm entgegen und führten ihn wie im Ehrengeleit zu seinem bequemen Sessel. Käthe goß ihm den Tee ein. Marga strich seine gerösteten Butterschnitten. Elli schob ihm noch ein Kissen in den Rücken. Er ließ sich gern ein bißchen verwöhnen. Doch die Behendigkeit, mit der er heute bedient wurde, erschien ihm fast verdächtig.

Therese erschien mit den Schüsseln. Unauffällig stellte Käthe eine Platte mit jungen Spargeln als Sondergericht vor den väterlichen Teller.

Der Geheimrat stutzte. „Kinder, ich habe wohl heute Geburtstag, was? Frische Spargel! Anfang Mai! Wie komm' ich zu solchen Leckereien?” Er sah sich fragend im Kreise um. Sein eines Auge zwinkerte unmerklich.

„Marga und ich kamen auf der Hauptstraße bei Testers vorbei,” erklärte Käthe harmlos. „Wir sahen zufällig, daß er im Schaufenster die ersten Schwetzinger Spargel ausgestellt hatte, und weil du sie so gern magst —”

„So wollten sie dir eben eine Freude machen,” schloß Elli mit wohlgemeinter, aber verlegener Hast.

„Hm! Etwas unverantwortlich, aber nett von euch.” Es war jetzt für den alten Herrn ausgemacht, daß die Bande etwas von ihm wollte. Entweder mußten sie neue Frühjahrskleider haben oder sie wollten eine Einladung annehmen oder weiß Gott was. Es galt also, auf der Hut zu sein.

Käthe und Elli sahen sich mit verzweifelten Blicken an. Sie gaben das Treffen schon so gut wie verloren. Der etwas spöttische Ton verriet ihnen, daß Vater Richthoff die Absicht, ihn durch einen Leckerbissen in seiner guten Laune zu unterstützen, durchschaut habe.

Es entstand ein längeres Schweigen. Marga, der von Natur alle Diplomatie fremd war, empfand die kritische Situation am unbehaglichsten. Nur aus schwesterlicher Solidarität hatte sie sich mit dem Plan befreundet, das Geheimnis des „Neuen”, das zu ergründen man sich nun einmal in unschuldiger Kinderei verschworen hatte, auf raffinierten Umwegen herauszulocken. Ihr schien es geraten, jetzt geradezu aufs Ziel loszugehen.

„Hast du schon viele neue Hörer fürs Sommersemester, Papa?” fragte sie unbefangen. Und ohne sich durch einen Ellbogenstoß Ellis irremachen zu lassen, fuhr sie fort: „Bitte, erzähl' uns mal, wer heute alles bei dir war.”

Käthe und Elli blieb der Bissen im Halse stecken. Diese Kühnheit war unerhört. Noch ein ungeschicktes Wort, und Papa erriet, daß sie seine Sprechstunde belauert hatten. Im vorigen Jahr, als Wilkens sich einschreiben ließ, hatte er Elli einmal auf der Treppe erwischt: es hatte eine erschreckliche Strafpredigt über Anstand und Manieren abgesetzt. Und jetzt ...! Käthe trat Marga unter dem Tisch auf den Fuß. Es war einfach haarsträubend gefährlich, was sie da mit ihrer unverbesserlichen Offenheit anrichtete.

Der alte Herr liebte allerdings nichts weniger, als wenn man sich in seine „Amtsangelegenheiten” mischte. Wenn er etwas davon mitzuteilen für gut fand, war das eine seltene Huld und geschah aus freien Stücken. Wäre er weniger befriedigt von seinen römischen Kaisern gekommen, eine barsch ablehnende Antwort hätte nicht ausbleiben können. Aber guter Dinge, wie er war, begnügte er sich mit der mildesten Form, die er hatte, wenn es galt, unerwünschte Fragen abzuweisen: er überhörte sie und blieb eifrig in seine Mahlzeit vertieft.

Die drei Mädels kannten ihn zu genau, um nicht diesen stummen Bescheid zu verstehen.

Elli und Käthe verständigten sich durch einen Blick: Lasciate ogni speranza!

Marga hatte aufgehört zu essen. Sie hatte den Kopf gesenkt. Die Finger der rechten Hand strichen langsam das Tischtuch. Trauer und Beschämung prägten sich in ihrem Gesicht aus. Bei ihrer gesteigerten Empfindungsfähigkeit ging dieser stumme Tadel tiefer als eine entschiedene Zurückweisung. Sie fühlte sich überdies vor den Schwestern gedemütigt.

Dem alten Herrn entging ihre Stimmung nicht. Er wollte heute fröhliche Gesichter um sich sehen. „Sag mal, Marga,” begann er, nachdem er die zweite Tasse Tee in einem Zug geleert hatte, mit gravitätischem Ernst, „ich höre, du hast heimliche Herrenbekanntschaften!”

Käthe und Elli starrten erst Papa, dann die Schwester mit aufgerissenen Augen an.

„Ich — heimliche Herrenbekanntschaften?!” stammelte Marga.

„Na ja!” fuhr der Geheimrat im selben Ton fort, während er sich wie ein Großinquisitor im Sessel zurücklehnte. „Kennst du vielleicht einen gewissen Doktor Perthes? Ich glaube — ja doch — Max Perthes?”

„Perthes?” wiederholte Marga ungläubig und schüttelte den Kopf.

„Der Herr behauptet aber, dich zu kennen.”

„Davon weiß ich nichts,” beteuerte sie ernsthaft. Eine leichte Röte belebte ihre matten Farben. Sie erinnerte sich des Namens nicht. Sie kannte nur die Herren, die als Hörer des Geheimrats ein- oder zweimal im Jahr zur Abfütterung kamen, und auch diese nur flüchtig, denn solche offiziellen Gesellschaften pflegten für sie fast immer eine Qual zu sein, die sie nur auf Papas ausdrücklichen Wunsch ertrug.

„Was ist er denn?” platzte Elli hervor, die ihre Neugier nicht mehr bemeistern konnte. „Philolog oder Jurist oder —”

„Immer fein geduldig, Kleinchen! Bring mir meine Zigarren!”

Elli beeilte sich, die Kiste vor ihn hinzustellen. Erwartungsvoll blieb sie neben ihm stehen.

„Wo will er denn Marga kennen gelernt haben?” konnte nun auch die besonnene Käthe sich nicht enthalten zu fragen. Daß Marga einen Herrn kennen sollte, den sie und Elli nicht kannten, das war etwas zu Außergewöhnliches.

„Du hältst mich zum besten, Papa,” erklärte Marga bestimmt.

„Oho! Objektive, geschichtliche Tatsache! Quelle unanfechtbar!” Der alte Herr hatte sich die lange Holländerin angesteckt und blies den Rauch von sich. Er weidete sich an der Neugier seiner Mädels und gefiel sich darin, sie noch höher zu spannen. „Übrigens ein schrecklicher Modejüngling,” setzte er nach einer Pause seine Mitteilungen fort.

„Ein Modejüngling — und Marga!” rief Elli lachend. Käthe lachte mit, und auch Marga schüttelte mit leisem Lächeln von neuem den Kopf.

„Er ist, glaube ich, Mediziner.”

„Mediziner?” klang es dreifach noch ungläubiger zurück.

„Trägt er vielleicht ein Pfeffer-und-Salz-Jackett?” entfuhr es Elli. „Und —” Sie verstummte jäh, über sich selber erschrocken. In ihrer übersprudelnden Lebhaftigkeit hatte sie alle Vorsicht vergessen.

Käthe war außer sich über diese Dummheit. Sie stand auf, Marga folgte ihr. Alle drei umstanden sie den kurulischen Sessel des Geheimrats, der Gott sei Dank keine Ahnung von so modischen Fachausdrücken wie „Pfeffer-und-Salz-Jackett” hatte und von seinen Besuchern alles andere eher denn Einzelheiten ihrer Kleidung im Gedächtnis behielt.

„Pfeffer-und-Salz-Jackett?” wiederholte er kopfschüttelnd. „Woher kennst denn du ihn, Kleinchen?”

„Nein, nein! Ich meinte nur so; ich kenne ihn so wenig wie irgendwer,” versicherte Elli krampfhaft.

„Also, kurz und gut,” resümierte der alte Herr, „er behauptet, Volontärarzt in Hemsbach gewesen zu sein.”

„Volontärarzt? In Hemsbach?” Marga besann sich. Sie war dort einen Sommer über — es war vier, fünf Jahre her — in einer Blindenanstalt gewesen, um sich in ihren Fertigkeiten zu vervollkommnen. Aus ihrer Erinnerung an diese schwere Zeit löste sich jetzt eine entfernte Gestalt. Damals war neben dem Direktor ein jüngerer Arzt dort, der sich gern mit ihr unterhielt und mit ihr lernte. Jetzt kam ihr auch der Name zurück. „Ach, der!” setzte sie plötzlich gedankenvoll hinzu.

„Jawohl — der!” schmunzelte der Geheimrat. „Habe ich nun recht, wenn ich sage, Marga hat heimliche Herrenbekanntschaften?”

„Natürlich hast du recht!” rief Elli lustig. „Das sind ja nette Sachen, die man von dir hört, Margakind!” Sie schlang den Arm um Margas Hals und zupfte sie neckend am Ohr.

„Und gar nie ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen!” sagte Käthe ganz vorwurfsvoll.

„Aber das war ja nur eine ganz flüchtige Bekanntschaft,” verteidigte sich Marga. Sie war ordentlich bestürzt. Ihre Augen gingen ratlos auf die Suche. Sie war rührend in ihrer leichten Erregung und verschämten Hilflosigkeit. Dazu regte sich etwas wie Stolz in ihr. Daß der Besuch des „Neuen”, der die Gemüter so beschäftigt hatte und nun unerwartet, kampflos aus seinem Inkognito hervorgetreten war, gerade mit ihr zusammenhing, war ein für ihre abgeschlossene Welt ungewöhnliches Ereignis. „Doktor Perthes war übrigens gar kein solcher Laffe,” erklärte sie nach einigem Besinnen mit ernsthaftem Nachdruck und unter allgemeiner Heiterkeit.

Der alte Herr erhob sich jetzt gleichfalls von seinem Sessel und klopfte ihr auf die Schulter. „Jedenfalls hast du ihn mir auf den Hals gehetzt, Kind. Er behauptet steif und fest, du hättest ihn eingeladen, uns zu besuchen, wenn er je einmal hierherkäme. Zugegeben?”

„Das weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, daß er damals freundlich zu mir war und —”

„Närrchen! Natürlich kam er nicht nur deshalb und deinetwegen. Er hatte an mich eine Empfehlung von meinem Freunde Schlutius in Bonn, der irgendwie mit ihm verwandt ist. Das genügt! Käthe, setz ihn auf die Liste. Er wird gelegentlich mal eingeladen. Und damit hat der Schnack ein Ende.” Er gab Marga einen leichten Backenstreich. Das war ein Zeichen seiner höchsten Gunst. Dann nahm er seine Abendzeitung vor und ging durch Wohnzimmer und Salon nach der verglasten Veranda auf der Vorderseite des Hauses. Dort brannte schon die Lampe, unter deren Schein er lesend eine halbe Stunde auf und ab ging, ehe er wieder zu seinen Kaisern hinaufstieg.

Für die drei Mädels aber hatte der Schnack noch kein Ende. Kaum war Vater Richthoff außer Hörweite, so wurde Marga von Elli und Käthe mit Fragen über und über bestürmt. Sie wußte nicht halb soviel, als sie hätte wissen müssen. Elli, die ihren siebzehnjährigen Übermut austoben mußte, wo immer eine Gelegenheit sich bot, faßte Marga als Herr um die Taille. Marga mußte jetzt unbedingt tanzen lernen. „Was soll dein Doktor sonst von dir denken? Dein Doktor kann das von dir verlangen. Dein Doktor wird entsetzt sein, wenn du solche Schritte machst.” So ging der lose Mund atemlos immerzu, während sie Marga unerbittlich im Kreise drehte, ob diese wollte oder nicht. Käthe schrieb indessen feierlich „Doktor Max Perthes” auf die Liste der Einzuladenden, die zu führen Papa ihr anvertraut hatte, und hielt, unbekümmert, ob sie gehört wurde oder nicht, sehr weise Reden darüber, daß sie den „Neuen” gleich für einen Mediziner gehalten hätte; daß Mediziner immer so und so aussehen und immer solche und solche Menschen seien.

Zum Glück für Marga fiel es den Schwestern plötzlich ein, daß ja heute der „Akademische Gesangverein” Probe hatte. Wollte man nicht zu spät kommen und von Professor Külz ein Nasenrümpfen beziehen, so war es höchste Zeit zum Aufbruch. Im Nu stürmte Elli davon, um sich fertigzumachen. Ihr feines Stimmchen trällerte die zu probende Bachkantate durchs Haus. Käthe folgte ihr, nachdem sie Therese zum Abräumen des Tisches gerufen.

Marga blieb im Eßzimmer zurück. Sie war wie betäubt von der letzten Viertelstunde. Von Papas neckender Enthüllung und dem Umtrieb, den Elli mit ihr angestellt hatte. Sie ordnete das zerzauste Haar, dessen Strähnen von dem unfreiwilligen Tanz sich an den Schläfen und im Nacken gelöst hatten. Während Therese abzuräumen begann, ging sie auf den kleinen Hof hinaus, der in gleicher Höhe mit dem ersten Stock hinter dem Hause lag, und von dem ein steiler Weg bergwärts in den Garten oder, wie er allgemein hieß, den „Weinberg” führte.

Es war schon kühl geworden. Eine reine, würzige Luft strich vom Weinberg herunter. Die Dämmerung, deren dunkles Wachsen Marga um sich fühlte, tat ihr wohl. Sie kreuzte die Arme hinter dem Rücken und verschränkte die Hände. Das war ihre liebste Haltung, wenn ein Ungewohntes in ihrem Innern wirkte. So schritt sie langsam im Hof auf und nieder. So überdachte und verarbeitete sie das Kleinste und das Größte, bis es in die große und einfache Stille ihrer Seele aufgegangen war, die nichts Unfertiges und Unklares in sich duldete. Eine um die andere ging sie ihre Empfindungen durch. Erst war sie erschrocken, als Papa sie so gravitätisch vornahm und zur Rede stellte. Dann hatte sie den Scherz herausgemerkt. Freude und Stolz hatte sie gefühlt, daß ein Mann sich ihrer erinnerte, nach ihr sich erkundigte und ihretwegen Besuch machte. Jedes andere junge Mädchen hätte an ihrer Stelle ähnliches empfunden. Für sie war es nur neuer, verwirrender, weil das Leben da draußen, das Leben der Weltmenschen, wie sie es nannte, sich immer nur um die beiden Schwestern zu kümmern pflegte, nicht um sie. Sie wollte ihre heimliche Freude in der Lustigkeit der Schwestern aufgehen lassen. Willig ließ sie sich ausfragen, sich necken, mit sich tollen. Aber unvermutet stieg ein anderes Gefühl in ihr auf, ein bitteres, schmerzliches: hinter der Fröhlichkeit der anderen steckte etwas, das sie verletzte, ohne daß sie es wußten oder wollten. Daß es gerade sie war, Marga, die Blinde, die Ausgeschlossene; sie, bei der die Bekanntschaft mit einem Mann so gar nichts zu bedeuten hatte — das machte die Sache so besonders spaßhaft. Es war so komisch, weil es so ganz ungefährlich war. Und im selben Sinne hatte es auch Papa aufgenommen: „Damit hat der Schnack ein Ende!” — hinter diesem Wort fand ihr Grübeln die gleiche Grenze, jenseits deren es für sie keine Wünsche, keine Hoffnungen, darum auch keinen Ernst geben konnte.

Und an jene Grenze stieß auch jetzt sie selbst, während sie so sicher und still in dem ihr vertrauten Hofraum auf und ab schritt. Sie hatten ja recht. Es war in Wirklichkeit so. Dies Jenseits war ihr genommen, seit in ihrem vierzehnten Jahr, zwei Jahre nach dem Tod ihrer Mutter, eine Netzhautablösung ihre ohnehin schon schwachen Augen für immer gelöscht hatte. Damals hatte sie nur halb begriffen, was sie verloren. Erst mit den Jahren wuchs auch das Verständnis ihres Verlustes. Die Schwestern und alle, mit denen sie umging, sprachen nie davon. Aus ihrem Mitleid erriet sie es. Immer besser, immer bestimmter wußte sie, daß das höchste Glück, das einem Menschenkind nach irdischem Denken und Fühlen aufbehalten war, nicht das ihre sein konnte. Sie fühlte Kraft genug in sich, um zu entsagen. Sie kämpfte, sie rang, sie ruhte nicht, bis ihre Stille ihr gab, was sie brauchte; bis sie mit sich allein zufrieden sein und nur in sich selber ihr Glück suchen wollte. Ihr Stolz kam ihr zu Hilfe; ihr Stolz hielt sie aufrecht, wenn sie zu verzagen und schwach zu werden drohte.

Und dennoch — dennoch! Es war noch eine andere Kraft in ihr, die sich mitunter gegen ihre stille Ergebenheit aufbäumte. Ihre Jugend ließ und ließ sich nicht auf einmal und für immer niederzwingen. Die fühlte sie auch jetzt sich auflehnen. Die stürmte in ihr auf, daß sie die Hände an die heißen, pochenden Schläfen legen mußte. War nicht dieser Doktor Perthes doch vielleicht um ihretwillen gekommen? Er konnte ja die Empfehlung, von der Papa sprach, sich haben nur darum geben lassen, weil er sie wiedersehen wollte. Es brauchte nicht nur der Wunsch zu sein, Verkehr zu haben oder höflich zu sein oder ihr seine mitleidsvolle Achtung auszudrücken — — Aber das war ja Unsinn! Sie schwärmte ja! Sie täuschte sich vor, ihn näher zu kennen, als sie ihn je gekannt. Das Bild, das ihr die Erinnerung gab, bestand kaum aus ein paar spärlichen Zügen: er hatte manchmal mit ihr geplaudert, sie belehrt, war auf die Gedanken und Gefühle eines halberwachsenen Mädchens nachsichtig eingegangen. Sie machte jetzt ihre Erinnerung mit Gewalt ärmer, als sie war. Sie wollte nicht schwächlich, weich gegen sich sein, sondern tapfer. Und klar, wie sie es immer von sich verlangte. Rücksichtslos klar.

Jetzt war sie schon so weit, daß sie lächeln konnte. Lächeln über den winzigen, eingebildeten Sturm, der ihr Gleichgewicht hatte stören wollen.

Langsam stieg sie vom Hof in den Weinberg hinauf.

Der Nachtwind rüttelte leise und friedlich in den Büschen und Baumkronen. Von dem Fliederstrauch bei der ersten Laube nahm er eine Wolke blühenden Duftes und hauchte sie über Marga aus. Hoch und höher stieg sie; kaum daß sie an einen Stein anstieß, so vertraut war ihr die Steige. Bis zu ihrer Pappel, die hinter der zweiten Laube stand, klomm sie empor.

Dort lehnte sie sich gegen den rissigen Stamm.

Die Nacht war ihre Freundin. Sie wuchs von unten herauf, aus der Ebene, wo die Stadt einschlummerte; wo draußen ferne Tannensäume starrten und der Fluß zwischen jungen Feldern sich verlor, in Margas Träumen so schön wie in keiner Wirklichkeit. Sie senkte sich auf sie herab, aus der unendlichen Höhe und Tiefe des Himmels, wo die Sterne blitzen mußten, nein blitzten — ein einziges, ewiges, königliches Gewirk von leuchtendem Gold und seliger Bläue. Weit, weit breitete sie die Arme aus, als könnte sie die Nacht, die friedliche, an sich raffen. Aus der Ferne und Nähe, von unten, von oben. Und dann schlang sie die Hände beglückt über ihrem Kopf ineinander; so frei fühlte sie sich, so klar, so in sich selber und in der Nacht geborgen.

Die große Stille

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