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I.

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Da er Raat hieß, nann­te die gan­ze Schu­le ihn Un­rat. Nichts konn­te ein­fa­cher und na­tür­li­cher sein. Der und je­ner Pro­fes­sor wech­sel­ten zu­wei­len ihr Pseud­onym. Ein neu­er Schub Schü­ler ge­lang­te in die Klas­se, leg­te mord­gie­rig eine vom vo­ri­gen Jahr­gang noch nicht ge­nug ge­wür­dig­te Ko­mik an dem Leh­rer bloß und nann­te sie scho­nungs­los bei Na­men. Un­rat aber trug den sei­ni­gen seit vie­len Ge­ne­ra­tio­nen, der gan­zen Stadt war er ge­läu­fig, sei­ne Kol­le­gen be­nutz­ten ihn au­ßer­halb des Gym­na­si­ums und auch drin­nen, so­bald er den Rücken dreh­te. Die Her­ren, die in ih­rem Hau­se Schü­ler ver­pfleg­ten und sie zur Ar­beit an­hiel­ten, spra­chen vor ih­ren Pen­sio­nären vom Pro­fes­sor Un­rat. Der auf­ge­weck­te Kopf, der den Or­di­na­ri­us der Un­ter­se­kun­da hät­te neu be­ob­ach­ten und noch­mals ab­stem­peln wol­len, wäre nie durch­ge­drun­gen; schon dar­um nicht, weil der ge­wohn­te Ruf auf den al­ten Leh­rer noch so gut sei­ne Wir­kung übte wie vor sechs­und­zwan­zig Jah­ren. Man brauch­te nur auf dem Schul­hof, so­bald er vor­bei­kam, ein­an­der zu­zu­schrei­en:

»Riecht es hier nicht nach Un­rat?«

Oder:

»Oho! Ich wit­te­re Un­rat!«

Und so­fort zuck­te der Alte hef­tig mit der Schul­ter, im­mer mit der rech­ten, zu ho­hen, und sand­te schief aus sei­nen Bril­lenglä­sern einen grü­nen Blick, den die Schü­ler falsch nann­ten, und der scheu und rach­süch­tig war: der Blick ei­nes Ty­ran­nen mit schlech­tem Ge­wis­sen, der in den Fal­ten der Män­tel nach Dol­chen späht. Sein höl­zer­nes Kinn mit dem dün­nen, grau­gel­ben Bärt­chen dar­an klapp­te her­un­ter und hin­auf. Er konn­te dem Schü­ler, der ge­schri­en hat­te, »nichts be­wei­sen« und muss­te weiter­schlei­chen auf sei­nen ma­gern, ein­ge­knick­ten Bei­nen und un­ter sei­nem fet­ti­gen Mau­rer­hut.

Zu sei­ner Ju­bel­fei­er im Vor­jahr hat­te das Gym­na­si­um ihm einen Fa­ckel­zug ge­bracht. Er war auf sei­nen Bal­kon ge­tre­ten und hat­te ge­re­det. Wäh­rend alle Köp­fe, in den Na­cken ge­legt, zu ihm hin­aufsa­hen, war plötz­lich eine un­schö­ne Quetsch­stim­me los­ge­gan­gen:

»Da ist Un­rat in der Luft!«

An­de­re hat­ten wie­der­holt:

»Un­rat in der Luft! Un­rat in der Luft!«

Der Pro­fes­sor dort oben fing an zu stot­tern, ob­wohl er den Zwi­schen­fall vor­aus­ge­sehn hat­te, und sah da­bei je­dem der Schrei­er in den ge­öff­ne­ten Mund. Die an­de­ren Her­ren stan­den in der Nähe; er fühl­te, dass er wie­der ein­mal »nichts be­wei­sen« kön­ne; aber er merk­te sich alle Na­men. Schon tags dar­auf gab der mit der ge­quetsch­ten Stim­me da­durch, dass er das Hei­mat­dorf der »Jung­frau von Or­leans« nicht kann­te, dem Pro­fes­sor Ge­le­gen­heit zu der Ver­si­che­rung, er wer­de ihm im Le­ben noch oft­mals hin­der­lich sein. Rich­tig war die­ser Kie­se­lack zu Os­tern nicht ver­setzt wor­den. Mit ihm blie­ben die meis­ten in der Klas­se zu­rück von de­nen, die am Ju­bi­lä­ums­abend ge­schri­en hat­ten, so auch von Ertz­um. Loh­mann hat­te nicht ge­schri­en und blieb den­noch sit­zen. Die­ser er­leich­ter­te die Ab­sicht Un­rats durch sei­ne Träg­heit und je­ner durch sei­ne Un­be­gabt­heit. Nächs­ten Spät­herbst nun, an ei­nem Vor­mit­tag um elf, in der Pau­se vor dem Klas­sen­auf­satz über die »Jung­frau von Or­leans«, ge­sch­ah es, dass von Ertz­um, der der Jung­frau im­mer noch nicht nä­her­ge­tre­ten war und eine Ka­ta­stro­phe vor­aus­sah, in ei­nem An­fall schwer­fäl­li­ger Verzweif­lung das Fens­ter auf­riss und aufs Ge­ra­te­wohl mit wüs­ter Stim­me in den Ne­bel hin­aus­brüll­te:

»Un­rat!«

Es war ihm un­be­kannt, ob der Pro­fes­sor in der Nähe sei, und es war ihm gleich­gül­tig. Der arme, brei­te Land­jun­ker war nur von dem Be­dürf­nis fort­ge­ris­sen wor­den, noch einen kur­z­en Au­gen­blick sei­nen Or­ga­nen frei­es Spiel zu ge­wäh­ren, be­vor er sich für zwei Stun­den hin­ho­cken muss­te vor ein wei­ßes Blatt, das leer war, und es mit Wor­ten be­de­cken aus sei­nem Kopf her­aus, der auch leer war. Tat­säch­lich aber ging Un­rat gra­de über den Hof. Als der Ruf aus dem Fens­ter ihn traf, mach­te er einen ecki­gen Sprung. Im Ne­bel dro­ben un­ter­schied er von Ertz­ums knor­ri­gen Um­riss. Kein Schü­ler hielt sich drun­ten auf, kei­nem konn­te von Ertz­um das Wort zu­ge­ru­fen ha­ben. »Die­ses Mal«, dach­te Un­rat frohlo­ckend, »hat er mich ge­meint. Dies­mal kann ich es ihm be­wei­sen!«

Er nahm die Trep­pe in fünf Sät­zen, riss die Klas­sen­tür auf, has­te­te zwi­schen den Bän­ken hin­durch, schwang sich, in das Ka­the­der ge­krallt, auf die Stu­fe. Da blieb er be­bend stehn und muss­te Atem schöp­fen. Die Se­kun­da­ner hat­ten sich zu sei­ner Be­grü­ßung er­ho­ben, und äu­ßers­ter Lärm war jäh in ein Schwei­gen ver­sun­ken, das förm­lich be­täub­te. Sie sa­hen ih­rem Or­di­na­ri­us zu wie ei­nem ge­mein­ge­fähr­li­chen Vieh, das man lei­der nicht tot­schla­gen durf­te, und das au­gen­blick­lich so­gar einen pein­li­chen Vor­teil über sie ge­won­nen hat­te. Un­rats Brust ar­bei­te­te hef­tig; schließ­lich sag­te er mit sei­ner be­gra­be­nen Stim­me:

»Es ist mir da vor­hin im­mer mal wie­der ein Wort zu­ge­ru­fen wor­den, eine Be­zeich­nung – ein Name denn also: ich bin nicht ge­willt, ihn mir bie­ten zu las­sen. Ich wer­de die­se Schmä­hung durch sol­che Men­schen, als wel­che ich Sie ken­nen­zu­ler­nen lei­der Ge­le­gen­heit hat­te, nie dul­den, mer­ken Sie sich das! Ich wer­de Sie fas­sen, wo im­mer ich es ver­mag. Ihre Ver­wor­fen­heit, von Ertz­um, nicht ge­nug da­mit, dass sie mir Ab­scheu ein­flö­ßt, soll sie an der Fes­tig­keit ei­nes Ent­schlus­ses wie Glas zer­bre­chen, den ich Ih­nen hier­mit ver­kün­de. Noch heu­te wer­de ich von Ih­rer Tat dem Herrn Di­rek­tor An­zei­ge er­stat­ten, und was in mei­ner Macht steht, soll – traun für­wahr – ge­sche­hen, da­mit die An­stalt we­nigs­tens von dem schlimms­ten Ab­schaum der mensch­li­chen Ge­sell­schaft be­freit wer­de!«

Da­rauf riss er sich den Man­tel von den Schul­tern und zisch­te:

»Set­zen!«

Die Klas­se setz­te sich, nur von Ertz­um blieb stehn. Sein di­cker, gelb punk­tier­ter Kopf war jetzt so feu­er­rot wie die Bors­ten oben dar­auf. Er woll­te et­was sa­gen, setz­te mehr­mals an, gab es wie­der auf. Schließ­lich stieß er her­aus:

»Ich bin es nicht ge­we­sen, Herr Pro­fes­sor!«

Meh­re­re Stim­men un­ter­stütz­ten ihn, op­fer­freu­dig und so­li­da­risch:

»Er ist es nicht ge­we­sen!«

Un­rat stampf­te auf:

»Stil­le! … Und Sie, von Ertz­um, mer­ken Sie sich, dass Sie nicht der ers­te Ihres Na­mens sind, den ich in sei­ner Lauf­bahn – ge­wiss nun frei­lich – be­trächt­lich auf­ge­hal­ten habe, und dass ich Ih­nen auch fer­ner Ihr Fort­kom­men, wenn nicht gar un­mög­lich ma­chen, so doch, wie sei­ner­zeit Ihrem On­kel, we­sent­lich er­schwe­ren wer­de. Sie wol­len Of­fi­zier wer­den, nicht wahr, von Ertz­um? Das woll­te Ihr On­kel auch. Weil er je­doch das Ziel der Klas­se nie er­reich­te und das Rei­fe­zeug­nis für den Ein­jäh­rig-Frei­wil­li­gen-Dienst – auf­ge­merkt nun also – ihm dau­ernd ver­sagt wer­den muss­te, kam er auf eine so­ge­nann­te Pres­se, wo er je­doch eben­falls ge­schei­tert sein mag, so­dass er end­lich nur in­fol­ge ei­nes be­son­de­ren Gna­den­ak­tes sei­nes Lan­des­herrn – doch nun im­mer­hin – den Zu­tritt zur Of­fi­ziers­kar­rie­re er­lang­te, die er dann aber, scheint es, bald wie­der un­ter­bre­chen muss­te. Wohl­an! Das Schick­sal Ihres On­kels, von Ertz­um, dürf­te auch das Ihre wer­den oder doch dem je­nes sich ähn­lich ge­stal­ten. Ich wün­sche Ih­nen Glück dazu, von Ertz­um. Mein Ur­teil über Ihre Fa­mi­lie, von Ertz­um, steht seit fünf­zehn Jah­ren fest … Und nun …«

Hier­bei schwoll Un­rats Stim­me un­ter­ir­disch an.

»Sie sind nicht wür­dig, an der er­ha­be­nen Jung­frau­en­ge­stalt, zu der wir jetzt über­ge­hen, Ihre geist­lo­se Fe­der zu wet­zen. Fort mit Ih­nen ins Ka­buff!«

Von Ertz­um, lang­sam von Ver­ständ­nis, lausch­te noch im­mer. Vor an­ge­streng­ter Auf­merk­sam­keit ahm­te er un­be­wusst mit den Kie­fern die Be­we­gun­gen nach, die der Pro­fes­sor mit den sei­ni­gen voll­führ­te. Un­rats Kinn, in des­sen obe­rem Rand meh­re­re gel­be Grä­ten sta­ken, roll­te, wäh­rend er sprach, zwi­schen den höl­zer­nen Mund­fal­ten wie auf Ge­lei­sen, und sein Spei­chel spritz­te bis auf die vor­ders­te Bank. Er schrie auf:

»Sie ha­ben die Kühn­heit, Bur­sche! … Fort, sage ich, ins Ka­buff!«

Auf­ge­scheucht dräng­te von Ertz­um sich aus der Bank her­vor. Kie­se­lack raun­te ihm zu:

»Mensch, wehr dich doch!«

Loh­mann, da­hin­ter, ver­hieß un­ter­drückt:

»Lass nur, den krie­gen wir noch wie­der kir­re.«

Der Ver­ur­teil­te troll­te sich am Ka­the­der vor­bei, in das Ge­lass, das der Klas­se als Gar­de­ro­be diente, und worin es stock­fins­ter war. Un­rat stöhn­te vor Er­leich­te­rung, als hin­ter dem brei­ten Men­schen sich die Tür ge­schlos­sen hat­te.

»Nun wol­len wir die Zeit nach­ho­len«, sag­te er, »die uns die­ser Bur­sche ge­stoh­len hat. Angst, hier ha­ben Sie das The­ma, schrei­ben Sie es an die Ta­fel.«

Der Pri­mus nahm den Zet­tel vor sei­ne kurz­sich­ti­gen Au­gen und mach­te sich lang­sam ans Schrei­ben. Alle sa­hen mit Span­nung un­ter der Krei­de die Buch­sta­ben ent­stehn, von de­nen so viel ab­hing. Wenn es nun eine Sze­ne be­traf, die man zu­fäl­lig nie »prä­pa­riert« hat­te, dann hat­te man »kei­nen Dunst« und »saß drin«. Aus Aber­glau­be sag­te man, noch be­vor die Sil­ben an der Ta­fel einen Sinn an­nah­men:

»O Gott, ich fall’ rein.«

Schließ­lich stand dort oben zu le­sen:

Jo­han­na: Es wa­ren drei Ge­be­te, die du tatst;

Gib wohl acht, Dau­phin, ob ich sie dir nen­ne!

(»Jung­frau von Or­leans«, I. Auf­zug, 10. Auf­tritt.)

The­ma: Das drit­te Ge­bet des Dau­phins.

Als sie dies ge­le­sen hat­ten, sa­hen alle ein­an­der an. Denn alle »sa­ßen drin«. Un­rat hat­te sie »hin­ein­ge­legt«. Er ließ sich mit ei­nem schie­fen Lä­cheln im Lehn­stuhl auf dem Ka­the­der nie­der und blät­ter­te in sei­nem No­tiz­buch.

»Nun?« frag­te er, ohne auf­zu­sehn, als sei al­les klar, »wol­len Sie noch was wis­sen? … Also los!«

Die meis­ten knick­ten über ih­rem Heft zu­sam­men und ta­ten, als schrie­ben sie schon. Ei­ni­ge starr­ten ent­geis­tert vor sich hin.

»Sie ha­ben noch fünf­vier­tel Stun­den«, be­merk­te Un­rat gleich­mü­tig, wäh­rend er in­ner­lich ju­bel­te. Die­ses Auf­satz­the­ma hat­te noch kei­ner ge­fun­den von den un­be­greif­lich ge­wis­sen­lo­sen Schul­män­nern, die durch ge­druck­te Leit­fä­den es der Ban­de er­mög­lich­ten, mü­he­los und auf Esels­brücken die Ana­ly­se je­der be­lie­bi­gen Dra­men­sze­ne her­zu­stel­len.

Man­che in der Klas­se er­in­ner­ten sich des zehn­ten Auf­tritts im ers­ten Auf­zug und kann­ten bei­läu­fig die zwei ers­ten Ge­be­te Karls. Vom drit­ten wuss­ten sie nichts mehr, es war, als hät­ten sie es nie ge­le­sen. Der Pri­mus und noch zwei oder drei, dar­un­ter Loh­mann, wa­ren so­gar si­cher, sie hät­ten es nie ge­le­sen. Der Dau­phin ließ sich ja von der Pro­phe­tin nur zwei sei­ner nächt­li­chen Bit­ten wie­der­ho­len; das ge­nüg­te ihm, um an Jo­han­nas Gott­ge­sandt­heit zu glau­ben. Das drit­te stand schlech­ter­dings nicht da. Dann stand es ge­wiss an ei­ner an­de­ren Stel­le oder er­gab sich ir­gend­wo mit­tel­bar aus dem Zu­sam­men­hang; oder es ging gar ohne wei­te­res in Er­fül­lung, ohne dass man wis­sen konn­te, hier ging et­was in Er­fül­lung? Dass es einen Punkt ge­ben konn­te, wo er nie­mals auf­ge­merkt hat­te, das gab auch der Pri­mus Angst im Stil­len zu. Auf alle Fäl­le muss­te über die­ses drit­te Ge­bet, ja selbst über ein vier­tes und fünf­tes, wenn Un­rat es ver­langt hät­te, ir­gen­det­was zu sa­gen sein. Über Ge­gen­stän­de, von de­ren Vor­han­den­sein man nichts we­ni­ger als über­zeugt war, etwa über die Pf­licht­treue, den Se­gen der Schu­le und die Lie­be zum Waf­fen­dienst, eine ge­wis­se An­zahl Sei­ten mit Phra­sen zu be­de­cken, dazu war man durch den deut­schen Auf­satz seit Jah­ren er­zo­gen. Das The­ma ging einen nichts an; aber man schrieb. Die Dich­tung, der es ent­stamm­te, war ei­nem, da sie schon seit Mo­na­ten dazu diente, einen »hin­ein­zu­le­gen«, auf das gründ­lichs­te ver­lei­det; aber man schrieb mit Schwung.

Mit der »Jung­frau von Or­leans« be­schäf­tig­te die Klas­se sich seit Os­tern, seit drei­vier­tel Jah­ren. Den Sit­zen­ge­blie­be­nen war sie so­gar schon aus dem Vor­jahr ge­läu­fig. Man hat­te sie vor- und rück­wärts ge­le­sen, Sze­nen aus­wen­dig ge­lernt, ge­schicht­li­che Er­läu­te­run­gen ge­lie­fert, Poe­tik an ihr ge­trie­ben und Gram­ma­tik, ihre Ver­se in Pro­sa über­tra­gen und die Pro­sa zu­rück in Ver­se. Für alle, die beim ers­ten Le­sen Schmelz und Schim­mer auf die­sen Ver­sen ge­spürt hat­ten, wa­ren sie längst er­blin­det. Man un­ter­schied in der ver­stimm­ten Lei­er, die täg­lich wie­der ein­setz­te, kei­ne Me­lo­die mehr. Nie­mand ver­nahm die ei­gen wei­ße Mäd­chen­stim­me, in der geis­ter­haf­te, stren­ge Schwer­ter sich er­he­ben, der Pan­zer kein Herz mehr deckt, und En­gel­flü­gel, weit aus­ge­brei­tet, licht und grau­sam da­stehn. Wer von die­sen jun­gen Leu­ten spä­ter ein­mal un­ter der fast schwü­len Un­schuld je­ner Hir­tin ge­zit­tert hät­te, wer den Tri­umph der Schwä­che in ihr ge­liebt hät­te, wer um die kind­li­che Ho­heit, die, vom Him­mel ver­las­sen, zu ei­nem ar­men, hilf­los ver­lieb­ten klei­nen Mä­del wird, je ge­weint hät­te, der wird nun das al­les nicht so bald er­le­ben. Zwan­zig Jah­re viel­leicht wird er brau­chen, bis Jo­han­na ihm wie­der et­was an­de­res sein kann als eine stau­bi­ge Pe­dan­tin.

*

Die Fe­dern krit­zel­ten; Pro­fes­sor Un­rat lug­te, mit nichts wei­ter be­schäf­tigt, über die ge­beug­ten Na­cken hin­weg. Es war ein gu­ter Tag, an dem er einen »ge­fasst« hat­te, be­son­ders wenn es ei­ner war, der ihm »sei­nen Na­men« ge­ge­ben hat­te. Da­durch ward das gan­ze Jahr gut. Lei­der hat­te er schon seit zwei Jah­ren kei­nen der heim­tücki­schen Schrei­er mehr »fas­sen« kön­nen. Das wa­ren schlech­te Jah­re ge­we­sen. Ein Jahr war gut oder schlecht, je nach­dem Un­rat ei­ni­ge »fass­te« oder ih­nen »nichts be­wei­sen« konn­te.

Un­rat, der sich von den Schü­lern hin­ter­rücks an­ge­fein­det, be­tro­gen und ge­hasst wuss­te, be­han­del­te sie sei­ner­seits als Erb­fein­de, von de­nen man nicht ge­nug »hin­ein­le­gen« und vom »Ziel der Klas­se« zu­rück­hal­ten konn­te. Da er sein Le­ben ganz in Schu­len ver­bracht hat­te, war es ihm ver­sagt ge­blie­ben, die Kna­ben und ihre Din­ge in die Per­spek­ti­ve des Er­fah­re­nen zu schie­ben. Er sah sie so nah, wie ei­ner aus ih­rer Mit­te, der un­ver­se­hens mit Macht­be­fug­nis­sen aus­ge­stat­tet und aufs Ka­the­der er­ho­ben wäre. Er re­de­te und dach­te in ih­rer Spra­che, ge­brauch­te ihr Rot­welsch, nann­te die Gar­de­ro­be ein »Ka­buff«. Er hielt sei­ne An­spra­chen in dem Stil, den auch sie in sol­chen Fäl­len an­ge­wen­det ha­ben wür­den, näm­lich in la­ti­ni­sie­ren­den Pe­ri­oden und durch­wirkt mit »traun für­wahr«, »denn also« und ähn­li­chen Häu­fun­gen al­ber­ner klei­ner Flick­wor­te, Ge­wohn­hei­ten sei­ner Ho­mer­stun­de in Pri­ma; denn die leich­ten Um­ständ­lich­kei­ten des Grie­chen muss­ten alle recht plump mit­über­setzt wer­den. Da er sel­ber stei­fe Glied­ma­ßen be­kom­men hat­te, ver­lang­te er das glei­che von den an­de­ren In­sas­sen der An­stalt. Das fort­wäh­ren­de Be­dürf­nis in ju­gend­li­chen Glie­dern und in ju­gend­li­chen Ge­hir­n­en, in de­nen von Kna­ben, von jun­gen Hun­den – ihr Be­dürf­nis zu ja­gen, Lärm zu ma­chen, Püf­fe aus­zu­tei­len, weh zu tun, Strei­che zu be­gehn, über­flüs­si­gen Mut und Kraft ohne Ver­wen­dung auf nichts­nut­zi­ge Wei­se los­zu­wer­den: Un­rat hat­te es ver­ges­sen und nie be­grif­fen. Wenn er straf­te, tat er es nicht mit dem über­le­ge­nen Vor­be­halt: »Ihr seid Ran­gen, wie’s euch zu­kommt, aber Zucht muss sein«; son­dern er straf­te im Ernst und mit zu­sam­men­ge­bis­se­nen Zäh­nen. Was in der Schu­le vor­ging, hat­te für Un­rat Ernst und Wirk­lich­keit des Le­bens. Träg­heit kam der Ver­derb­lich­keit ei­nes un­nüt­zen Bür­gers gleich, Unacht­sam­keit und La­chen wa­ren Wi­der­stand ge­gen die Staats­ge­walt, eine Knall­erb­se lei­te­te Re­vo­lu­ti­on ein, »ver­such­ter Be­trug« ent­ehr­te für alle Zu­kunft. Aus sol­chen An­läs­sen er­bleich­te Un­rat. Schick­te er einen ins »Ka­buff«, war ihm da­bei zu­mu­te wie dem Selbst­herr­scher, der wie­der ein­mal einen Hau­fen Um­stürz­ler in die Straf­ko­lo­nie ver­sen­det und, mit Angst und Tri­umph, zu­gleich sei­ne volls­te Macht und ein un­heim­li­ches Wüh­len an ih­rer Wur­zel fühlt. Und den aus dem »Ka­buff« Zu­rück­ge­kehr­ten und al­len an­de­ren, die ihn je an­ge­tas­tet hat­ten, ver­gaß Un­rat es nie. Da er seit ei­nem Vier­tel­jahr­hun­dert an der An­stalt wirk­te, wa­ren Stadt und Um­ge­gend voll von sei­nen ehe­ma­li­gen Schü­lern, von sol­chen, die er bei Nen­nung sei­nes Na­mens »ge­fasst« oder de­nen er es »nicht hat­te be­wei­sen« kön­nen, und die alle ihn noch jetzt so nann­ten! Die Schu­le en­de­te für ihn nicht mit der Hof­mau­er; sie er­streck­te sich über die Häu­ser rings­um­her und auf alle Al­ter­sklas­sen der Ein­woh­ner. Über­all sa­ßen stör­ri­sche, ver­wor­fe­ne Bur­schen, die »ih­r’s« nicht »prä­pa­riert« hat­ten und den Leh­rer be­fein­de­ten. Ein Neu­er, noch ah­nungs­los, bei dem zu Haus äl­te­re Ver­wand­te über den Pro­fes­sor Un­rat ge­lacht hat­ten wie über eine Ju­gen­derin­ne­rung von freund­li­cher Ko­mik, und der nun mit dem Schub zu Os­tern in Un­rats Klas­se ge­langt war, konn­te sich bei der ers­ten falschen Ant­wort an­fau­chen hö­ren:

»Von Ih­nen habe ich hier schon drei ge­habt. Ich has­se Ihre gan­ze Fa­mi­lie!«

*

Un­rat auf sei­nem er­ha­be­nen Pos­ten über all den Köp­fen ge­noss sei­ne ver­meint­li­che Si­cher­heit; und in­zwi­schen war neu­es Un­heil am Aus­bre­chen. Es kam von Loh­mann.

Loh­mann hat­te sei­nen Auf­satz sehr kurz ab­ge­tan und dann zu ei­ner Pri­vat­be­schäf­ti­gung ge­grif­fen. Die woll­te aber nicht vor­wärts­kom­men, denn der Fall sei­nes Freun­des von Ertz­um wurm­te Loh­mann. Er hat­te sich ge­wis­ser­ma­ßen zum mo­ra­li­schen Schutz­herrn des kräf­ti­gen, jun­gen Edel­manns auf­ge­wor­fen und be­trach­te­te es als ein Ge­bot der ei­ge­nen Ehre, die geis­ti­ge Schwä­che des Freun­des, wo es ging, mit sei­nem so hoch ent­wi­ckel­ten Hirn zu de­cken. Im Au­gen­blick, wo von Ertz­um eine un­er­hör­te Dumm­heit sa­gen woll­te, räus­per­te Loh­mann sich lär­mend und souf­flier­te ihm dar­auf das Rich­ti­ge. Die un­be­greif­lichs­ten Ant­wor­ten des an­de­ren mach­te er den Mit­schü­lern acht­bar durch die Be­haup­tung, von Ertz­um habe den Leh­rer nur »wü­tend är­gern« wol­len.

Loh­mann war ein Mensch mit schwar­zen Haa­ren, die über der Stirn sich bäum­ten und zu ei­ner schwer­mü­ti­gen Sträh­ne zu­sam­men­fie­len. Er hat­te die Bläs­se Lu­zi­fers und eine ta­lent­vol­le Mi­mik. Er mach­te Hei­ne­sche Ge­dich­te und lieb­te eine drei­ßig­jäh­ri­ge Dame. Durch die Er­wer­bung ei­ner li­te­ra­ri­schen Bil­dung in An­spruch ge­nom­men, konn­te er der Schu­le nur we­nig Auf­merk­sam­keit ge­wäh­ren. Das Leh­rer­kol­le­gi­um, dem es auf­ge­fal­len war, dass Loh­mann im­mer erst im letz­ten Quar­tal zu ar­bei­ten be­gann, hat­te ihn trotz sei­ner zum Schluss ge­nü­gen­den Leis­tun­gen sit­zen­las­sen, schon in zwei Klas­sen. So saß Loh­mann, gra­de wie sein Freund, mit sieb­zehn Jah­ren noch un­ter lau­ter Vier­zehn- und Fünf­zehn­jäh­ri­gen. Und wenn von Ertz­um dank sei­ner kör­per­li­chen Ent­wick­lung zwan­zig zu sein schi­en, so er­höh­ten sich Loh­manns Jah­re da­durch, dass ihn der Geist be­rührt hat­te.

Was muss­te nun ei­nem Loh­mann der höl­zer­ne Hans­wurst dort auf dem Ka­the­der für einen Ein­druck ma­chen; die­ser an ei­ner fi­xen Idee lei­den­de Töl­pel. Wenn Un­rat ihn auf­rief, trenn­te er sich ohne Eile von sei­ner der Klas­se fern­ste­hen­den Lek­tü­re, und die brei­te, gelb­blas­se Stirn in be­frem­de­ten Qu­er­fal­ten, prüf­te er aus ver­ächt­lich ge­senk­ten Li­dern die ärm­li­che Ver­bis­sen­heit des Fra­ge­stel­lers, den Staub in des Schul­meis­ters Haut, die Schup­pen auf sei­nem Rock­kra­gen. Schließ­lich warf er einen Blick auf sei­ne ei­ge­nen ge­schlif­fe­nen Fin­ger­nä­gel. Un­rat hass­te Loh­mann bei­na­he mehr als die an­de­ren, we­gen sei­ner un­nah­ba­ren Wi­der­setz­lich­keit, und fast auch des­halb, weil Loh­mann ihm nicht sei­nen Na­men gab; denn er fühl­te dun­kel, das sei noch schlim­mer ge­meint. Loh­mann ver­moch­te den Hass des ar­men Al­ten beim bes­ten Wil­len nicht an­ders zu er­wi­dern als mit mat­ter Ge­ring­schät­zung. Ein we­nig von Ekel be­träu­fel­tes Mit­leid kam auch hin­zu. Aber durch die Krän­kung von Ertz­ums sah er sich per­sön­lich her­aus­ge­for­dert. Er emp­fand, als der ein­zi­ge un­ter drei­ßig, Un­rats öf­fent­li­che Le­bens­be­schrei­bung des von Ertz­um­schen On­kels als eine nied­ri­ge Hand­lung. Zu viel durf­te man dem Schlu­cker dort oben nicht er­lau­ben. Loh­mann ent­schloss sich also. Er stand auf, stütz­te die Hän­de auf den Tisch­rand, sah dem Pro­fes­sor neu­gie­rig be­ob­ach­tend in die Au­gen, als habe er einen merk­wür­di­gen Ver­such vor, und de­kla­mier­te vor­nehm ge­las­sen:

»Ich kann hier nicht mehr ar­bei­ten, Herr Pro­fes­sor. Es riecht auf­fal­lend nach Un­rat.«

Un­rat mach­te einen Sprung im Ses­sel, spreiz­te be­schwö­rend eine Hand und klapp­te stumm mit den Kie­fern. Hier­auf war er nicht vor­be­rei­tet ge­we­sen – nach­dem er noch so­eben ei­nem Ver­wor­fe­nen die Re­le­ga­ti­on in Aus­sicht ge­stellt hat­te. Soll­te er nun auch die­sen Loh­mann »fas­sen«? Nichts wäre ihm er­wünsch­ter ge­kom­men. Aber – konn­te er es ihm »be­wei­sen«? … In die­sem atem­lo­sen Au­gen­blick reck­te der klei­ne Kie­se­lack sei­ne blau­en Fin­ger mit den zer­bis­se­nen Nä­geln in die Höhe, knall­te mit ih­nen und keif­te ge­quetscht:

»Loh­mann lässt einen nicht ru­hig nach­den­ken, er sagt im­mer, hier riecht es nach Un­rat.«

Es ent­stand Ki­chern, und ei­ni­ge scharr­ten. Da ward Un­rat, der schon den Wind des Aufruhrs im Ge­sicht spür­te, von Pa­nik er­grif­fen. Er fuhr vom Stuhl auf, mach­te über das Pult hin­weg ecki­ge Stö­ße nach al­len Sei­ten, wie ge­gen zahl­lo­se An­stür­men­de, und rief:

»Ins Ka­buff! Alle ins Ka­buff!«

Es woll­te nicht ru­hig wer­den; Un­rat glaub­te, sich nur noch durch einen Ge­walt­streich ret­ten zu kön­nen. Er stürz­te sich, ehe je­ner es ver­mu­ten konn­te, auf Loh­mann, pack­te ihn am Arm, zerr­te und schrie er­stickt:

»Fort mit Ih­nen, Sie sind nicht län­ger wür­dig, der mensch­li­chen Ge­sell­schaft teil­haf­tig zu sein!«

Loh­mann folg­te, ge­lang­weilt und pein­lich be­rührt. Zum Schluss gab Un­rat ihm einen Ruck und ver­such­te, ihn ge­gen die Tür des Gar­de­ro­ben­ge­las­ses zu schleu­dern; doch dies miss­lang. Loh­mann staub­te sich ab an der Stel­le, wo Un­rat ihn an­ge­fasst hat­te, und ver­füg­te sich be­son­ne­nen Schrit­tes in das »Ka­buff«. Da­rauf sah der Leh­rer sich nach Kie­se­lack um. Der aber hat­te sich hin­ter sei­nem Rücken an ihm vor­bei­ge­wun­den und drück­te sich schon, mit ei­ner Frat­ze, in das Ar­rest­lo­kal. Der Pri­mus muss­te den Pro­fes­sor dar­über auf­klä­ren, wo Kie­se­lack sei. Un­ver­mit­telt ver­lang­te nun Un­rat, die Klas­se sol­le durch den Zwi­schen­fall kei­nen Au­gen­blick von der Jung­frau ab­ge­lenkt wor­den sein.

»Wa­rum schrei­ben Sie nicht? Fünf­zehn Mi­nu­ten noch! Und die un­fer­ti­gen Ar­bei­ten wer­de ich – im­mer mal wie­der – nicht zen­sie­ren!«

In­fol­ge die­ser Dro­hung fiel den meis­ten über­haupt nichts mehr ein, und es ent­stan­den angst­vol­le Mie­nen. Un­rat war zu er­regt, um eine rech­te Freu­de dar­an zu ha­ben. In ihm war der Drang, je­den je mög­li­chen Wi­der­stand zu bre­chen, alle be­vor­ste­hen­den At­ten­ta­te zu ver­ei­teln, es rings­um­her noch stum­mer zu ma­chen, Kirch­hofs­ru­he her­zu­stel­len. Die drei Re­bel­len wa­ren be­sei­tigt, aber ihre Hef­te, auf­ge­schla­gen auf den Bän­ken, schie­nen ihm noch im­mer den Geist der Em­pö­rung aus­zu­strö­men. Er raff­te sie zu­sam­men und be­gab sich mit ih­nen auf das Ka­the­der.

Von Ertz­ums und Kie­se­lacks Ar­bei­ten wa­ren müh­se­li­ge und un­ge­len­ke Satz­ge­fü­ge, die nur zu sehr von gu­tem Wil­len zeug­ten. Bei Loh­mann war es so­gleich un­be­greif­lich, dass er kei­ne »Dis­po­si­ti­on« ge­macht hat­te, kei­ne Ein­tei­lung sei­ner Ab­hand­lung in A, B, C, a, b, c und 1, 2, 3. Auch hat­te er nur eine ein­zi­ge Sei­te fer­tig­ge­bracht, die Un­rat mit schnell wach­sen­der Ent­rüs­tung zur Kennt­nis nahm. Es stand dort:

Die drit­te Bit­te des Dau­phins (»Jung­frau von Or­leans« I 10).

Die jun­ge Jo­han­na führt sich, ge­schick­ter als ihre Jah­re und ihre bäu­ri­sche Ver­gan­gen­heit es ver­mu­ten lie­ßen, durch ein Ta­schen­spie­ler­kunst­stück bei Hofe ein. Sie gibt dem Dau­phin einen In­halts­aus­zug aus den drei Bit­ten, die er in der letz­ten Nacht an den Him­mel ge­rich­tet hat, und macht durch ihre Fer­tig­keit im Ge­dan­ken­le­sen na­tür­lich star­ken Ein­druck auf die un­wis­sen­den großen Her­ren. Ich sag­te: aus den drei Bit­ten; aber tat­säch­lich wie­der­holt sie nur zwei: die drit­te er­lässt ihr der über­zeug­te Dau­phin. Zu ih­rem Glück: denn sie wür­de die drit­te schwer­lich noch ge­wusst ha­ben. Sie hat ihm bei den bei­den ers­ten ja schon al­les ge­sagt, worum er sei­nen Gott ge­be­ten ha­ben kann, näm­lich: wenn eine noch un­ge­büß­te Schuld sei­ner Vä­ter vor­han­den sei, ihn selbst als Op­fer an­zu­neh­men statt sei­nes Vol­kes; und wenn er schon Land und Kro­ne ver­lie­ren sol­le, ihm we­nigs­tens Zufrie­den­heit, sei­nen Freund und sei­ne Ge­lieb­te zu las­sen. Auf das Wich­tigs­te, auf die Herr­schaft, hat er so­mit schon ver­zich­tet. Was soll er also noch er­be­ten ha­ben? Su­chen wir nicht lan­ge: er weiß es selbst nicht. Jo­han­na weiß es auch nicht. Schil­ler weiß es auch nicht. Der Dich­ter hat von dem, was er wuss­te, nichts zu­rück­be­hal­ten und den­noch ›und so wei­ter‹ ge­sagt. Das ist das gan­ze Ge­heim­nis, und für den mit der we­nig be­denk­li­chen Na­tur des Künst­lers ei­ni­ger­ma­ßen Ver­trau­ten gibt es da­bei nichts zu ver­wun­dern.

Punk­tum. Das war al­les – und Un­rat, den ein Zit­tern be­schlich, kam jäh zu der Er­kennt­nis: die­sen Schü­ler zu be­sei­ti­gen, vor die­sem An­ste­ckungs­stoff die mensch­li­che Ge­sell­schaft zu be­hü­ten, das drän­ge weit mehr als die Ent­fer­nung des ein­fäl­ti­gen von Ertz­um. Zu­gleich warf er einen Blick auf das fol­gen­de Blatt, wo noch ei­ni­ges ge­krit­zelt stand und das üb­ri­gens halb her­aus­ge­ris­sen im Heft hing. Aber plötz­lich, in dem Au­gen­blick, als er ver­stand, über­flog et­was wie eine rosa Wol­ke die ge­win­kel­ten Wan­gen des Leh­rers. Er schloss das Heft, rasch und ver­stoh­len, als wol­le er nichts ge­se­hen ha­ben; öff­ne­te es noch­mals, warf es gleich wie­der un­ter die bei­den an­de­ren, at­me­te im Kampf. Er emp­fand zwin­gend: da wur­de es Zeit, der muss­te »ge­fasst« wer­den! Ein Mensch, mit dem es da­hin ge­kom­men war, dass er die­se – ge­wiss denn frei­lich – Künst­le­rin Rosa – Rosa – Er griff zum drit­ten Mal nach Loh­manns Heft. Da klin­gel­te es schon.

»Ab­lie­fern!« stieß Un­rat aus, in der hef­ti­gen Be­sorg­nis, ein Schü­ler, der bis­her nicht fer­tig ge­wor­den war, kön­ne viel­leicht im letz­ten Au­gen­blick noch zu ei­ner be­frie­di­gen­den Note ge­lan­gen. Der Pri­mus sam­mel­te die Auf­sät­ze ein; ei­ni­ge be­la­ger­ten die Tür nach der Gar­de­ro­be.

»Weg dort! War­ten!« rief Un­rat, in neu­er Angst. Am liebs­ten hät­te er ab­ge­schlos­sen, die drei Elen­den un­ter Ver­schluss be­hal­ten, so­lan­ge, bis er ih­ren Un­ter­gang ge­si­chert ha­ben wür­de. Das ging nicht so rasch, hier muss­te lo­gisch nach­ge­dacht wer­den. Der Fall Loh­mann blen­de­te ihn vor­läu­fig noch durch ein Über­maß von Ver­wor­fen­heit.

Meh­re­re von den Kleins­ten pflanz­ten sich in be­lei­dig­tem Rechts­ge­fühl vor das Ka­the­der hin.

»Un­se­re Sa­chen, Herr Pro­fes­sor!«

Un­rat muss­te das »Ka­buff« frei­ge­ben. Aus dem Ge­drän­ge wi­ckel­ten sich nach­ein­an­der die drei Ver­bann­ten, schon in ih­ren Män­teln. Loh­mann stell­te gleich von der Schwel­le her fest, dass sein Heft in den Hän­den Un­rats sei, und be­dau­er­te ge­lang­weilt den Übe­rei­fer des al­ten Töl­pels. Jetzt muss­te sich mög­li­chen­falls sein Er­zeu­ger in Be­we­gung set­zen und mit dem Di­rek­tor re­den!

Von Ertz­um zog nur die rot­blon­den Brau­en ein Stück hö­her in sei­nem Ge­sicht, das sein Freund Loh­mann den »be­sof­fe­nen Mond« nann­te. Kie­se­lack sei­ner­seits hat­te sich im »Ka­buff« auf eine Ver­tei­di­gung vor­be­rei­tet.

»Herr Pro­fes­sor, es ist nicht wahr, ich hab’ nicht ge­sagt, dass es nach Un­rat riecht. Ich hab’ nur ge­sagt, er sagt im­mer –«

»Schwei­gen Sie!« herrsch­te Un­rat, be­bend, ihn an. Er schob den Hals vor und zu­rück, hat­te sich ge­fasst und setz­te ge­dämpft hin­zu:

»Ihr Schick­sal hängt jetzt nun­mehr im­mer­hin ganz dicht über Ihren Köp­fen. Ge­hen Sie!«

Da­rauf gin­gen die drei zum Es­sen, je­der mit sei­nem Schick­sal über sich.

Professor Unrat

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