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III.

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Un­rat has­te­te die stil­le Gas­se wie­der hin­auf, denn er hat­te einen Ge­dan­ken ge­habt, des­sen Rich­tig­keit er so­fort, aber so­fort nach­prü­fen woll­te. Er wuss­te durch plötz­li­che Er­leuch­tung, Rosa Fröh­lich sei die Bar­fußtän­ze­rin, von der man jetzt so viel Auf­he­bens mach­te. Sie soll­te her­kom­men und in dem Saal der Ge­sell­schaft für Ge­mein­sinn ihre Küns­te se­hen las­sen. Un­rat ent­sann sich ganz deut­lich, wie Ober­leh­rer Witt­kopp, ein Mit­glied die­ser Ge­sell­schaft, da­von er­zählt hat­te. Er war im Leh­rer­zim­mer an sein Wand­schränk­chen ge­tre­ten, hat­te es auf­ge­schlos­sen, einen Pa­cken Ex­er­zi­ti­en­hef­te hin­ein­ge­legt und dazu ge­sagt:

»Nun be­kom­men wir hier also auch die be­rühm­te Rosa Fröh­lich, die auf blo­ßen Fü­ßen grie­chisch tanzt.«

Un­rat sah Witt­kopp vor sich, wie er sich wich­tig mach­te, ei­tel um sei­nen Klem­mer her­um­schiel­te und die Lip­pen spitz­te, um aus­zu­spre­chen: »Rosa Fröh­lich.« Ganz ohne Zwei­fel, er hat­te ge­sagt: »Rosa Fröh­lich.« Un­rat hör­te ja je­den der vier Lau­te, in Witt­kopps ge­küns­tel­ter Sprech­wei­se und mit dem ge­säu­sel­ten R. Das hät­te ihm frü­her ein­fal­len sol­len! Zwei­fel­los war die Bar­fußtän­ze­rin Fröh­lich in­zwi­schen ein­ge­trof­fen, und der Schü­ler Loh­mann war mit ihr in Ver­bin­dung ge­tre­ten. Un­rat war nun auf dem Wege, bei­de zu »fas­sen«.

Er er­reich­te die Sie­ben­berg­stra­ße, er hat­te sie halb durch­eilt, da ging don­nernd ein Rol­la­den nie­der vor ei­nem Schau­fens­ter, und Un­rat blieb, ei­ni­ge Schrit­te da­vor, ver­nich­tet stehn. Denn der Rol­la­den ge­hör­te dem Mu­si­ka­li­en­händ­ler Kell­ner, der bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten die Kar­ten ver­kauf­te und al­les Nä­he­re wuss­te. Es schi­en, als soll­te Un­rat die zwei, de­nen er nach­setz­te, heu­te nicht mehr ein­ho­len.

Trotz­dem konn­te er sich nicht den­ken, dass er jetzt nach Haus ge­lan­gen und sein Nachtes­sen her­un­ter­brin­gen wer­de. Er war in Jagd­lei­den­schaft ge­ra­ten. Er gab sich noch ein paar Mi­nu­ten, mach­te einen letz­ten Um­weg. Am Ros­ma­rin­weg hielt er, ganz er­schüt­tert, vor ei­nem schief­ge­tre­te­nen Holz­trepp­chen den Schritt an. Es klomm steil bis vor eine schma­le La­den­tür mit der In­schrift: »Jo­han­nes Rind­fleisch, Schuh­ma­cher­meis­ter«. Eine Wa­ren­aus­la­ge war nicht da; hin­ter den Spie­gel­schei­ben der zwei klei­nen Fens­ter stan­den Blu­men­töp­fe. Und Un­rat be­dau­er­te, von sei­nem gu­ten Ge­schick nicht schon längst hier­her­ge­führt zu sein, zu der Be­hau­sung ei­nes recht­schaf­fe­nen und harm­lo­sen Man­nes, ei­nes Herrn­hu­ters, der kein Schelt­wort in den Mund nahm, nie­mals krän­kend die Mie­ne ver­zog, und der über die Künst­le­rin Fröh­lich an­stands­los Aus­kunft er­tei­len wür­de!

Er öff­ne­te die Tür. Eine Glo­cke schlug an, und der Ton schwang freund­lich nach. Die Werk­statt lag sau­ber auf­ge­räumt im Halb­dun­kel. Ein­ge­fasst in den Rah­men der Tür zum Ne­ben­zim­mer, zeig­te sich das mild be­leuch­te­te Bild der Schus­ters­fa­mi­lie beim Abend­brot. Der Ge­sel­le kau­te an der Sei­te der Hau­s­toch­ter. Den klei­nen Kin­dern gab die Mut­ter Kar­tof­feln zur Mett­wurst. Der Va­ter setz­te die bau­chi­ge Fla­sche mit Braun­bier ne­ben die Lam­pe, er­hob sich und sah nach dem Kun­den.

»’na­bend, Herr Pro­fes­ser.« Er schluck­te erst um­ständ­lich sei­nen Bis­sen hin­un­ter. »Und wo­mit kann ich die­nen?«

»Ja«, ver­setz­te Un­rat, rieb sich un­si­cher lä­chelnd die Hän­de und schluck­te auch, mit lee­rer Keh­le.

»Ent­schul­di­gen Sie man«, setz­te der Schuh­ma­cher hin­zu, »dass hier schon al­lens dus­ter is. Hier ma­chen wir um Klock sie­ben Fei­er­abend. Der Rest des Abends ge­hört dem Herrn. Wer da noch ar­bei­ten tut, da is doch kein Se­gen auf.«

»Das mag ja denn ei­ner­seits – ganz rich­tig sein«, stot­ter­te Un­rat.

Der Schuh­ma­cher war einen Kopf hö­her. Er hat­te kno­chi­ge Schul­tern und un­ter sei­nem Schurz­fell einen un­ver­mit­tel­ten Spitz­bauch. Er­grau­en­de Löck­chen, ein we­nig ölig, mach­ten den Bo­gen um sein lan­ges, blei­far­be­nes Ge­sicht, des­sen Wan­gen in einen keil­för­mi­gen Bart hin­ein­hin­gen, und das lang­sam lä­chel­te. Rind­fleisch schob im­mer­fort über dem Ma­gen die Fin­ger in­ein­an­der, lös­te sie und steck­te sie wie­der zu­sam­men.

»Aber das ist es an­de­rer­seits frei­lich nicht, wes­halb ich kom­me«, er­klär­te Un­rat.

»Herr Pro­fes­ser, ’na­bend, Herr Pro­fes­ser«, sag­te die Frau von der Schwel­le her und knicks­te. »Was stehst du da in ’n Schum­mern mit Herrn Pro­fes­ser, Jo­han­nes, lass ihm doch rein. Herr Pro­fes­ser, wenn Sie es man nich übel­neh­men, dass wir uns’ Mett­wuß es­sen.«

»Das liegt mir ganz und gar fern, gute Frau.«

Un­rat ent­schloss sich zu ei­nem Op­fer.

»Meis­ter Rind­fleisch, ich un­ter­bre­che un­gern Ihr Mahl, aber ich ging gra­de vor­bei, und da kam mir der Ge­dan­ke, dass Sie mir – auf­ge­merkt nun also! – ein Paar Stie­fel an­mes­sen sol­len.«

»Zu die­nen, Herr Pro­fes­ser«, und die Frau knicks­te, »zu die­nen.«

Rind­fleisch be­dach­te sich; dann ver­lang­te er die Lam­pe.

»Denn sit­ten wi jä all’ in’n Dus­tern bi’n Ee­ten«, be­merk­te die Frau hei­ter. »Nöh, Herr Pro­fes­ser, kom­men Sie man rein, ich mach Licht für Ih­nen in der blau­en Stu­be.«

Sie ging vor­an in einen Raum, wo es kalt war, und zün­de­te Un­rat zu Ehren die bei­den un­ver­sehr­ten rosa Ker­zen an, die sich über ih­ren krau­sen Man­schet­ten und flan­kiert von zwei großen Mu­scheln, im Tru­meau1 spie­gel­ten. An den kraß­blau­en Wän­den ver­weil­ten in sonn­täg­li­cher Hal­tung Groß­va­ter­mö­bel aus Ma­ha­go­ni. Auf der ge­hä­kel­ten De­cke des So­fa­ti­sches brei­te­te ein seg­nen­der Chris­tus sei­ne Bis­kuit­ar­me aus.

Un­rat war­te­te, bis Frau Rind­fleisch hin­aus war. Als er den Schuh­ma­cher hin­ter ge­schlos­se­ner Tür und recht in sei­ner Ge­walt hat­te, setz­te er ein.

»Vor­wärts denn also, Meis­ter, jetzt heißt es zei­gen, dass Sie, der Sie ei­ni­ge klei­ne­re Ar­bei­ten zur Zufrie­den­heit des Leh… – zu mei­ner Zufrie­den­heit be­werk­stel­lig­ten, auch ein recht bra­ves Paar Stie­fel schaf­fen kön­nen.«

»O ja, Herr Pro­fes­ser, o o oh ja«, er­wi­der­te Rind­fleisch de­mü­tig und be­flis­sen wie ein Pri­mus.

»Mag ich im­mer­hin schon im Be­sitz zwei­er Paa­re sein, so kann bei der jetzt vor­wal­ten­den Näs­se doch nie­mand sich ge­nug­tun an gu­ter, war­mer Fuß­be­klei­dung.«

Rind­fleisch knie­te und maß. Er hat­te den Blei­stift zwi­schen den Zäh­nen und grunz­te nur.

»An­de­rer­seits ist dies die Jah­res­zeit, die ge­wöhn­lich et­was Neu­es in die Stadt bringt, ein we­nig – si­cher­lich doch – geis­ti­ge Er­ho­lung. Die ist es denn wohl auch, die dem Men­schen not­tut.«

Rind­fleisch sah auf.

»Sa­gen Sie das man noch mal, Herr Pro­fes­ser. Ja ja jah, die tu­het dem Men­schen not. Und das weiß un­se­re Brü­der­ge­mei­hen­de auch.«

»So so«, mach­te Un­rat. »Aber ich den­ke an den Be­such aus­ge­zeich­ne­ter, un­ter den Men­schen her­vor­ra­gen­der Per­sön­lich­kei­ten.«

»Da denk’ ich auch an, Herr Pro­fes­ser, und da denkt auch die Ge­mei­hen­de an und ver­sam­me­let uns Brü­der am mor­gi­gen Aben­de zum Ge­bet mit ei­nem be­rühm­ten Mis­sio­nar. Ja, o jah.«

Un­rat fand es schwie­rig, zur Künst­le­rin Fröh­lich zu ge­lan­gen. Er such­te eine Wei­le, und als er kei­nen Um­weg mehr fand, ging er grad­aus.

»Auch in der Ge­sell­schaft für Ge­mein­sinn zeigt sich uns nächs­tens – im­mer mal wie­der – eine Berühmt­heit. Eine Künst­le­rin – Sie wer­den ja, so gut wie je­der­mann, von ihr ge­hört ha­ben, Meis­ter.«

Rind­fleisch schwieg, und Un­rat war­te­te mit Lei­den­schaft. Er war über­zeugt, was er brauch­te, steck­te in dem Men­schen zu sei­nen Fü­ßen, und es lie­ge nur an ihm, es her­aus­zu­zie­hen. Die Künst­le­rin Fröh­lich hat­te in der Zei­tung ge­stan­den, war im Leh­rer­zim­mer be­spro­chen wor­den, hing im Fens­ter bei Kell­ner. Die gan­ze Stadt wuss­te Be­scheid über sie, au­ßer Un­rat. Je­der an­de­re hat­te mehr Welt­läu­fig­keit und Per­so­nen­kennt­nis als Un­rat: er leb­te, ohne dass er’s sel­ber wuss­te, tief in die­ser Vor­stel­lung; und er wand­te sich mit vol­lem Ver­trau­en an einen herrn­hu­ti­schen2 Schus­ter um Aus­kunft über eine Tän­ze­rin.

»Sie tanzt, Meis­ter. In der Ge­sell­schaft für Ge­mein­sinn tanzt sie. Ei, da wer­den nun die Leu­te hin­lau­fen.«

Rind­fleisch nick­te.

»Die Leu­te ma­chen es sich woll nich klar, Herr Pro­fes­ser, wo sie hin­lau­fen«, sag­te er ge­dämpft und be­deu­tungs­voll.

»Sie tanzt ja bar­fuß, das ist doch eine selt­sa­me Fer­tig­keit, Meis­ter.«

Un­rat wuss­te nicht, wie er den Mann noch an­feu­ern sol­le.

»Den­ken Sie nur: bar­fuß!«

»Bar­fuß«, wie­der­hol­te der Schus­ter. »O o oh! Also tan­ze­ten auch die Wei­ber der Ama­le­ki­ter, die vor dem Göt­zen tan­ze­ten.«

Und er stieß ein lee­res Ge­läch­ter aus, nur aus De­mut, weil er, der un­ge­lehr­te Mann, sich mit Wor­ten der Schrift zu schmücken wag­te.

Un­rat rück­te ge­pei­nigt hin und her, wie bei der Über­set­zung ei­nes Schü­lers, der stock­te und gleich fest­zu­sit­zen droh­te. Er hieb mit den Knö­cheln auf die Stuhl­leh­ne und sprang auf.

»So las­sen Sie’s nun gut sein mit dem Maß­neh­men, Meis­ter, und sa­gen Sie mir – vor­wärts denn also! – ob die Bar­fußtän­ze­rin Fröh­lich schon ein­ge­trof­fen ist! Das soll­ten Sie wohl wis­sen!«

»Ich, Herr Pro­fes­ser?« Und Rind­fleisch stand be­stürzt, »ich – eine Tän­ze­rin?«

»Da­durch wer­den Sie auch nicht schlech­ter«, be­haup­te­te Un­rat un­ge­dul­dig.

»O o oh, fer­ne von mir sei der geis­ti­ge Hoch­mut und die Selbst­ge­rech­tig­keit. Und Lie­be im Herrn, Herr Pro­fes­ser, will ich denn auch ha­ben für mei­ne bar­fü­ßi­ge Schwes­ter, o jah, und will bit­ten, dass der Herr an ihr tuhe, was er an der Sün­de­rin Mag­da­le­na ge­tan hat.«

»Sün­de­rin?« frag­te Un­rat über­le­gen. »Wa­rum hal­ten Sie denn die Künst­le­rin Fröh­lich für eine Sün­de­rin?«

Der Schuh­ma­cher blick­te keusch auf den ge­öl­ten Fuß­bo­den.

»Ei ja«, ver­setz­te Un­rat, im­mer un­zu­frie­de­ner mit dem Meis­ter, »wenn Ihre Frau oder Ihre Toch­ter einen Le­bens­wan­del be­gin­nen woll­ten wie eine Künst­le­rin, das stän­de ih­nen – frei­lich denn wohl – nicht an. Hin­ge­gen gibt es Le­bens­krei­se und Sit­ten­ge­set­ze: – doch mag’s denn ge­nug sein.«

Und er mach­te eine Hand­be­we­gung, die sag­te, dass hier ein Ge­gen­stand in Ter­tia be­rührt ward, der höchs­tens nach Pri­ma ge­hör­te.

»Auch mein Weib ist eine Sün­de­rin«, sag­te der Schus­ter lei­se, schob die Fin­ger über dem Ma­gen durch­ein­an­der und sah auf, mit ei­nem Be­ken­ner­blick.

»Und ich selbs­t­en muss spre­chen: Herr Her­re. Denn Flei­sches­sün­der sind wir all­zu mal.«

Nun er­staun­te Un­rat.

»Sie und Ihre Frau? Sie sind doch recht­mä­ßig ver­hei­ra­tet?«

»O o oh jah, das sind wir woll. Aber Flei­sches­sün­de, Herr Pro­fes­ser, bleibt es im­mer­dar, und Gott er­laubt es auch nuhr …«

Der Herrn­hu­ter rich­te­te sich auf zu et­was Wich­ti­gem. Sei­ne Au­gen wur­den rund und ganz bleich von Ge­heim­nis.

»Nun?« frag­te Un­rat nach­sich­tig.

Und je­ner, flüs­ternd:

»Das wis­sen die an­de­ren Men­schen man nich, dass Gott es nuhr dar­um er­laubt, auf dass er in sei­nen Him­mel oben mehr En­gel kriegt.«

»So so«, mach­te Un­rat, »das ist ja denn frei­lich recht hübsch.«

Und er lug­te mit ei­nem hin­ter­häl­ti­gen Lä­cheln zu dem ver­klär­ten Ge­sicht des Schuh­ma­chers hin­auf.

Aber er un­ter­drück­te bald sei­nen Spott und wand­te sich zum Ge­hen. Er fing an zu glau­ben, Rind­fleisch wis­se wirk­lich nichts über die Künst­le­rin Fröh­lich. Der Schuh­ma­cher be­sann sich auf die­se Welt und frag­te, wie hoch denn die Schäf­te sein soll­ten. Un­rat ant­wor­te­te nach­läs­sig, be­han­del­te auch den Ab­schied von der Fa­mi­lie Rind­fleisch nur mit flüch­ti­ger Leut­se­lig­keit. Dann trat er rasch den Heim­weg an.

Er ver­ach­te­te Rind­fleisch. Er ver­ach­te­te die blaue Stu­be, die Enge die­ser Geis­ter, die de­mü­ti­gen See­len, die pie­tis­ti­schen Über­spannt­hei­ten und die sitt­li­che Ver­stockt­heit. Auch bei Un­rat zu Hau­se sah es eher dürf­tig aus; da­für aber hat­te er in sei­nem Kopf die Mög­lich­keit, sich mit meh­re­ren al­ten Geis­tes­fürs­ten, wenn sie zu­rück­ge­kehrt wä­ren, in ih­rer Spra­che über die Gram­ma­tik in ih­ren Wer­ken zu un­ter­hal­ten. Er war arm, un­er­kannt; man wuss­te nicht, wel­che wich­ti­ge Ar­beit er seit zwan­zig Jah­ren för­der­te. Er ging un­an­sehn­lich, so­gar ver­lacht un­ter die­sem Volk um­her – aber er ge­hör­te, sei­nem Be­wusst­sein nach, zu den Herr­schen­den. Kein Ban­kier und kein Mon­arch war an der Macht stär­ker be­tei­ligt, an der Er­hal­tung des Be­ste­hen­den mehr in­ter­es­siert als Un­rat. Er er­ei­fer­te sich für alle Au­to­ri­tä­ten, wü­te­te in der Heim­lich­keit sei­nes Stu­dier­zim­mers ge­gen die Ar­bei­ter – die, wenn sie ihre Zie­le er­reicht hät­ten, wahr­schein­lich be­wirkt ha­ben wür­den, dass auch Un­rat et­was reich­li­cher ent­lohnt wäre. Jun­ge Hilfs­leh­rer, noch schüch­ter­ner als er, bei de­nen er sich mit der Spra­che her­aus­wag­te, warn­te er düs­ter vor der un­se­li­gen Sucht des mo­der­nen Geis­tes, an den Grund­la­gen zu rüt­teln. Er woll­te sie stark: eine ein­fluss­rei­che Kir­che, einen hand­fes­ten Sä­bel, strik­ten Ge­hor­sam und star­re Sit­ten. Da­bei war er durch­aus un­gläu­big und vor sich selbst des wei­tes­ten Frei­sinns fä­hig. Aber als Ty­rann wuss­te er, wie man sich Skla­ven er­hält; wie der Pö­bel, der Feind, die fünf­zig­tau­send auf­säs­si­gen Schü­ler, die ihn be­dräng­ten, zu bän­di­gen wa­ren. Loh­mann schi­en in Be­zie­hun­gen zu stehn zur Künst­le­rin Fröh­lich; Un­rat er­rö­te­te dar­über, weil er nicht an­ders konn­te. Aber zum Ver­bre­cher ward der Schü­ler Loh­mann erst da­durch, dass er sich bei ver­bo­te­nen Freu­den der har­ten Zucht des Leh­rers ent­zog. Nicht sitt­li­che Ein­falt zwang Un­rat zum Zorn …

*

Er ge­lang­te in sei­ne Woh­nung und schlich auf den Ze­hen an der Kü­che vor­bei, wo die Wirt­schaf­te­rin, über sei­ne Ver­spä­tung un­ge­hal­ten, mit den Töp­fen ras­sel­te. Dann be­kam er zu es­sen, Mett­wurst und Kar­tof­feln. Sie wa­ren zer­kocht und den­noch kalt. Un­rat hü­te­te sich, ein Wort da­ge­gen zu sa­gen; die­ses Mäd­chen hät­te so­fort die Hän­de auf die Hüf­ten ge­stemmt. Un­rat woll­te sie da­vor be­wah­ren, sich ge­gen ih­ren Herrn auf­zu­leh­nen.

Nach der Mahl­zeit stell­te er sich vor sein Schreib­pult. Es war, Un­rats kurz­sich­ti­gen Au­gen zu­lie­be, über­mä­ßig hoch; und die drei­ßig­jäh­ri­ge An­stren­gung, den rech­ten Arm dar­auf­zu­le­gen, hat­te ihm die Schul­ter weit aus der gra­den Li­nie ge­ho­ben. »Das Wah­re ist nur die Freund­schaft und die Li­te­ra­tur«, sag­te er da­bei wie ge­wöhn­lich. Dies Wort hat­te er ir­gend­wo auf­ge­fan­gen und sich an­ge­wöhnt, und sah sich nun ge­nö­tigt, es vor sich hin zu den­ken, so oft er an die Ar­beit ging. Was er un­ter Freund­schaft zu ver­ste­hen habe, er­fuhr er nie. Das Wort ging nur zu­fäl­lig mit. Aber die Li­te­ra­tur! Das war ja sein wich­ti­ges Werk, wo­von die Men­schen nichts wuss­ten, das hier in der Stil­le seit lan­ger Zeit ge­dieh und das viel­leicht ein­mal, Stau­nen er­re­gend, aus Un­rats Gruft her­vor­blü­hen soll­te. Es han­del­te von den Par­ti­keln bei Ho­mer! … Aber Loh­manns Auf­satz­heft lag da­ne­ben und ließ ihn nicht in Stim­mung kom­men. Er muss­te da­nach grei­fen und an die Künst­le­rin Fröh­lich den­ken. Es gab et­was, das ihn sehr be­un­ru­hig­te: er war nicht mehr si­cher, dass die be­rühm­te Bar­fußtän­ze­rin sich Rosa Fröh­lich nen­ne. Die­se Fröh­lich konn­te ganz et­was an­de­res sein. Ja, sie war ganz et­was an­de­res: es ward Un­rat durch Grü­beln zur Ge­wiss­heit. Er hat­te sie im­mer noch aus­fin­dig zu ma­chen, um sie dem Schü­ler Loh­mann »be­wei­sen« zu kön­nen. Er sah sich, im Kamp­fe mit die­sem Elen­den, wie­der weit zu­rück­ge­wor­fen und keuch­te vor ein­sa­mer Er­re­gung.

Plötz­lich stürz­te er sich in sei­nen Man­tel und stürm­te hin­aus. Vor dem Hau­stor lag schon die Ket­te; Un­rat zerr­te dar­an wie ein Aus­bre­cher. Die Wirt­schaf­te­rin schalt, er hör­te sie her­bei­stamp­fen. In der Angst der äu­ßers­ten Mi­nu­te tat er einen rich­ti­gen Griff, die Tür ging auf, er war im Vor­gärt­chen und auf der Stra­ße. Bis zum Stadt­tor wech­sel­te er zwi­schen Trab und Eil­schritt; dann mä­ßig­te er sich, aber sein Herz klopf­te. Er fühl­te sich selt­sam, wie auf ver­bo­te­nen We­gen. Er ging den ver­öde­ten Stra­ßen­zug, über Berg und Tal, im­mer grad­aus. Er lug­te in die Gäss­chen und »Gru­ben«, ver­weil­te vor den Gast­häu­sern und sah mit ge­spann­tem Miss­trau­en zu Fens­tern hin­auf, zwi­schen de­ren ge­schlos­se­nen Vor­hän­gen ein Licht­strahl zu lie­gen schi­en. Er wan­der­te auf der dunklen Sei­te; drü­ben ver­brei­te­te sich hel­ler Mond. Es war ster­nen­klar, es weh­te nicht mehr, und Un­rats Schrit­te hall­ten. Beim Rat­haus lenk­te er auf den Markt und mach­te die Run­de un­ter den Lau­ben. Bo­gen, Tür­me, Brun­nen sta­chen ihre von Ara­bes­ken um­rank­ten Schat­ten­ris­se in die go­ti­sche Mond­nacht. Eine rät­sel­haf­te Auf­re­gung ge­sch­ah in Un­rat; er sag­te zu ver­schie­de­nen Ma­len:

»Da wür­de denn wohl … traun …« und »Vor­wärts denn also!«

Da­bei prüf­te er eif­rig je­des ein­zel­ne Fens­ter der Post und des Po­li­zei­am­tes. Da er es un­wahr­schein­lich fand, dass sich die Künst­le­rin Fröh­lich in die­sen Ge­bäu­den ver­steckt hal­te, kehr­te er auf die vor­hin ver­las­se­ne Stra­ße zu­rück. We­ni­ge Schrit­te wei­ter glänz­te die brei­te Schei­be ei­nes Lo­kals, in dem sich vie­le von Un­rats Kol­le­gen all­abend­lich um das Bier schar­ten. Auf der Gar­di­ne er­schi­en schwarz ab­ge­zeich­net der spitz­bär­ti­ge, mit dem Mun­de klap­pen­de Kopf ei­nes Ober­leh­rers, ei­nes ganz schlim­men, der Un­rat den Re­spekt ver­sag­te, weil er zur Lo­cke­rung der Dis­zi­plin in der Schu­le An­lass gebe, und der sich über Un­rats Sohn sitt­lich ent­rüs­tet hat­te. Un­rat sah sich die­sen Dok­tor Hüb­be­nett nach­denk­lich an: wie er re­de­te aus sei­nem Bart her­aus, was er für einen Bie­rei­fer hat­te, welch ge­wöhn­li­cher Mi­chel er war! Un­rat hat­te mit den Leu­ten da drin­nen nichts zu tun, gar nichts; es ward ihm jetzt klar, zu sei­ner Ge­nug­tu­ung. Da hock­ten nun die bei­sam­men und wa­ren in der Ord­nung: er aber dünk­te sich frag­wür­dig, ge­wis­ser­ma­ßen, und aus­ge­sto­ßen, so­zu­sa­gen. Und der Ge­dan­ke an die dort war ihm kein bö­ser Sta­chel mehr. Er nick­te dem Schat­ten des Ober­leh­rers zu, lang­sam und mit Ge­ring­schät­zung – und ging wei­ter.

Die Stadt war gleich wie­der zu Ende. Er kehr­te um, wand­te sich in die Kai­ser­stra­ße. Bei Kon­sul Breet­poot muss­te Ball sein; das große Haus war ganz er­leuch­tet, fort­wäh­rend fuh­ren Wa­gen auf. Der Die­ner und meh­re­re Auf­wär­ter spran­gen vor, öff­ne­ten die Schlä­ge, hal­fen beim Aus­s­tei­gen. Sei­de­ne Rö­cke ra­schel­ten über die Schwel­le. Eine Dame hielt an, sie streck­te gü­tig lä­chelnd die Hand ei­nem jun­gen Mann ent­ge­gen, der zu Fuß her­bei­kam. Un­rat er­kann­te in dem hüb­schen Men­schen mit dem Zy­lin­der den jun­gen Ober­leh­rer Rich­ter. Er hat­te sa­gen ge­hört, Rich­ter sei auf eine rei­che Hei­rat aus, in ei­ner ele­gan­ten Fa­mi­lie, zu der sonst Ober­leh­rer nicht den Blick er­ho­ben. Und Un­rat, drü­ben im Dun­keln, feix­te vor sich hin.

»Ei, recht streb­sam – wahr­lich doch«, sag­te er.

Er mach­te sich in sei­nem be­spritz­ten Kra­gen­man­tel lus­tig über den wohl­auf­ge­nom­me­nen, aus­sichts­rei­chen Men­schen, wie ein höh­ni­scher Strolch, der un­er­kannt und dro­hend aus dem Schat­ten her­aus der schö­nen Welt zu­sieht und das Ende von al­le­dem in sei­nem Geist hat, wie eine Bom­be. Er fühl­te sich Rich­ter weit über­le­gen, ihm war ganz mun­ter; er schä­ker­te still und sag­te, ohne sich selbst zu ver­stehn:

»Ih­nen kann ich auf Ihrem Wege noch recht hin­der­lich wer­den. Ich wer­de Sie – im­mer mal wie­der – hin­ein­le­gen, mer­ken Sie sich das!«

Und im Wei­ter­gehn un­ter­hielt er sich aus­ge­zeich­net. Wenn er wie­der auf ein Tür­schild mit dem Na­men ei­nes Kol­le­gen oder ei­nes al­ten Schü­lers stieß, dach­te er: »Sie fass’ ich auch noch mal«, und rieb sich die Hän­de. Zu­gleich lä­chel­te er in ver­stoh­le­nem Ein­ver­ständ­nis den acht­ba­ren Gie­bel­häu­sern zu, weil er ver­si­chert war, in ei­nem von ih­nen ste­cke die Künst­le­rin Fröh­lich. Sie hat­te ihn merk­wür­dig an­ge­regt, auf­ge­kratzt, aus dem Häu­schen ge­bracht. Zwi­schen ihr und Un­rat, der auf nächt­li­cher Strei­fe hin­ter ihr her­schlich, war eine Art Ver­bin­dung her­ge­stellt. Der Schü­ler Loh­mann war das zwei­te Stück Wild: so­zu­sa­gen In­dia­ner von ei­nem an­de­ren Stamm. Wenn Un­rat mit sei­ner Klas­se auf das Schul­fest zog, muss­te er manch­mal Räu­ber und Sol­da­ten mit­spie­len. Er stand auf ei­nem Hü­gel, reck­te die Faust gen Him­mel und kom­man­dier­te: »Fest drauf, jetzt nun­mehr!« und reg­te sich rich­tig auf bei dem fol­gen­den Schar­müt­zel. Denn das war Ernst. Schu­le und Spiel wa­ren das Le­ben … Und heu­te Nacht spiel­te Un­rat In­dia­ner auf dem Kriegs­pfad.

Er kam in im­mer lüs­ter­ne­re Span­nung. Die un­be­stimm­ten For­men im Schat­ten er­reg­ten ihm Furcht und Kit­zel; jede Stra­ßen­e­cke lock­te schau­er­lich. In enge Ne­ben­gas­sen ließ er sich ein wie in Aben­teu­er, hielt bei ei­nem Wis­pern aus ei­nem Fens­ter un­ter Herz­klop­fen den Schritt an. Hier und da ging eine Tür bei sei­nem Na­hen lei­se auf, ein­mal streck­te sich ein rosa be­klei­de­ter Arm nach Un­rat aus. Er ent­floh, ganz über­rie­selt, und sah sich un­ver­mit­telt am Ha­fen – zum zwei­ten Mal heut, und er be­trat die­se Ge­gend sonst in Jah­ren nicht. Schif­fe türm­ten sich schwarz, un­ter Rinn­sa­len von Mond­licht. Un­rat kam auf den Ge­dan­ken, die Künst­le­rin Fröh­lich sei dar­auf, sie schla­fe in ei­ner Ka­jü­te;3 vor Mor­gen­grau­en wer­de das Ne­bel­horn brül­len und die Künst­le­rin Fröh­lich da­von­fah­ren in fer­ne Län­der. Bei die­ser Vor­stel­lung ward Un­rats Drang zu han­deln, zu­zu­fas­sen, ganz un­ge­stüm. Zwei Ar­bei­ter stapf­ten her­bei, der eine von rechts, der an­de­re von links. Dicht bei Un­rat tra­fen sie sich, und der eine sag­te:

»Na, wo geit hen, Klaas?«

Der zwei­te ant­wor­te­te düs­ter und im Bass:

»Duhn su­pen.«

Un­rat muss­te sin­nen über das Wort: wo er es heu­te schon ge­hört habe, und was es be­sa­ge. Denn er hat­te in sechs­und­zwan­zig Jah­ren die Mund­art nicht ver­ste­hen ge­lernt. Er folg­te den bei­den Pro­le­ta­ri­ern und ih­rem zu er­schlie­ßen­den Sprach­schatz durch meh­re­re ko­ti­ge »Twie­ten«. In ei­ner et­was brei­te­ren steu­er­ten sie im Bo­gen auf ein weit­läu­fi­ges Haus zu, mit un­ge­heu­rem Scheu­nen­tor, wor­über vor dem Bil­de ei­nes blau­en En­gels eine La­ter­ne schau­kel­te. Un­rat ver­nahm Mu­sik. Die Ar­bei­ter ver­schwan­den im Flur, der eine sang mit. Un­rat be­merk­te im Ein­gang einen bun­ten Zet­tel und las ihn. Er zeig­te eine »Abend­un­ter­hal­tung« an. Als Un­rat in der Mit­te war, stieß er auf et­was, das ihm Keu­chen und einen Schweiß­aus­bruch ver­ur­sach­te, und fing, in der Furcht und der Hoff­nung, sich ge­irrt zu ha­ben, von vorn an. Auf ein­mal riss er sich los und stürz­te sich in das Haus, wie in einen Ab­grund.

1 Ein an ei­nem Pfei­ler zwi­schen zwei Wan­d­öff­nun­gen be­fes­tig­ter Wand­spie­gel. <<<

2 nach Herrn­hut, Stadt im Lau­sit­zer Ber­g­land <<<

3 Wohn- und Schlaf­raum auf Schif­fen <<<

Professor Unrat

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