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Die deutsche Geisteskultur

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Auf der Treppe, die er zur Redaktion des „Berliner Nachtkurier“ hinaufstieg, blendete den jungen Mann der ganz neue und doch bereits arg besudelte Teppich. Alles im Hause war reich und durch den regen Geschäftsbetrieb mitgenommen. Jünglinge mit kotbespritzten Beinkleidern, sonst sehr elegant, hasteten an dem Besucher vorüber. Droben in dem großen Wartezimmer schob sich eine beträchtliche Menschenmenge durcheinander. Andreas, der gegen die Wand gedrängt wurde, blickte durch eine Glasscheibe in einen langen kahlen Saal hinein, wo ungefähr dreißig junge Leute an Pulten saßen. Einige lasen Zeitungen, andere plauderten, indes sie Bleistifte spitzten oder ihre Nägel pflegten.

Eine Flügeltür ward aufgestoßen, und ein reich aussehender Herr mit rasierter Oberlippe und rotblonden Koteletts, den Hut in der Stirn, rief ins Vorzimmer hinein:

„Kommt denn der Chefredakteur nicht?“

Der herbeieilende Redaktionsdiener verbeugte sich:

„Muss sofort da sein, Herr Generalkonsul!“

„Endlich, mein lieber Doktor!“ rief der Herr und streckte die Hand mit matter Anmut einem großen eleganten Manne entgegen, der von der Treppe her eintrat und dem Diener Hut und Paletot zuwarf. Bevor die beiden hinter der Flügeltür verschwanden, hörte man den Generalkonsul fragen:

„Sie waren im Auswärtigen Amt? Nun, was sagt unser Minister?“

Andreas erschauerte vor Ehrfurcht, während er bedachte, welche Unendlichkeit von Macht und Ansehen diese Worte ahnen ließen. Wer hier im Vorzimmer des „Nachtkurier“ stand, war gewissermaßen in den Bereich einer Organisation eingetreten, die es an Ausdehnung und Festigkeit selbst mit der des Staates aufnahm. Doktor Bediener ging im Palais der Wilhelmstraße aus und ein wie der Staatssekretär selbst. Sein Kollege war ein Minister des Innern, dem kein Wille im Lande leichtfertig zuwiderhandelte. Die Ämter waren verteilt genau nach dem Vorbilde des Staates, von den Botschaftern in allen Hauptstädten der Welt bis hinab zu jener Schar von überschüssigen kleinen Beamten, unbezahlten Referendaren, die ihre Bleistifte spitzten und sich die Nägel pflegten. Hoch über dieser unpersönlichen Verwaltungsmaschine aber, hinter dem Gehege der Gesetze und gedeckt durch die Verantwortlichkeit seiner Minister, die er berief und entließ, thronte der große Jekuser, der Besitzer des „Nachtkurier“, ein konstitutioneller Monarch. Von den Tagesmeinungen unabhängig wie andere gekrönte Häupter, bewahrte er dennoch einen unbeschränkteren Einfluss als diese, da er sogar die Volksvertreter vermöge seines „parlamentarischen Bureaus“ zu zensieren und zu maßregeln vermochte. Und er war reicher als sie, denn von den Abgaben seines Volkes, von den fünfzehn Pfennigen, die hunderttausende von Lesern täglich erlegten, blieb der größere Teil in seiner Tasche zurück.

Die Flügeltür öffnete sich halb, ohne dass jemand sichtbar wurde. Aber in der wartenden Menge pflanzte sich sogleich ein Stoß fort, den schließlich der gegen die Wand gedrückte Andreas vor die Brust erhielt. Er griff hastig in die Tasche, die seine Papiere enthielt. Glücklicherweise fand sich der Brief des Herren Schmücke noch vor. Seit einem Jahre hatte der junge Mann nicht mehr des Empfehlungsschreibens gedacht, dass ihm der alte Herr in Gumplach, der sich mit Literatur befasste, an den Doktor Bediener mitgegeben hatte. Andreas kam mit zu großer Ehrfurcht vor den Mächtigen der Erde nach Berlin, um sich gleich anfangs bis zu einem von ihnen vordrängen zu wollen. Herr Schmücke war gewiss ein braver liberaler Bürger, aber ob der Chefredakteur des „Nachtkurier“ auf seine Empfehlung großes Gewicht legen würde, war mehr als zweifelhaft. Um den Brief nicht unbenutzt zu lassen, übergab Andreas ihn einem vorübergehenden Diener, der mit einer Handvoll Depeschen das Erscheinen des Chefs erwartete. Gleich darauf verabschiedete sich der Generalkonsul, den Doktor Bediener bis zur Treppe begleitete. Andreas verfolgte mit scheuem Blick jede Bewegung des Mannes, von dem sein Schicksal abhing. Er sah ihn mit einigen jungen Leuten, die zunächst an seinem Wege standen, leise Worte wechseln und nachdenklich, die Hand, auf der ein großer Brillant blitzte, an seinem grauen Spitzbart, in seinem Kabinett verschwinden. Welche betäubende Fülle von Geschäften und wie wenig Hoffnung für einen bescheidenen Neuling, hier ans Ziel zu gelangen! Doch schon nach wenigen Minuten trat ganz unerwarteterweise derselbe Diener, dem Andreas seine Empfehlung anvertraut hatte, auf den jungen Mann zu, um ihn zum Eintritt in das Bureau des Herrn Chefredakteurs aufzufordern. Andreas durchschritt blutübergossen die Reihen der Wartenden. Er meinte, die Bevorzugung, die ihm zu teil ward, müsse Jedermann auffallen.

Und dann führte er eine möglichst korrekte Verbeugung vor Doktor Bediener aus, der ihm lächelnd die Hand mit dem Brillanten entgegenstreckte.

„Sie sind mir als ein sehr aussichtsreiches Talent empfohlen, Herr — re…“

„Zumsee,“ ergänzte Andreas.

„Herr Zumsee,“ wiederholte Doktor Bediener.

Er wies auf einen Sessel, und Andreas, der dem Leiter des „Nachtkurier“ gegenüber Platz nahm, sagte sich, dass der Empfang gar nicht günstiger hätte sein können. Doktor Bediener begann wieder:

„Die Empfehlung, die Sie geltend machen, ist mir besonders wertvoll, weil sie von einem langjährigen, lieben Freunde kommt. Ich hoffe, es geht meinem alten Schmücke gut?“

Andreas erteilte befriedigende Auskunft über die Gesundheit des alten Herrn. Aber er erfuhr mit Erstaunen die nahen Beziehungen des Chefredakteurs zu Schmücke, der sich deren nie gerühmt hatte.

„Ich meine sogar, Ihren Namen schon irgendwo gefunden zu haben, Herr, Herr — re…“

„Zumsee,“ ergänzte Andreas.

„Herr Zumsee,“ wiederholte Doktor Bediener, und er strich mit zwei gespreizten Fingern suchend über seine hohe Stirn. Dachte er an den „Gumplacher Anzeiger“? Andreas hätte gern von seinen Erfolgen und Hoffnungen, von den Gedichten, der Novelle, Köpf, dem Café Hurra und Türkheimers, des längeren gesprochen. Aber durch die ungeahnte Liebenswürdigkeit des mächtigen Mannes ward in ihm ein solches Entzücken erregt, dass er minutenlang stumm und rot vor heftiger Schwärmerei, den Doktor Bediener ansah.

Nie im Leben hatte Andreas solche ausgesuchte Manieren kennen gelernt, solche weltmännische Haltung, solche natürliche Glätte in jeder Bewegung, jedem Blick und jedem Worte. Doktor Bediener saß ein wenig seitwärts über die Lehne geneigt, auf die er einen Arm stützte. Mit dem andern beschrieb er zuweilen eine flüchtige, doch unnachahmlich runde Geste, die alles zu erklären schien was er andeuten wollte. Sein Lächeln war offenbar so ganz für sein Gegenüber bestimmt, dass dieses sich nicht denken konnte, er werde je einem Andern so viel Aufmerksamkeit schenken. Er sprach zögernd, mit leicht verschleierter Stimme und ließ das R weit hinten im Halse verschwinden, was distinguiert klang. Er mochte mit einem armen jungen Manne noch so familiär tun, ohne es zu wollen bewahrte Doktor Bediener in seinem ganzen Wesen stets eine so vornehme Zurückhaltung, dass es Andreas vorkam, als steige er aus einer höheren Diplomatensphäre hernieder, wohin er jeden Augenblick entrückt zu werden drohte.

Er ließ die Frage, wo er Andreas’ Namen schon gefunden haben mochte, nach einiger Überlegung auf sich beruhen, um sich zu erkundigen:

„Haben Sie schon literarischen Anschluss gefunden?“

„Es ist mir als ganz unbekanntem Anfänger sehr schwer gefallen,“ erwiderte Andreas bescheiden.

„Ich kenne ein paar Redakteure, zum Beispiel Doktor Pohlatz.“

„O, Pohlatz,“ sagte Doktor Bediener mit einer Handbewegung, die nicht viel Hochachtung auszudrücken schien. Doch setzte er hinzu:

„Ich schätze Pohlatz persönlich hoch, ich kann sogar sagen, dass wir recht gute Freunde sind.“

„Schon wieder jemand, mit dem ich verkehrt habe ohne zu wissen, dass er mit dem Chefredakteur des ,Nachtkurier‘ befreundet ist,“ dachte Andreas.

„Nur möchte ich Ihnen davon abraten,“ fuhr Doktor Bediener fort, „an seinem Blatte mitzuarbeiten. Es würde für Sie wenig Wert haben — dies unter uns.“

Andreas verbeugte sich, voll Vergnügen über die vertrauliche Mitteilung, deren er gewürdigt wurde. Wie gut, dass Pohlatz gar nicht daran gedacht hatte, ihn beim „Kabel“ einzuführen! Er lauschte atemlos auf Doktor Bedieners Belehrung.

„Alle diese Blätter mit strenger Parteirichtung taugen nichts für ein aussichtsreiches Talent,“ sagte der Chefredakteur. „Sie würden sich dort kompromittieren, ohne für den Verlust Ihrer Selbständigkeit entschädigt zu werden. Bei uns dagegen, wissen Sie wohl, behält jeder Mitarbeiter seine Eigenart. Der ,Nachtkurier‘ hat vor allen Andern erkannt, dass die Parteipresse sich überlebt hat. Dass man eine gesunde liberale Wirtschaftspolitik vertritt, versteht sich von selbst; wir wären verrückt, wenn wir es nicht täten. (Hier vollführte Doktor Bediene! eine Armbewegung, die einer längeren Parenthese gleichkam.) Im Übrigen betrachten wir uns als ein Organ der deutschen Geisteskultur.“

Doktor Bediener hielt an; er war beinahe warm geworden. Aber er erlangte sofort sein vornehmes Gleichgewicht wieder, dessen augenblickliches Abhandenkommen Andreas in seiner Hingerissenheit gar nicht bemerkt hatte. Ter Chefredakteur betrachtete den Eindruck, den er auf den jungen Mann machte, mit Wohlwollen. Er lächelte sogar, denn er hatte die Bemerkung gemacht, dass Andreas’ Blick, der zwischen dichten und langen Wimpern hervorkam, in seiner Treuherzigkeit merkwürdig einschmeichelnd sei, und dass die bedingungslose Verehrung, die er ausdrückte, einer Dame überaus angenehm sein müsse. Flüchtig dachte er sogar an Frau Türkheimer. Er zögerte noch, denn der misslungene schwarze Rock, der dem gut gewachsenen Jüngling etwas Ungeschicktes gab, forderte zur Vorsicht auf. Das Haar war erbärmlich geschnitten, doch trug Andreas den Kopf recht gut. Dann entschloss sich Doktor Bediener.

„Sie sollten sich vor allem beim Theater einführen, ich meine in den Kreisen, die dem Theater nahe stehen.“

„Schon wieder das Theater,“ dachte Andreas. „Es muss doch etwas damit los sein.“

Er öffnete den Mund, aber Doktor Bediener schnitt seinen Einwand ab.

„Sie werden noch nichts für die Bühne geschrieben haben, das tut nichts zur Sache. Man erobert die Welt nicht mehr von der Schreibstube aus. Auch der Schriftsteller muss heutzutage mit seiner Person eintreten. Sie werden sich in der Gesellschaft umsehen müssen.“

„Kommen jetzt Türkheimers?“ fragte sich Andreas.

Aber der Chefredakteur zögerte wieder.

„Halten Sie sich vorläufig an uns,“ sagte er. „Unsere Sonntagsbeilage ,Die Neuzeit‘ steht den jungen Talenten offen. Schicken Sie uns etwas, und nach zwei, drei Versuchen rechnen wir Sie zu unseren Hausdichtern, die bei den Bühnen natürlich einen Vorsprung haben. Das ist das, was ich Ihnen versprechen kann.“

Die letzten Worte sprach er langsamer, er schien auf etwas zu warten. Aber Andreas sah schon die Spalten des „Nachtkurier“ zu seinem Empfange weit geöffnet. Seine sanguinischen Hoffnungen wurden alle wieder wach. Es ward ihm ganz heiß, und ohne sich zu bedenken, versetzte er:

„Herr Doktor, ohne die große unverdiente Güte, die Sie mir entgegenbringen, würde ich nie gewagt haben, Sie darum zu bitten, verzeihen Sie, dass ich es jetzt wage: würden Sie mich als Volontär aufnehmen?“

Doktor Bedieners Miene drückte plötzlich tiefe Besorgnis aus.

„Sie irren sich,“ sagte er. „Ich meine es mit den jungen Leuten, die mir empfohlen sind, zu gut, um sie auf die von Ihnen bezeichnete Art kalt zu stellen. Haben Sie die dreißig Unglücklichen gesehen, die dort drüben die Zeit totschlagen?“

Andreas begriff, dass das Fenster im Wartezimmer zu seiner und seinesgleichen Abschreckung angebracht sei.

„Wen Herr Jekuser dort hinsetzt, das geht mich nichts an,“ fuhr Doktor Bediener fort. „Aber ich sehe, dass man dort durch das viele Herumlungern faul und unbrauchbar wird. Wer es am längsten ausgehalten hat, bringt es schließlich zu einer kleinen Anstellung bei einem Provinzblatt. Beschränken sich Ihre Träume darauf? — Nein, mein Lieber,“ so schloss der Chefredakteur, „wir haben es besser mit Ihnen im Sinn. Was wir Ihnen versprechen können, habe ich schon gesagt. Sie wissen ja, welcher wirksamen Empfehlung Sie unser Wohlwollen verdanken.“

Bei jedem der von Doktor Bediener gebrauchten, geschäftsmäßig kühlen „wir“ überrieselte es Andreas kalt. Er ward sich bewusst, dass seine persönliche Unterredung mit einem hohen Gönner beendet sei und dass er sich nur noch als namenloser Bittsteller einem Mächtigen gegenüber befinde, lind dies bloß infolge seiner plumpen Ungeschicklichkeit; weil er durch eine dumme Bitte den ganzen schönen Erfolg des bisherigen Gespräches zerstört hatte! Nun fühlte er Doktor Bedieners Blick mit der deutlichen Ankündigung auf sich ruhen, dass die Audienz beendet sei. Und nun wandte sich der Chefredakteur ganz unverhohlen der Stutzuhr auf dem breiten Schreibtische zu. Der arme junge Mann biss sich auf die Lippen. Er war bleich und verwirrt, doch fest entschlossen, sich lieber vom Redaktionsdiener hinaussetzen zu lassen, als unverrichteter Dinge freiwillig zu gehen.

„Ich habe nichts mehr zu riskieren,“ sagte sich Andreas. „Gehe ich jetzt, so hinterlasse ich den denkbar schlechtesten Eindruck.“ — „Ich muss die Empfehlung an Türkheimer haben,“ wiederholte er sich hartnäckig und starrte auf den hellgeblümten englischen Teppich, der den Boden des Zimmers bedeckte. Er wollte ein niedrig hängendes Ölgemälde betrachten, doch versagte ihm der Mut. Sein Blick wagte sich nicht höher als bis zu Doktor Bedieners Lackschuhen und den weißen Gamaschen, über die das graue Beinkleid mit unsäglicher Eleganz herabfiel. Wäre der Chefredakteur nur ein beliebiges großes Tier gewesen, vor dem ein armer junger Mann wie Andreas im Staube kriechen musste! Aber er gebot ihm Achtung als Persönlichkeit; darin lag das Demütigende. Vor Erregung ward Andreas von Ohrensausen befallen. Dazwischen hörte er Doktor Bediener auf den Rand des Schreibtisches trommeln. Er warf einen ängstlichen Blick von unten herauf, die Situation war nicht länger haltbar. Aber zu seiner Verwunderung drehte der Chefredakteur Herrn Schmückes Brief in der Hand. Er sah sogar mit einem halben Lächeln darüber hinweg auf den jungen Mann, dessen Standhaftigkeit ihm schließlich vielleicht Achtung abgewann. Der schwarze Rock musste allerdings mit in Kauf genommen werden. Dennoch überwog das Empfehlende in Andreas’ Erscheinung. Auch war Herr Schmücke Gumplachs gewichtigster liberaler Wähler.

„Die gesellschaftlichen Verbindungen,“ sagte Doktor Bediener, „betrachte ich, wie gesagt, als eine Hauptsache. Ich bin auch gern bereit, Ihnen den Anfang zu erleichtern. Warten Sie, ich werde Sie an ein Haus empfehlen, wo die aussichtsreichen Talente stets mit Wohlwollen aufgenommen werden. Die Hausfrau sammelt die Blüte unserer kunstsinnigen Gesellschaft um sich, Sie werden einflussreichen Leuten begegnen. Profitieren Sie von dem Ton, der bei Türkheimers herrscht, lieber Freund!“

Damit übergab er Andreas die Visitenkarte, die er während des Sprechens mit ein paar Zeilen beschrieben hatte. Der junge Mann sprang auf. In dem Stolz, den er über die Erreichung seines Zieles empfand, steckte er den kostbaren Umschlag so flüchtig in die Brusttasche, als käme es ihm gar nicht darauf an. Dieser Zug mochte den Beifall des Chefredakteurs finden, der die Hand auf Andreas’ Schulter legte und ihn sehr freundlich zur Tür geleitete. Im Vorzimmer konnte jedermann hören, wie Doktor Bediener zu dem sich Verabschiedenden sagte:

„Auf Wiedersehen, lieber Freund!“

„Merkwürdig,“ dachte Andreas, der blind vor Glück die Treppe hinabeilte, „ich meinte schon, es ganz mit ihm verdorben zu haben, und jetzt bin ich gar sein lieber Freund, wie Schmücke und Pohlatz. Nur nicht ängstlich!“ sagte er sich triumphierend, aber auf dem Treppenabsatz rannte er mit einem heraufstürmenden Menschen so heftig zusammen, dass beide sich aneinander klammern mussten, um nicht umzufallen.

„Warum sagen Sie das nicht gleich?“ versetzte der Fremde, während sie sich umarmt hielten. Dann hob er die Blume auf, die seinem Knopfloch entglitten war.

Trotz ihrer stürmischen Begegnung empfing Andreas einen günstigen Eindruck von dem Andern. Es war ein mittelgroßer, untersetzter junger Mann, der einen Zylinder trug. Seine Kleidung war ziemlich elegant, von einer Allerweltseleganz, die nirgends auffallen konnte. Sein Gesicht zeigte ebenfalls nichts Hervorstechendes, er konnte einen mit seinem forschenden Hundeblick ansehen und einem gerade unter der Nase umherschnüffeln, ohne dass man dies unverschämt fand. Er hatte etwas so Heiteres und Gutmütiges an sich, dass man ihn gewiss anstandslos überall einließ, ihm alles Mögliche anvertraute und dabei gar nicht auf ihn achtete. Was wäre für einen Reporter wünschenswerter? Schon wie er Andreas liebenswürdig beiseiteschob, um sich Platz zu machen, war es deutlich, dass er überall durchkommen und alles erfahren musste, was er wollte, ohne auf Hindernisse zu treffen. So unpersönlich wie er aussah, war ein Zusammenstoß mit ihm eigentlich gar keiner.

Er stieg zwei Stufen höher, kam aber eilig zurück und sagte:

„Ach pardon, hörensemal! Da wir nun doch Bekanntschaft gemacht haben, können Sie mir vielleicht sagen, ob der Chef guter Laune ist. Sie kommen doch vom Chef.“

„Ich war beim Doktor Bediener,“ bestätigte Andreas.

„Können Sie mir sagen, was Sie da gemacht haben?“ fragte der andere und er schlug dabei einen so freundschaftlich zusprechenden Ton an, dass Andreas sofort die Überzeugung gewann, er könne im eigenen Interesse nichts besseres tun, als dem Fremden sagen, was er beim Doktor Bediener gemacht habe.

„Nun, ich war an den Chefredakteur empfohlen,“ versetzte er.

„Aha, Sie sind wohl ein neuer Kollege. Sehr erfreut!“

Er schüttelte Andreas die Hand, verbeugte sich und sagte:

„Kaflisch, vom Nachtkurier.“

„Andreas Zumsee.“

„Volontär, was?“

„Doch nicht,“ sagte Andreas stolz ablehnend, als habe er nie den Wunsch gehegt, als Hilfsarbeiter in die Redaktion einzutreten.

„Dann hat er Ihnen wohl die Mitarbeit an der ,Neuzeit‘ angeboten?“

Andreas sah den schlau lächelnden Journalisten an. Kaflisch nahm die Überraschung des Neulings für eine Antwort und fragte weiter.

„Sagensemal, hat er Sie auch an Türkheimers empfohlen?“

„Na, herzlichen Glückwunsch,“ sagte er, als Andreas bejahte. „Ein feines Haus und ’ne schöne Frau.“

Er schmatzte dabei so stimmungsvoll, dass Andreas plötzlich allerlei dunkle Begierden empfand.

„Und besten Dank, sehr geehrter Herr. Wenn der Alte einen zu Türkheimers schickt, dann ist er unfehlbar guter Laune. Dann kann ich ihm mit meinen Geschichten kommen. Es ist ja ’n Elend, nie mehr als zehn Pfennige für die Zeile und dabei noch den Staat erhalten! Jetzt will ich vor dem Gerichtsvollzieher nach Breslau flüchten, wissense, wo jetzt der Lustmordprozess anfängt. Bediener gibt mir die Berichterstattung, passense mal auf. Wenn er zu Ihnen so nett ist und Sie zu Türkheimers schickt, dann tut er mir auch ’ne Liebe. Na, Mahlzeit, und viel Vergnügen. Auf Wiedersehen.“

Er war schon droben im Vorzimmer verschwunden, als Andreas ihm noch nachschaute. Dieser Kaflisch befremdete ihn zwar etwas, aber sein Wesen war nicht gerade abstoßend. Er versöhnte mit seiner zudringlichen Neugier dadurch, dass er auch in seinen eigenen Angelegenheiten keine Diskretion kannte.

Auf der Straße wandte sich Andreas um und sah zur Fassade des Hauses empor, über die die Inschrift „Berliner Nachtkurier“ in mächtigen Relieflettern quer hinüberlief. Der Augenblick schien ihm feierlich, er fühlte, dass hier die ihm vorgeschriebene Laufbahn begann.

Zu Hause ging er sofort an die Sichtung seiner Garderobe. Es hatte seine Schwierigkeit, einen passenden Visitenanzug zusammenzustellen, da jedes der hellen Beinkleider den einen oder anderen Mangel aufwies. Seufzend entschloss sich der arme junge Mann zu der Frackhose, die zusammen mit dem verunglückten schwarzen Rock schon dem Doktor Bediener unvorteilhaft aufgefallen war. Andreas hatte dies wohl bemerkt. Er besaß ein angeborenes Verständnis für gute Kleidung, das sich in Berlin rasch ausgebildet hatte. So oft er über die Friedrichstraße ging, fing er den wohlwollenden Blick irgendeines hübschen Mädchens auf, den sie aber eilig zurückzog, sobald sie den Rock des jungen Mannes abgeschätzt hatte. Diese schlanken blonden Mädchen, die am Arm kleiner geschniegelter Herren mit blanken Zylindern auf schwarzgelockten Häuptern dahinwandelten, ahnten nicht, wie tief sie Andreas verwundeten. Heute wie schon oft, studierte er lange in seinem Rasierspiegel, und er sah besser als jeder andere, warum der Anzug, der doch wenig getragen war, ihm so etwas traurig Ungeschicktes verlieh. Der Gedanke, dass in ganz Berlin kein Schneider auf sein Glück und Talent vertrauen und ihm Kredit geben würde, drückte ihn tief darnieder und hielt ihn zwei Tage von dem Besuche bei Frau Türkheimer ab.

Mit dem Mute der Verzweiflung schlug er endlich den Weg in die Potsdamerstraße ein. Er ging die Königin Augustastraße entlang und bog entschlossen in die Hildebrandt-Privatstraße ein, eine stille mit Sand bestreute Allee, die an beiden Enden durch ein Gitter abgeschlossen war. Das Palais Türkheimer fiel als das großartigste unter den Gebäuden jedem Passanten auf. Es war in einem deutschen Renaissancestil erbaut, den man auf seine Echtheit nicht näher ansehen durfte. Andreas schellte an dem reichen bronzenen Gartentor, und es öffnete sich ohne das Erscheinen eines Menschen. Einsam wie der Märchenprinz, der ein verwunschenes Schloss erobert, schritt der junge Mann über eine Art von Burghof, betrat eine majestätische Freitreppe und stand vor der eleganten Glastür, die in die Wölbung des kunstvoll gemeißelten Portals von profanen Händen eingefügt schien.

Die Tür ging auf, doch der grün-silberne Lakai, der Andreas entgegentrat, besaß die Macht den mutigen Eroberer von der Schwelle seines Paradieses zurückzuscheuchen. Er sagte, dass die gnädige Frau nicht zu Hause sei. Unter dem ersten Eindruck dieser Nachricht übergab ihm der junge Mann seine Karte und das Billet des Doktor Bediener. Gleich darauf fiel ihm ein, dass er dies nicht hätte tun sollen. Er blickte bleich vor Wut dem Diener in das unverschämte Gesicht und stand im Begriffe, einen Schlag hineinzuversetzen. „Wenn es nicht meinem Interesse zuwiderliefe,“ sagte er sich, „würde ich es tun. Übrigens kann ich ihm seine Unverschämtheit nicht nachweisen, sie ist versteckt wie immer bei solchen Menschen.“

Er ging mit der Last seiner vernichteten Hoffnung auf der Brust, die Straße zu Ende und befand sich am Tiergarten. Zwei Stunden lang trieb ihn sein enttäuschter Ehrgeiz in den entlaubten Wegen umher. Er fühlte sich so leer und ziellos wie an den. Tage, als er mit dem Café Hurra zu brechen beschloss. Aber inzwischen hatte er Schritte getan, die nicht so leicht zu wiederholen waren. Wenn nun der freche Lakai, der ihn wie einen stellungsuchenden Kandidaten gemustert hatte, die Karte des Chefredakteurs nicht abgab?

Aber schon am folgenden Morgen erhielt Andreas mit der Post eine Einladung zum Abend des zehnten November, von Frau Adelheid Türkheimer.

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