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Türkheimers
ОглавлениеAndreas Zumsee erschien, weil er dies für vornehmer hielt, sehr spät auf der Soiree in der Hildebrandtstraße. An dem bronzenen Gatter, das diesmal weit aufstand, stieß ein majestätischer Portier seinen Stab auf den Boden. Andreas blickte ihm ins Gesicht, es drückte aber nur imposante Kalte aus. Der Lakai, der ihm seinen Mantel abnahm, war zufällig derselbe, den er kannte. Andreas sah ihn nicht einmal an; du hast mich nicht hindern können, herzukommen, dachte er.
Das Selbstbewusstsein, mit dem er seinen Eintritt vollführte, erstickte seine geheime Verlegenheit, machte ihn aber auch unvorsichtig. Alsbald stieß ihm ein kleines Unglück zu. Neben der Garderobe lag ein Vorzimmer, das Andreas auf den ersten Blick für leer hielt. Er betrat es ohne sich anzukündigen, aber schon nach zwei Schritten stand er auf der Schleppe eines Abendmantels. Es war ein Mantel aus gelber Seide mit Brokatstickerei, gefüttert mit Satin-Duchesse. Und Andreas konnte sich nicht schnell genug zurückziehen, um nicht mehr zu bemerken, dass die Besitzerin des Mantels von dem jungen Mann, der ihn ihr abnahm, einen Kuss empfing. Es war eine große starke Blondine, und das wütende Gesicht mit der aufgestülpten Nase, das sie Andreas zuwandte, erfüllte ihn mit solchem Schrecken, dass er unter gestammelten Entschuldigungen recht kläglich beiseite schlich.
Gleich darauf, wie er die Treppe zum ersten Stock hinan stieg, fielen ihm die geistreichsten Wendungen ein, mit denen er sein Ungeschick hätte gut machen können. Ganz zerschlagen von dem Bewusstsein, der Lage nicht gewachsen gewesen zu sein, ließ er sich durch zwei Säle von einem Strom von Gästen fortziehen, der ihn an das Büffet führte. Im Gedränge stieß er einen distinguiert aussehenden alten Herrn heftig gegen die Schulter und brachte nicht einmal mehr ein Wort der Abbitte hervor, ganz entsetzt über sein neues Missgeschick. Indes sagte der alte Herr verbindlich „Pardon“ und reichte Andreas Teller und Besteck. Der arme junge Mann gewahrte jetzt die seidenen Strümpfe des Haushofmeisters und wandte sich mit blutrotem Gesicht hinweg.
Vor ihm standen Kübel mit Sektflaschen. Ein Diener wartete auf seinen Wink, um ihm einzuschenken. Aber Andreas befürchtete, man möchte ihm ansehen, dass er noch niemals Champagner genossen habe. Er wollte einen Wein wählen, als man hinter ihm lachte. Die verschiedenen Demütigungen, die er in so kurzer Zeit erlitten hatte, brachten ihn außer sich, er war im Begriffe, seine Zukunft durch einen Skandal zu verderben. Sehr bleich drehte er sich nach zwei Herren in seiner Nachbarschaft um, er war entschlossen, den ersten, der ihn schief anzusehen wagte, zu ohrfeigen. Als die beiden jedoch sein Gesicht bemerkten, schienen sie es gar nicht gewesen zu sein. Der eine von ihnen sprach Andreas an, und auch das stärkste Misstrauen konnte in seiner Stimme nur ruhige Höflichkeit entdecken.
„Ich rate Ihnen zu dem Chablis dort,“ sagte er. „Es ist das Feinste, was hier zu haben ist.“
Andreas dankte und trank mit wiedergewonnener Fassung mehrere Gläser. Da der Wein in einen nüchternen Magen gelangte, brachte er bald die freundlichste Wirkung hervor. Als Andreas den letzten Tropfen getrunken hatte, triumphierte er. „Die beiden Jobber haben vor meinem Gesicht Furcht gehabt,“ sagte er sich.
Er empfand das Bedürfnis zu sprechen; man schien sich hier ja unbekannterweise anzureden.
„Da ist ja Kaflisch!“ rief er plötzlich, als begrüßte er einen lange vermissten Freund. Der Journalist zeigte sich am Arm eines korpulenten Herrn mit kurzem schwarzen Spitzbart, schweren Lidern und von dem Aussehen einer bedeutenden Persönlichkeit. Andreas meinte ihn zu erkennen.
Kaflisch musterte den Fremdling. Als er ihn in seinem Gedächtnis untergebracht hatte, schüttelte er ihm die Hand.
„Freut mich, Sie wiederzusehen. Nu sehnsewoll, wie ’ne Empfehlung von unserm Alten hier wirkt?“
„Famos!“ sagte Andreas. Er fühlte sich unternehmungslustig. Er erkundigte sich:
„Wissen Sie nicht, wo die Hausfrau ist?“
„Kommen Sie von Ratibohr?“ fragte der korpulente Herr. Der junge Mann stutzte.
„Nein, von Gumplach,“ erwiderte er.
Der Herr lächelte ihn wohlwollend an, Kaflisch brach in Gelächter aus.
„Goldherz meint, ob Sie der Hausfrau von Herrn Ratibohr was zu sagen haben. Sie wollen sich ihr wohl nur vorstellen? Hat ja gar keinen Zweck.“
Der korpulente Herr folgte gelangweilt dem Ruf eines Bekannten. Kaflisch nahm Andreas’ Arm wie den eines Jugendfreundes.
„War das der berühmte Verteidiger?“ fragte der junge Mann.
„Ihn selbst haben Ihre sterblichen Augen gesehen. Wissense, den müssen Sie kennen lernen.“
Im Mentorton setzte Kaflisch hinzu:
„Von denen, die hier sind, kann keiner sagen, dass er ihn nicht eines Tages nötig haben wird.“
„Wie geht es Ihnen sonst?“ fragte er gleich darauf. „Ist Bediener nett zu Ihnen?“
„Sehr,“ sagte Andreas. „Vorigen Sonntag ist was von mir erschienen.“
„Aha, das Gedicht in der ,Neuzeit‘.“
„Haben Sie es gelesen?“
„Das können Sie nicht verlangen. Aber von jedem aussichtsreichen Talent, das an den Alten empfohlen ist, bringt die ,Neuzeit‘ ein Gedicht. Auf das zweite können Sie lange warten. — Da haben Sie Asta,“ setzte er schnell hinzu, stieß Andreas an und wandte sich unverfroren nach einer vorübergehenden Dame um.
„Wer, Asta?“ fragte Andreas, der Kaflisch’ Beispiel folgte. Aber seine weinselige Aufgeräumtheit rächte sich sofort, er trat der Dame auf die Schleppe, und sie zeigte ihm ein Gesicht voller Verachtung.
„Nu haben Sie sie doch mal angesehen,“ sagte Kaflisch freundlich. Die Dame ging weiter, einem langen blonden Herrn mit schütterem Bart entgegen, der ihr über den Köpfen der Menge, hinten an der Tür zuwinkte.
Andreas war jetzt nicht mehr so leicht aus der Fassung zu bringen. Er fragte, übermütig lachend:
„Sagen Sie doch, wer ist denn die Asta?“
„Die Tochter des Hauses, mein junger Freund. Und wenn die hier spazieren geht, so können Sie glauben, dass die Mutter ganz wo anders ist.“
„Warum?“ fragte Andreas. Er war doch leicht erschrocken.
„Warum? Die liebe Unschuld! Asta ist ’n Mädchen mit Grundsätzen, das heißt, sie geht à la Ibsen frisiert, modernes Weib, mehr intellektuell als Geschlechtswesen, verstehnse mich, sehr geehrter Herr?“
Kaflisch sprach mit der Nase dicht an Andreas' Mund und sehr laut. Es lag ihm offenbar nichts daran, sein Licht unter den Scheffel zu stellen. Um sie her fing man an zu lachen. Andreas fühlte die Aufmerksamkeit auf sich gerichtet, was ihm schmeichelte.
„Und die Mutter?“ fragte er mit erhobener Stimme, während sie weiter schlenderten.
„Die ist ’ne gute Frau,“ erklärte Kaflisch leichthin. „Sogar zu gut gegen uns junge Leute.“
„Ich verstehe,“ sagte Andreas mit einer Betonung, die er für vielsagend hielt.
„Kommt dort nicht Lizzi Laffé?“ fragte er. Der Name jener Dame, die er schon im Vorzimmer durch seine Indiskretion beleidigt hatte, war ihm zu seinem Schrecken eingefallen. Er kannte sie von der Bühne her, der sie angehörte, und Lizzis Beziehungen zu Türkheimer waren im Café Hurra des Öfteren erörtert.
„Abend, Lizzi,“ sagte Kaflisch, der ihr im Vorübergehen die Hand schüttelte. Sie bemerkte Andreas gar nicht, der voll Ehrfurcht feststellte, dass ihre Toilette, seit sie den gelbseidenen Mantel abgelegt, an Prunk noch nichts verloren hatte. Er schaute ihr vorsichtig nach, wie sie in ihrer, alle einschüchternden Üppigkeit, mit Brillanten übersät, am Arm desselben Herrn dahinschritt, mit dem er sie überrascht hatte. Es war ein geschniegelter junger Mann, mit bartlosem, doch herausforderndem Gesicht, breitschultrig, beleibt und von der Haltung eines Corpsstudenten.
„Also Lizzi ist auch da!“
Andreas bemühte sich recht harmlos zu sprechen. Die Begegnung mit dieser Frau, die einer beleidigten Herzogin glich, hatte ihn völlig ernüchtert. Auch sah ihr Begleiter gefährlich aus.
„Na, sie gehört hier ja zum Inventar,“ setzte Andreas hinzu. Kaflisch grinste.
„Solange es dauert, heißt das. Türkheimer soll sie satt haben. Komisch, gerade jetzt, wo seine Frau den Edelberg los ist, wissense?“
„Hab’ ich auch gehört,“ log Andreas, der sich vornahm, ohne weiteres alles zu begreifen.
„Es ist aber nicht schön von Lizzi,“ sagte er vertraulich, „was ich vorhin zwischen ihr und dem jungen Mann gesehen habe, mit dem sie eben vorbeikam.“
Kaflisch horchte auf.
„Mit dem, der so staatserhaltend aussieht?“ fragte er. „Nu, was machten sie denn?“
„Sie küssten sich.“
„Mehr nicht?“
„Kaflisch war enttäuscht. Andreas suchte sich zu entschuldigen.
„Na, hier im Hause —“ meinte er.
„Unsinn. Diederich Klempner ist ja ihr Schoßhündchen. So’n Posten sollten Sie sich auch suchen, mein Lieber. Klempner ist ein Streber, aber ohne Lizzi wäre er nichts geworden.“
„Was ist er denn?“ fragte Andreas.
„Das wissen Sie nicht? Dramatiker doch!“
„Klempner? Ich habe ihn nie auf dem Theaterzettel gesehen.“
„Die liebe Unschuld! Ist ja gar nicht nötig, er schreibt nie was, aber Dramatiker ist er doch.“
„Wieso?“ fragte Andreas ziemlich kurz. Er fand den Ausdruck „Die liebe Unschuld“ etwas zu herablassend. Kaflisch erläuterte:
„Wenn er was schreiben würde, dann würde es vielleicht ein Drama werden. Verstehnse mich?“
Sie betraten jetzt den ersten der drei großen Salons, in deren Tiefe man hineinsah. Er war blassgrün, der zweite purpurrot und der dritte bleu mouraut und Rokoko. Eine erstaunliche Menschenmenge erschwerte das Weiterkommen, aber Kaflisch besaß das Talent, überall Platz zu finden. Andreas wunderte sich über die Menge von Händedrücken, die er rechts und links austeilte. Er schob die Leute mit einem freundschaftlichen Scherz beiseite und wand sich hindurch.
Man hörte schon von Weitem eine Gruppe von Herren streiten, die Börsenbesucher sein mussten, denn sie sprachen von einem Herren Schmerburg, der die Gewohnheit hatte, jeden Tag mit einer neuen Hose zur Börse zu kommen. Heute hatte er eine schon bekannte angehabt, was allerlei Zweifel erregte. Man rief einen untersetzten behäbigen Herrn an, der mit einer schlanken jungen Blondine vorüberging.
„Blosch! Wissen Sie was über Schmerburg?“
„Ist ja alles nicht wahr!“ sagte Blosch phlegmatisch.
„Das mit der Hose?“ fragte jemand.
„Ein Anfall von Melancholie,“ versetzte Blosch. „Schmerburg hat eine unglückliche Liebe.“
Schmerburgs Kredit war wieder hergestellt.
„Der Glückliche!“ seufzte ein schlanker junger Mann mit feinem schwarzen Schnurrbart und mandelförmigen dunklen Samtaugen, denen gewiss noch keine wider standen hatte.
„Duschnitzki, wenn Sie renommieren, möchte man Sie prügeln, so dumm sehen Sie aus,“ sagte ein anderer. Duschnitzki entgegnete sanft:
„Süß! Die liebe Unschuld!“
„Schon wieder die liebe Unschuld,“ bemerkte Andreas für sich.
„Da ist ja Kaflisch!“ riefen die anderen.
„Kaflisch, wissen Sie was von ,Rache‘?“
„Durch!“ antwortete der Journalist. „Türkheimer hat es durch seinen Schwiegersohn in spe beim Polizeipräsidenten durchgesetzt.“
„Ja, wenn man einen Schwiegersohn im Ministerium hat. Hochstetten ist doch Geheimer Rat?“
„Und nicht zu seinem Vergnügen. Vorläufig muss er Türkheimern einen Orden verschaffen. Man weiß nicht welchen, aber irgendeiner soll im Heiratskontrakt inbegriffen sein. Der Sonnenorden von Puerto Vergogna tut es nicht mehr. Und dann muss er ,Rache‘ aufführen lassen.“
„Ganz und gar?“
„Mit lumpigen Änderungen,“ erklärte Kaflisch. „Der Barrikadenkampf, die Ermordung des Verwaltungsrats durch die empörten Proletarier, die Auspeitschung der Bankiersfrau auf offener Straße, alles darf bleiben. Bloß das bisschen Kirchenschändung und die Benutzung der geweihten Gefäße zu unsauberen Zwecken muss weg.“
„Zustand!“
„Frechheit!“
Man rief durcheinander.
„Darf man nur uns auf der Bühne vergewaltigen und die Pfaffen nicht? Was haben die vor uns voraus?“
„Die Religion ist doch eine Sache für sich,“ sagte die schlanke junge Frau, die mit Blosch gekommen war. Einer der Herren bemerkte:
„Die liebe Unschuld!“
Andreas wunderte sich nicht mehr, dass man ihn selbst mit dem Ausdruck anredete, da er auch einer Dame an den Kopf geworfen wurde. Übrigens kehrte das Wort immer wieder. Jeder der nur zwei Sätze sprach, war es sich schuldig, es zu gebrauchen. Indes fühlte Andreas die Verpflichtung, für die junge Frau Partei zu nehmen. Auch fürchtete er albern dazustehen, wenn er noch länger schwieg.
„Die gnädige Frau hat Recht,“ sagte er mit Entschiedenheit. „Die Religion muss aus dem Spiel bleiben,“
„Kann sein,“ meinte einer zögernd, aber Duschnitzki ergriff eifrig die umschlagende Stimmung.
„So ist es. Sie haben recht, gnädige Frau und Sie Herr, Herr —“
„Andreas Zumsee,“ sagte Andreas.
„Schriftsteller,“ setzte Kaflisch hinzu. Duschnitzki fuhr fort:
„Heutzutage, bei den Zuständen kann man alles verulken und mit Füßen treten, die Ehre des Bürgertums —“
„Und unser ruhmreiches Heer!“ rief Süß
„Die allerhöchsten Personen!“ meinte ein anderer.
„Den Ruf einer Frau!“ der nächste.
„Sogar die Börse,“ schlug leise einer vor.
„Aber den lieben Gott!“ sagte Duschnitzki nachdrücklich. „Das geht nicht!“
„Das muss die Polizei verbieten!“ schrie Süß. „Es erregt Ärgernis!“
„Und es ist geschmacklos,“ setzte Duschnitzki geringschätzig hinzu.
„Stimmt!“ versetzte Kaflisch unter allgemeinem Beifall. „Wir haben das überwunden! Man muss schon ’n bisschen veralteter Würdengreis sein wie der große Mann da hinten.“
Die Gesellschaft begann zu lachen. Andreas, der den Blicken der anderen folgte, bemerkte am Eingang zum zweiten Salon einen langen Greis mit kleinem lächelnden Vogelkopf. Ein wenig Flaum tanzte auf seinen kahlen Schädel. Er redete emphatisch auf einen großen Kreis von Damen und Herren ein, aus dem er hoch aufragte. Andreas erhaschte abgerissene Worte: „Dunkle Gewalten erheben heute wieder ihr Haupt …“ Er meinte den Greis schon gesehen zu haben.
„Ist das nicht Waldemar Wennichen?“ fragte er Kaflisch.
„Natürlich! Sie kennen doch unseren großen Dichter. Wollen wir uns dem Kreise seiner Verehrer anschließen?“
Kaflisch suchte Andreas loszuwerden. Er hatte gehofft, der junge Mann werde zu lachen geben, was für ihn, seinen Mentor, schmeichelhaft gewesen wäre. Da Andreas augenblicklich sogar Beifall geerntet hatte, langweilte er Kaflisch.
Der Neuling, aufmerksam und beflissen, nach Doktor Bedieners Weisung von dem hier herrschenden guten Ton zu profitieren, merkte sich, dass man mit Aufklärung nicht prahlen durfte. Während sie ihren Weg fortsetzten, erkundigte er sich bei dem Journalisten, wer jene schlanke junge Frau gewesen sei. Kaflisch erklärte sogleich:
„Die wird nicht gereicht. Es ist Frau Blosch. Lassen Sie sich Ihre Geschichte mal erzählen, zum Beispiel von Diederich Klempner, der versteht es als Dramatiker.“
Sie traten an die Wennichensche Gruppe heran.
„Seien Sie mir gegrüßt, mein Liebling!“ redete Kaflisch einen ernsten Herrn mit tadellosem Frack und schwarzem Vollbart an.
„Darf ich die Herren bekannt machen?“ setzte er hastig hinzu. „Herr Schriftsteller Andreas Zumsee, Herr Liebling, Zionist.“
Indes Andreas sich verbeugte, war Kaflisch schon verschwunden. Andreas stand Herrn Liebling gegenüber, der ihn ernst ansah, ihm kräftig die Hand schüttelte und ohne etwas zu sagen, sich Wennichen wieder zuwandte.
Da der Dichter in der Fistel sprach, verstand man bei der im Zimmer herrschenden Unruhe nur die Schlagwörter, die er mit einem eigentümlichen Ruck seines langen sehnigen Halses hervorbrachte: „Ehre des Handelsstandes — freche Übergriffe von gewisser Seite — arbeitsame Kaufleute — Abwehr — Errungenschaften der bürgerlichen Revolution…“
Andreas verbarg ein überlegenes Lächeln. Er hatte im Café Hurra allerlei über das Privatleben des berühmten Dichters erfahren. Wennichen bezog nur noch halbe Honorare, da er seit fünfzig Jahren immer dieselben Romane verfasste, die niemand mehr las. Er hatte Unglück mit seinen Kindern gehabt, seine Frau war ihm nach unzähligen Liebschaften endlich ganz und gar durchgegangen. Er hatte das alles kaum bemerkt. Er sah nichts von den Veränderungen der Zeit seit achtundvierzig, als er sein erstes Buch schrieb von dem braven jungen Kaufmann, der sich Eintritt in die gänzlich verrottete Adelsfamilie erzwingt, deren Tochter er merkwürdigerweise heiratet. Auch heute noch lebte Wennichen unter braven freisinnigen Kaufleuten, die mit übermütigen Junkern und pfäffischen Finsterlingen in edlem, uneigennützigen Kampfe lagen. Der arme Greis dauerte Andreas, dem es Genugtuung bereitete, einen Dichter aus der Nähe beurteilen zu können, den er früher in Gumplach als einen Stern der Literaturgeschichte angestaunt hatte.
Wennichens Ausfall gegen die Feinde des Lichtes erntete einige Beifallsrufe, doch neben Andreas begann plötzlich Liebling mit wohltönender, kräftiger Baritonstimme zu sprechen. Er sagte:
„Wollen wir die Freiheit, ich meine die wohlverstandene Freiheit erhalten, so müssen wir das Volk zu regieren wissen. Das Volk ist in seiner Wehr- und Urteilslosigkeit leider stets bereit, sich den verführerischen Werbungen der Reaktionäre zu ergeben. Wir müssen es gegen sich selbst verteidigen, und dies kann nur geschehen mittelst forca, farina, e feste!“
„Aha! Aus dem Effeff!“ bemerkte ein witziger Herr.
Man rief lachend durcheinander.
„Ist das Ihre neue Erfindung, Liebling?“
„Sie Scherzbold!“
„Er hat aber recht,“ erklärte jemand, der offenbar italienisch verstand. „Geben wir dem Volke nicht Brot und Feste, so kommen wir selbst früher oder später an den Galgen.“
„Meine Herren!“ fuhr Liebling fort. „Die eben ausgesprochene Überzeugung ist längst fest in mir begründet. In ernster Überlegung habe ich sie an demjenigen Volke erprobt, das meinem Herzen am nächsten steht. Wenn es mir und Gleichgesinnten je gelingen sollte, dieses Volk in das ihm zugehörige und ihm noch immer gelobte Land heimzuführen, glauben Sie, dass wir es durch Parlamente und Presse unglücklich machen würden? Die europäische Korruption soll von unserem Boden verbannt sein!“
„Bravo!“ erscholl es einstimmig unter Lachen.
Man schüttelte dem Redner die Hände. Andreas kam es so vor, als würde Lieblings „Zionismus“ nicht recht ernst genommen, während er ihm doch eine besondere Stellung verschaffte. „Es könnte also nichts schaden, ebenfalls irgendeine Marotte zu haben,“ sagte sich Andreas.
Indes hob sich ganz hinten ein nachlässig gekleideter Herr auf die Zehenspitzen. An dem stupiden Bullenbeißergesicht und dem nicht ganz reinlichen Klappkragen erkannte Andreas den Abgeordneten Tulpe.
„Unsinn!“ rief murrend dieser Politiker. „Wenn das Bürgertum die Prinzipien von achtundvierzig aufgibt, so gibt es sich selbst auf!“
Liebling schickte sich zu einer Erwiderung an, aber ein jeder bemühte sich, seine Meinung zur Geltung zu bringen, die Damen am lautesten. Nur Wennichen stand lächelnd und kopfschüttelnd dabei. Liebling hätte seine ausschweifenden Überzeugungen auf Chinesisch äußern können und er wäre für Wennichen nicht unverständlicher geblieben.
„Aber ich bitte Sie, meine Herrschaften,“ sagte plötzlich mit schriller Stimme ein herzutretender Herr.
„Ratibohr ist da,“ raunte man sich zu. „Er setzt heute Abend den Fuß hier herein? Doch mal einer, der nicht an Schüchternheit leidet!“
Unwillkürlich machten die Nächststehenden ihm Platz, man schien Ratibohr zu fürchten. Er war hager, mit nervöser Kraft in den Bewegungen und von galliger Gesichtsfarbe. Seine Habichtsnase und sein scharfer Blick forderten jeden heraus, der irgendetwas gegen ihn einzuwenden haben sollte. Seine Eleganz erinnerte an Börse und Fechtsaal. Ratibohr hatte gleichviel vom Duellanten und vom Jobber und machte einen umso gefährlicheren Eindruck. Auch ließ er achtunggebietende Geheimnisse hinter seinem Namen ahnen. Er sagte:
„Vertragen wir uns doch, meine Herrschaften! Es ist ja Nebensache, wie regiert wird. Die Geschichte wird schon noch ’n bisschen zusammenhalten.“
Er vollführte eine rasche, alles entscheidende Handbewegung, wobei sein silbernes Armband um das Gelenk klirrte. Seine Meinung fand den größten Beifall. Andreas blickte auf Ratibohr voll Neid und Bewunderung. Den Leuten schon durch sein Erscheinen Respekt einflößen wie er, welch ein Traum! Doch setzten diese Leute ihn in Erstaunen. Seit er auf dem Berliner Pflaster spazieren ging, sah er sie als die herrschende Klasse an, und nun fand er sie so wenig einig über die Grundlagen ihrer Herrschaft. Der bürgerliche Absolutismus, den Liebling vorschlug, lag wohl in ihrem Interesse. Gleichzeitig mochte ihr Vorteil erfordern, so zu tun, als teilten sie noch die fünfzig Jahre alten Ansichten Wennichens. Ihre innere Neigung dagegen schien Ratibohr ausgesprochen zu haben: es war Nebensache wie regiert wurde. Andreas beschloss, sich diese Überzeugung anzueignen, die ihm eines Weltmannes würdig erschien, und der Entschluss ward ihm nicht schwer.
Indes begann der junge Mann nach dem langen Umherdrangen und Stillstehen seine Müdigkeit zu fühlen. Das unnütze Gerede, das ihn in seinen Absichten nicht vorwärts brachte, ward ihm auch zu viel. Er suchte erfolglos nach einem passenden Sitz. Es standen dort breite Stühle aus braun lackiertem Holz mit zart bemalten Seidenpolstern; aber ihre Lehne war steif und schmal wie eine Leiter. Andere Sessel hatten einen dreieckigen Rücken oder es fehlten ihnen die Armstützen. Noch andere waren so niedrig., dass er seine Beine nicht ohne Verlegenheit unterbringen konnte. Kein Sitz gewährte Andreas die Möglichkeit, sich eine zwanglose und der persönlichen Würde angemessene Haltung zu geben.
Höchst unzufrieden irrte er umher, unter dem Vorwande, die Einrichtung zu betrachten. Der dritte Salon, in bleu mourant und Rokoko, zog ihn an. Vor den üppigen Plauderecken, in denen sich Damen aufhielten, standen niedrige spanische Wände mit bunt besticktem Atlas bespannt und mit geschliffenen Glasscheiben in verschnörkelten Rähmen. Sie sahen aus wie die herausgebrochenen Wände einer alten Staatskutsche. Der Vortrag einer Sängerin, die sich nebenan hören ließ, ging unter in den lauten Gesprächen. Als man nach einiger Zeit merkte, dass sie fertig war, ertönte frenetischer Beifall. Drüben auf dem Kamin aus rosigem Porzellan schlug die Stutzuhr, Schildplatt mit eingelegtem Kupfer, halb zwölf.
Andreas setzte sich endlich, er lehnte den Kopf zurück und versuchte sich betäuben zu lassen von der funkelnden Decke, deren vergoldete Kassetten elektrische Birnen bargen. Dies hinderte ihn nicht, von neuem in eine verzweifelte Mutlosigkeit zu verfallen. Was hatte er bisher erreicht? Kein ernsthafter Bekannter stand ihm bei, es war zu klar, dass die Leute, die er kennen lernte, ihn nur daraufhin ansahen, ob sich ihm eine heitere Seite abgewinnen lasse. Gelang es ihm heute Abend nicht, ein Lächeln von der Hausfrau zu erhalten, so war es aus mit seinem Eintritt in diese Welt. Und jetzt, da er einen Blick hier herein getan hatte, fanden seine Begierden erst ihren Gegenstand. Er sandte seine schüchternen Eroberungsblicke im Kreise der geschmückten Frauen umher. Manche waren üppig, schwer und weich wie Odalisken. Andere, Hagere, hoben langgestielte Lorgnons vor die umränderten, pervers blickenden Augen. Wer von einer von ihnen in Gnaden aufgenommen wurde, so als Schoßhündchen wie Diederich Klempner bei Lizzi Laffé, der war sein Lebtag versorgt. Das Geld rollte hier unter den Möbeln umher. Gewiss tat keiner etwas anderes als sich die Taschen zu füllen. Welch ein Wohlleben in diesem Schlaraffenland!
Eine hässliche Falte seines Fracks, die ihm noch nie so aufgefallen war, wie in dieser Beleuchtung, entriss den armen jungen Mann seinen Träumen. Er verglich seine dürftige Kleidung mit den tadellosen Anzügen, die an ihm vorüberwandelten, und bei jedem Vergleiche stieg seine Wut. Endlich befand er sich in der erforderlichen Stimmung, um mit sich selbst va banque zu spielen. Wenn er in einer halben Stunde noch keinen Schritt auf seiner Laufbahn vorwärts getan haben würde, so schwur er sich zu, wegzugehen und nie wiederzukommen.
Er wollte sich erheben, als zwei junge Leute dicht vor ihm stehen blieben. Sie sahen hinüber nach der Palmengruppe, vor der in einer Pompadour-Bergere eine große starke Dame saß. Sie war nicht gerade jung, aber ihr weißer Teint hatte nichts verloren, und so prachtvolle Schultern konnte sie nach Andreas’ Meinung in ihrer Jugend kaum besessen haben. Ihre zu starken Gesichtszüge erhielten etwas Charakteristisches durch den hohen schwarzen Helm von Haaren über der engen Stirn. Sie war in weiße Seide gekleidet, mit tief über die Büste fallenden Spitzen, worauf Brillantagraffen blitzten.
Der eine der jungen Leute bemerkte:
„Sie ist doch noch immer schön.“
„Die Hausfrau?“ sagte der andere. „Selbstredend. Zwar ’n bisschen schwere Nahrung, aber es tut nichts. Je mehr desto besser, nach der Taxe der Wüstenstämme.“
„Welche Taxe?“
„Als Schönste gilt diejenige, die nur auf einem Kamel fortbewegt werden kann. Nach ihr kommt die, die sich auf zwei Sklavinnen stützen muss. — Aber warum macht sie denn so ’n leidendes Gesicht?“
„Frau Türkheimer? Das wissen Sie nicht? Wo kommen Sie denn her? Ratibohr hat ja mit ihr gebrochen.“
„Der Esel! Und warum?“
„Wegen des Gatten, sagt man.“
„Türkheimer? Der wird sich doch nicht lächerlich machen? Er lässt doch seit bald einem Menschenalter seine Frau tun, was sie will. Was hat er denn gegen Natibohr?“
„Ja, Ratibohr soll kein dankbarer Kunde sein. Durch die Vertraulichkeit mit Frau Adelheid ist er hinter allerlei Geheimnisse gekommen. Türkheimer hat gemerkt, dass ihm, seit seine Frau mit Ratibohr zusammen steckt, öfter was vor der Nase weggeschnappt ist. Das hat ihn entrüstet.“
„Wirklich?“
„Türkheimer ist ja ein sehr verständiger Mann, um die Privatangelegenheiten seiner Frau kümmert er sich nicht. Aber wenn die Geschäfte ins Spiel kommen, dann wird er strenge.“
„Und da hat er dem Ratibohr Krach gemacht?“
„Sie kennen ihn nicht. Er hat ihm die Beteiligung an einem feinen Coup angeboten, mit der Bedingung, seine Frau aufzugeben.“
„Und Ratibohr hat eingeschlagen?“
„Was dachten Sie denn?“
In diesem Augenblick sah Andreas den eleganten Doktor Bediener, das Glas im Auge, in der Tür er scheinen. Der junge Mann stürzte jäh auf den Chefredakteur los.
„Herr Doktor!“ sagte er hastig. „Gestatten Sie mir eine Bitte, würden Sie die Güte haben, mich der Dame des Hauses vorzustellen?“
„Comment douc, mon cher!“ rief Doktor Bediener, der früher Korrespondent in Paris gewesen war. Er sah Andreas starr an und setzte hinzu:
„Ich suche Sie seit zwei Stunden, mein lieber Herr, Herr—re…“
„Andreas Zumsee,“ ergänzte Andreas.
Der Chefredakteur ergriff seinen Schützling leicht am Arm, trat mit ihm vor Frau Türkheimer und sprach:
„Schöne Frau, ich mache mir das Vergnügen, Ihnen einen talentvollen jungen Kollegen zuzuführen, Herrn Andreas Zumsee, den ich der kunstsinnigen Güte der gnädigen Frau empfehle.“
Alsbald war Doktor Bediener verschwunden.
Andreas verlängerte seine Verbeugung so sehr, als hypnotisierten ihn seine eigenen, nicht sehr blanken Stiefelspitzen. Ein mitleidiges Lächeln hatte Frau Türkheimer schon wieder unterdrückt, als der junge Mann aufsah. Sie redete ihn sehr freundlich an.
„Unsere jungen Dichter finden hier stets ein offenes Haus, und die von Doktor Bediener empfohlenen Talente sind uns besonders willkommen, Herr Zumsee.“
Andreas verbeugte sich abermals. Er nahm das Tabouret ein, auf das Frau Türkheimer deutete.
„Widmen Sie sich schon lange der Literatur?“ fragte sie.
„Erst seit ganz kurzer Zeit,“ erklärte Andreas, „und ich durfte nicht hoffen, seitens der gnädigen Frau einen so wohlwollenden Empfang zu finden, der mich unendlich glücklich macht. Das Interesse an der Literatur ist im Lande so gering, dass wir jungen Anfänger von vornherein eine tiefe Dankbarkeit den wenigen Häusern entgegenbringen, in denen ein modern verfeinerter Geschmack gepflegt wird.“
Ein junger Mann, der schon etwas mehr als Andreas den Ernst seiner Provinz abgeschüttelt hätte, würde anders gesprochen haben. Jedenfalls hatte Frau Türkheimer etwas anderes erwartet, sie wurde erst jetzt auf den jungen Mann aufmerksam. Seine zu Hause ersonnene Rede schien sie nicht übel zu finden. Sie lehnte sich in die Bergère zurück, einen Augenblick lächelte sie sogar geschmeichelt, Andreas, der die Lorgnons der rechts und links sitzenden Damen fürchtete, sah Frau Türkheimer unverwandt in die Augen, und sein Blick, den dichte, vorn aufwärts gebogene Wimpern beschatteten, machte den von Doktor Bediener vorausgesehenen Eindruck. Sie fand ihn angenehm, ganz frei von Dreistigkeit und voll jugendlicher Hingebung. Da Andreas sich geprüft fühlte, errötete er, was seinem knabenhaften Blondkopf mit dem leichten Flaum auf der Oberlippe sehr gut stand. Sie fuhr fort, ihn zu betrachten. Der geheime Schmerz, der über ihr Gesicht einen Schleier geworfen hatte, geriet in Vergessenheit. Es blieb nur eine sanfte Schwermut übrig, genährt durch den Anblick des jungen Menschen, der auch des Anteils einer mitleidigen Seele zu bedürfen schien. Andreas ahnte etwas Ähnliches. Er fand sich in seiner Ungeschicktheit selbst bedauernswert, aber es kränkte ihn, sich von einer schönen Frau bemitleiden lassen zu müssen. Er ward noch röter. Sie erkundigte sich:
„Und wie befinden Sie sich in Berlin? Denn Sie haben doch wohl erst kürzlich Ihre Heimat verlassen?“
„Ich komme vom Rhein, gnädige Frau.“
„Ich glaubte es an Ihrer Aussprache zu hören. Ah! Der Rhein!“ hauchte Frau Türkheimer. Sie sann einen Augenblick, ließ sich indes auf eine Beschreibung der Stimmungen, der ihr der Rhein eingeflößt hatte, nicht ein.
„Sie müssen sich hier wohl recht wie in der Fremde fühlen?“ fragte sie unwillkürlich leiser. Schwermut, Mitleid und Träumerei zogen eine Hecke um sie und diesen jungen Mann, sie wusste selbst nicht wie.
„Kommt Ihnen hier das Leben nicht viel kälter vor als in Ihrer Provinz? Bei Ihnen kennt man Fröhlichkeit, glaube ich, hier aber nur Spottlust. Und dann das Geld! Merken Sie sich für Ihren hiesigen Aufenthalt: es gibt hier nichts, was man nicht um eines guten Geschäftes willen verraten würde!“
Andreas meinte bei den ruhig gesprochenen Worten der Dame doch dem Schrei einer wunden Seele zu lauschen. Er fühlte sich geschmeichelt durch die Andeutung, die sie selbst ihm von ihrem Unglück machte. Sie setzte nachlässig hinzu:
„Haben Sie schon einen Schneider, Herr Zumsee?“
Andreas glaubte missverstanden zu haben.
„Sie brauchen Freunde, die Sie anleiten. Warum sollte ich es nicht tun?“
Andreas verbeugte sich.
„Gehen Sie doch zu Behrend in der Mohrenstraße. Ich erlaube Ihnen, sich auf mich zu berufen, dann wird man Ihnen eine tadellose Ausstattung besorgen. Ich schicke Ihnen meine Karte.“
Sie reichte ihm ihre wohlgeformte Hand, die sich unter dem Handschuh ein wenig fett, aber nicht zu fett, anfühlte.
„Übrigens vergessen Sie uns nicht, ich bin jeden Freitag zu Hause.“
Andreas sprang auf, küsste die Hand und entfernte sich langsam, mit verhaltenem Atem. Infolge des Erlebten waren seine Sinne förmlich erstarrt. Als sie wieder frei wurden, hörte er hinter sich jemand sagen:
„Donnerwetter! Dem gibt er’s im Schlaf! Sie kennen doch den Trick mit dem Schneider? Wenn der Frau Türkheimers Karte sieht, so liefert er den jungen Leuten Anzüge für fünfzig Mark, die uns dreihundert kosten.“
Ein wenig weiter bemerkte Andreas jenen Generalkonsul mit kleinem Spitzbauch und rötlichen gefärbten Koteletten, den er im Vorzimmer des „Nachtkurier“ getroffen hatte. Dieser Herr lächelte, wie der junge Mann vorüberging, so freundlich, und er schien so bereit zu einer Begrüßung zu sein, dass Andreas sich vor ihm verneigte. Der Generalkonsul erwiderte eifrig seinen Gruß.
Ein Unbekannter trat auf Andreas zu und schüttelte ihm ohne Umstände kräftig die Hand.
„Sind Sie schon lange in Berlin, mein Herr?“ fragte er.
„Dreizehn Monate,“ sagte Andreas.
„Nu sehnsemal,“ bemerkte jener. „Ich bin schon dreizehn Jahre in Berlin, und Frau Türkheimer hat mir noch keinen Schneider empfohlen.“
Damit entfernte der Unbekannte sich wieder.
Unter der Tür des zweiten Salons, in den Andreas zurückkehrte, holte ihn Diederich Klempner ein, der ihm eine formelle Korpsstudentenverbeugung machte.
„Diederich Klempner mein Name,“ sagte er kurz und schneidig.
„Andreas Zumsee.“
„Wir sind ja wohl Kollegen,“ bemerkte Klempner. „Donnerwetter, Sie haben aber Glück!“ setzte er sofort hinzu. „Das muss man übrigens haben, sonst ist in unserer Branche nichts zu wollen.“
Andreas drehte sich um und zeigte Klempner den Herrn mit den gefärbten Favoris.
„Entschuldigen Sie, wer ist der Herr dort drüben?“
„Der? Na, das ist doch Türkheimer!“
Andreas versank in Sinnen. In seiner Überraschung war ihm zunächst nur eine Kleinigkeit eingefallen. Generalkonsul war ein so vornehmer Titel, und auf der Einladungskarte hatte nur „Frau Adelheid Türkheimer“ gestanden! Diederich Klempner grinste.
„Es kommt Ihnen wohl komisch vor, dass er Sie so auffordernd angelächelt hat? Na, natürlich, Sie haben doch seinen Konkurrenten Ratibohr bei seiner Frau ausgestochen!“