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Kapitel I

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Da er Raat hieß, nannte die ganze Schule ihn Unrat. Nichts konnte

einfacher und natürlicher sein. Der und jener Professor wechselten

zuweilen ihr Pseudonym. Ein neuer Schub Schüler gelangte in die Klasse,

legte mordgierig eine vom vorigen Jahrgang noch nicht genug gewürdigte

Komik an dem Lehrer bloß und nannte sie schonungslos bei Namen. Unrat

aber trug den seinigen seit vielen Generationen, der ganzen Stadt war er

geläufig, seine Kollegen benutzten ihn außerhalb des Gymnasiums und auch

drinnen, sobald er den Rücken drehte. Die Herren, die in ihrem Hause

Schüler verpflegten und sie zur Arbeit anhielten, sprachen vor ihren

Pensionären vom Professor Unrat. Der aufgeweckte Kopf, der den

Ordinarius der Untersekunda hätte neu beobachten und nochmals abstempeln

wollen, wäre nie durchgedrungen; schon darum nicht, weil der gewohnte

Ruf auf den alten Lehrer noch so gut seine Wirkung übte wie vor

sechsundzwanzig Jahren. Man brauchte nur auf dem Schulhof, sobald er

vorbeikam, einander zuzuschreien:

»Riecht es hier nicht nach Unrat?«

Oder:

»Oho! Ich wittere Unrat!«

Und sofort zuckte der Alte heftig mit der Schulter, immer mit der

rechten, zu hohen, und sandte schief aus seinen Brillengläsern einen

grünen Blick, den die Schüler falsch nannten, und der scheu und

rachsüchtig war: der Blick eines Tyrannen mit schlechtem Gewissen, der

in den Falten der Mäntel nach Dolchen späht. Sein hölzernes Kinn mit dem

dünnen, graugelben Bärtchen daran klappte herunter und hinauf. Er konnte

dem Schüler, der geschrien hatte, »nichts beweisen« und mußte

weiterschleichen auf seinen magern, eingeknickten Beinen und unter

seinem fettigen Maurerhut.

Zu seiner Jubelfeier im Vorjahr hatte das Gymnasium ihm einen Fackelzug

gebracht. Er war auf seinen Balkon getreten und hatte geredet. Während

alle Köpfe, in den Nacken gelegt, zu ihm hinaufsahen, war plötzlich eine

unschöne Quetschstimme losgegangen:

»Da ist Unrat in der Luft!«

Andere hatten wiederholt:

»Unrat in der Luft! Unrat in der Luft!«

Der Professor dort oben fing an zu stottern, obwohl er den Zwischenfall

vorausgesehn hatte, und sah dabei jedem der Schreier in den geöffneten

Mund. Die andern Herren standen in der Nähe; er fühlte, daß er wieder

einmal »nichts beweisen« könne; aber er merkte sich alle Namen. Schon

tags darauf gab der mit der gequetschten Stimme dadurch, daß er das

Heimatsdorf der Jungfrau von Orleans nicht kannte, dem Professor

Gelegenheit zu der Versicherung, er werde ihm im Leben noch oftmals

hinderlich sein. Richtig war dieser Kieselack zu Ostern nicht versetzt

worden. Mit ihm blieben die meisten in der Klasse zurück von denen, die

am Jubiläumsabend geschrien hatten, so auch von Ertzum. Lohmann hatte

nicht geschrien und blieb dennoch sitzen. Dieser erleichterte die

Absicht Unrats durch seine Trägheit und jener durch seine Unbegabtheit.

Nächsten Spätherbst nun, an einem Vormittag um elf, in der Pause vor dem

Klassenaufsatz über die Jungfrau von Orleans, geschah es, daß von

Ertzum, der der Jungfrau immer noch nicht nähergetreten war und eine

Katastrophe voraussah, in einem Anfall schwerfälliger Verzweiflung das

Fenster aufriß und aufs Geratewohl, mit wüster Stimme in den Nebel

hinausbrüllte:

»Unrat!«

Es war ihm unbekannt, ob der Professor in der Nähe sei, und es war ihm

gleichgültig. Der arme, breite Landjunker war nur von dem Bedürfnis

fortgerissen worden, noch einen kurzen Augenblick seinen Organen freies

Spiel zu gewähren, bevor er sich für zwei Stunden hinhocken mußte vor

ein weißes Blatt, das leer war, und es mit Worten bedecken aus seinem

Kopf heraus, der auch leer war. Tatsächlich aber ging Unrat grade über

den Hof. Als der Ruf aus dem Fenster ihn traf, machte er einen eckigen

Sprung. Im Nebel droben unterschied er von Ertzums knorrigen Umriß. Kein

Schüler hielt sich drunten auf, keinem konnte von Ertzum das Wort

zugerufen haben. »Dieses Mal«, dachte Unrat frohlockend, »hat er mich

gemeint. Diesmal kann ich es ihm beweisen!«

Er nahm die Treppe in fünf Sätzen, riß die Klassentür auf, hastete

zwischen den Bänken hindurch, schwang sich, in das Katheder gekrallt,

auf die Stufe. Da blieb er bebend stehn und mußte Atem schöpfen. Die

Sekundaner hatten sich zu seiner Begrüßung erhoben, und äußerster Lärm

war jäh in ein Schweigen versunken, das förmlich betäubte. Sie sahen

ihrem Ordinarius zu, wie einem gemeingefährlichen Vieh, das man leider

nicht totschlagen durfte, und das augenblicklich sogar einen peinlichen

Vorteil über sie gewonnen hatte. Unrats Brust arbeitete heftig;

schließlich sagte er mit seiner begrabenen Stimme:

»Es ist mir da vorhin immer mal wieder ein Wort zugerufen worden, eine

Bezeichnung -- ein Name denn also: ich bin nicht gewillt, ihn mir bieten

zu lassen. Ich werde diese Schmähung durch solche Menschen, als welche

ich Sie kennen zu lernen leider Gelegenheit hatte, nie dulden, merken

Sie sich das! Ich werde Sie fassen, wo immer ich es vermag. Ihre

Verworfenheit, von Ertzum, nicht genug damit, daß sie mir Abscheu

einflößt, soll sie an der Festigkeit eines Entschlusses wie Glas

zerbrechen, den ich Ihnen hiermit verkünde. Noch heute werde ich von

Ihrer Tat dem Herrn Direktor Anzeige erstatten, und was in meiner Macht

steht, soll -- traun fürwahr -- geschehen, damit die Anstalt wenigstens

von dem schlimmsten Abschaum der menschlichen Gesellschaft befreit

werde!«

Darauf riß er sich den Mantel von den Schultern und zischte:

»Setzen!«

Die Klasse setzte sich, nur von Ertzum blieb stehn. Sein dicker, gelb

punktierter Kopf war jetzt so feuerrot wie die Borsten oben darauf. Er

wollte etwas sagen, setzte mehrmals an, gab es wieder auf. Schließlich

stieß er heraus:

»Ich bin es nicht gewesen, Herr Professor!«

Mehrere Stimmen unterstützten ihn, opferfreudig und solidarisch:

»Er ist es nicht gewesen!«

Unrat stampfte auf:

»Stille!... Und Sie, von Ertzum, merken Sie sich, daß Sie nicht der

erste Ihres Namens sind, den ich in seiner Laufbahn -- gewiß nun

freilich -- beträchtlich aufgehalten habe, und daß ich Ihnen auch ferner

Ihr Fortkommen, wenn nicht gar unmöglich machen, so doch, wie seinerzeit

Ihrem Onkel, wesentlich erschweren werde. Sie wollen Offizier werden,

nicht wahr, von Ertzum? Das wollte Ihr Onkel auch. Weil er jedoch das

Ziel der Klasse nie erreichte und das Reifezeugnis für den

Einjährig-Freiwilligen-Dienst -- aufgemerkt nun also -- ihm dauernd

versagt werden mußte, kam er auf eine sogenannte Presse, wo er jedoch

ebenfalls gescheitert sein mag, so daß er endlich nur infolge eines

besonderen Gnadenaktes seines Landesherrn -- doch nun immerhin -- den

Zutritt zur Offizierskarriere erlangte, die er dann aber, scheint es,

bald wieder unterbrechen mußte. Wohlan! Das Schicksal Ihres Onkels, von

Ertzum, dürfte auch das Ihre werden oder doch dem jenes sich ähnlich

gestalten. Ich wünsche Ihnen Glück dazu, von Ertzum. Mein Urteil über

Ihre Familie, von Ertzum, steht seit fünfzehn Jahren fest ... Und

nun --«

Hierbei schwoll Unrats Stimme unterirdisch an.

»Sie sind nicht würdig, an der erhabenen Jungfrauengestalt, zu der wir

jetzt übergehen, Ihre geistlose Feder zu wetzen. Fort mit Ihnen ins

Kabuff!«

Von Ertzum, langsam von Verständnis, lauschte noch immer. Vor

angestrengter Aufmerksamkeit ahmte er unbewußt mit den Kiefern die

Bewegungen nach, die der Professor mit den seinigen vollführte. Unrats

Kinn, in dessen oberem Rand mehrere gelbe Gräten staken, rollte, während

er sprach, zwischen den hölzernen Mundfalten wie auf Geleisen, und sein

Speichel spritzte bis auf die vorderste Bank. Er schrie auf:

»Sie haben die Kühnheit, Bursche!... Fort, sage ich, ins Kabuff!«

Aufgescheucht drängte von Ertzum sich aus der Bank hervor. Kieselack

raunte ihm zu:

»Mensch, wehr dich doch!«

Lohmann, dahinter, verhieß unterdrückt:

»Laß nur, den kriegen wir noch wieder kirre.«

Der Verurteilte trollte sich am Katheder vorbei, in das Gelaß, das der

Klasse als Garderobe diente, und worin es stockfinster war. Unrat

stöhnte vor Erleichterung, als hinter dem breiten Menschen sich die Tür

geschlossen hatte.

»Nun wollen wir die Zeit nachholen,« sagte er, »die uns dieser Bursche

gestohlen hat. Angst, hier haben Sie das Thema, schreiben Sie es an die

Tafel.«

Der Primus nahm den Zettel vor seine kurzsichtigen Augen und machte sich

langsam ans Schreiben. Alle sahen mit Spannung unter der Kreide die

Buchstaben entstehn, von denen so viel abhing. Wenn es nun eine Szene

betraf, die man zufällig nie »präpariert« hatte, dann hatte man »keinen

Dunst« und »saß drin«. Aus Aberglaube sagte man, noch bevor die Silben

an der Tafel einen Sinn annahmen:

»O Gott, ich fall' rein.«

Schließlich stand dort oben zu lesen:

»Johanna: Es waren drei Gebete, die du tatst;

Gib wohl acht, Dauphin, ob ich sie dir nenne!«

(Jungfrau von Orleans, erster Aufzug, zehnter Auftritt.)

»Thema: Das dritte Gebet des Dauphins.«

Als sie dies gelesen hatten, sahen alle einander an. Denn alle »saßen

drin«. Unrat hatte sie »hineingelegt«. Er ließ sich mit einem schiefen

Lächeln im Lehnstuhl auf dem Katheder nieder und blätterte in seinem

Notizbuch.

»Nun?« fragte er, ohne aufzusehn, als sei alles klar, »wollen Sie noch

was wissen?... Also los!«

Die meisten knickten über ihrem Heft zusammen und taten, als schrieben

sie schon. Einige starrten entgeistert vor sich hin.

»Sie haben noch fünfviertel Stunden,« bemerkte Unrat gleichmütig,

während er innerlich jubelte. Dieses Aufsatzthema hatte noch keiner

gefunden von den unbegreiflich gewissenlosen Schulmännern, die durch

gedruckte Leitfäden es der Bande ermöglichten, mühelos und auf

Eselsbrücken die Analyse jeder beliebigen Dramenszene herzustellen.

Manche in der Klasse erinnerten sich des zehnten Auftritts im ersten

Aufzug und kannten beiläufig die zwei ersten Gebete Karls. Vom dritten

wußten sie nichts mehr, es war, als hätten sie es nie gelesen. Der

Primus und noch zwei oder drei, darunter Lohmann, waren sogar sicher,

sie hätten es nie gelesen. Der Dauphin ließ sich ja von der Prophetin

nur zwei seiner nächtlichen Bitten wiederholen; das genügte ihm, um an

Johannas Gottgesandtheit zu glauben. Das dritte stand schlechterdings

nicht da. Dann stand es gewiß an einer andern Stelle oder ergab sich

irgendwo mittelbar aus dem Zusammenhang; oder es ging gar ohne weiteres

in Erfüllung, ohne daß man wissen konnte, hier ging etwas in Erfüllung?

Daß es einen Punkt geben konnte, wo er niemals aufgemerkt hatte, das gab

auch der Primus Angst im stillen zu. Auf alle Fälle mußte über dieses

dritte Gebet, ja selbst über ein viertes und fünftes, wenn Unrat es

verlangt hätte, irgend etwas zu sagen sein. Über Gegenstände, von deren

Vorhandensein man nichts weniger als überzeugt war, etwa über die

Pflichttreue, den Segen der Schule und die Liebe zum Waffendienst, eine

gewisse Anzahl Seiten mit Phrasen zu bedecken, dazu war man durch den

deutschen Aufsatz seit Jahren erzogen. Das Thema ging einen nichts an;

aber man schrieb. Die Dichtung, der es entstammte, war einem, da sie

schon seit Monaten dazu diente, einen »hineinzulegen«, auf das

gründlichste verleidet; aber man schrieb mit Schwung.

Mit der Jungfrau von Orleans beschäftigte die Klasse sich seit Ostern,

seit dreiviertel Jahren. Den Sitzengebliebenen war sie sogar schon aus

dem Vorjahr geläufig. Man hatte sie vor- und rückwärts gelesen, Szenen

auswendig gelernt, geschichtliche Erläuterungen geliefert, Poetik an ihr

getrieben und Grammatik, ihre Verse in Prosa übertragen und die Prosa

zurück in Verse. Für alle, die beim ersten Lesen Schmelz und Schimmer

auf diesen Versen gespürt hatten, waren sie längst erblindet. Man

unterschied in der verstimmten Leier, die täglich wieder einsetzte,

keine Melodie mehr. Niemand vernahm die eigen weiße Mädchenstimme, in

der geisterhafte, strenge Schwerter sich erheben, der Panzer kein Herz

mehr deckt, und Engelflügel weit ausgebreitet, licht und grausam

dastehn. Wer von diesen jungen Leuten später einmal unter der fast

schwülen Unschuld jener Hirtin gezittert hätte, wer den Triumph der

Schwäche in ihr geliebt hätte, wer um die kindliche Hoheit, die vom

Himmel verlassen, zu einem armen, hilflos verliebten kleinen Mädel wird,

je geweint hätte, der wird nun das alles nicht so bald erleben. Zwanzig

Jahre vielleicht wird er brauchen, bis Johanna ihm wieder etwas anderes

sein kann als eine staubige Pedantin.

* * * * *

Die Federn kritzelten; Professor Unrat lugte, mit nichts weiter

beschäftigt, über die gebeugten Nacken hinweg. Es war ein guter Tag, an

dem er einen »gefaßt« hatte, besonders wenn es einer war, der ihm

»seinen Namen« gegeben hatte. Dadurch ward das ganze Jahr gut. Leider

hatte er schon seit zwei Jahren keinen der heimtückischen Schreier mehr

»fassen« können. Das waren schlechte Jahre gewesen. Ein Jahr war gut

oder schlecht, je nachdem Unrat einige »faßte« oder ihnen »nichts

beweisen« konnte.

Unrat, der sich von den Schülern hinterrücks angefeindet, betrogen und

gehaßt wußte, behandelte sie seinerseits als Erbfeinde, von denen man

nicht genug »hineinlegen« und vom »Ziel der Klasse« zurückhalten konnte.

Da er sein Leben ganz in Schulen verbracht hatte, war es ihm versagt

geblieben, die Knaben und ihre Dinge in die Perspektive des Erfahrenen

zu schieben. Er sah sie so nah, wie einer aus ihrer Mitte, der

unversehens mit Machtbefugnissen ausgestattet und aufs Katheder erhoben

wäre. Er redete und dachte in ihrer Sprache, gebrauchte ihr Rotwälsch,

nannte die Garderobe ein »Kabuff«. Er hielt seine Ansprachen in dem

Stil, den auch sie in solchen Fällen angewendet haben würden, nämlich in

latinisierenden Perioden und durchwirkt mit »traun fürwahr«, »denn also«

und ähnlichen Häufungen alberner kleiner Flickworte, Gewohnheiten seiner

Homerstunde in Prima; denn die leichten Umständlichkeiten des Griechen

mußten alle recht plump mitübersetzt werden. Da er selber steife

Gliedmaßen bekommen hatte, verlangte er das gleiche von den andern

Insassen der Anstalt. Das fortwährende Bedürfnis in jugendlichen

Gliedern und in jugendlichen Gehirnen, in denen von Knaben, von jungen

Hunden -- ihr Bedürfnis zu jagen, Lärm zu machen, Püffe auszuteilen, weh

zu tun, Streiche zu begehn, überflüssigen Mut und Kraft ohne Verwendung

auf nichtsnutzige Weise loszuwerden: Unrat hatte es vergessen und nie

begriffen. Wenn er strafte, tat er es nicht mit dem überlegenen

Vorbehalt: »Ihr seid Rangen, wie's euch zukommt, aber Zucht muß sein«;

sondern er strafte im Ernst und mit zusammengebissenen Zähnen. Was in

der Schule vorging, hatte für Unrat Ernst und Wirklichkeit des Lebens.

Trägheit kam der Verderblichkeit eines unnützen Bürgers gleich,

Unachtsamkeit und Lachen waren Widerstand gegen die Staatsgewalt, eine

Knallerbse leitete Revolution ein, »versuchter Betrug« entehrte für alle

Zukunft. Aus solchen Anlässen erbleichte Unrat. Schickte er einen ins

»Kabuff«, war ihm dabei zumute, wie dem Selbstherrscher, der wieder

einmal einen Haufen Umstürzler in die Strafkolonie versendet und, mit

Angst und Triumph, zugleich seine vollste Macht und ein unheimliches

Wühlen an ihrer Wurzel fühlt. Und den aus dem »Kabuff« Zurückgekehrten

und allen andern, die ihn je angetastet hatten, vergaß Unrat es nie. Da

er seit einem Vierteljahrhundert an der Anstalt wirkte, waren Stadt und

Umgegend voll von seinen ehemaligen Schülern, von solchen, die er bei

Nennung seines Namens »gefaßt« oder denen er es »nicht hatte beweisen«

können, und die alle ihn noch jetzt so nannten! Die Schule endete für

ihn nicht mit der Hofmauer; sie erstreckte sich über die Häuser

ringsumher und auf alle Altersklassen der Einwohner. Überall saßen

störrische, verworfene Burschen, die »ihr's« nicht »präpariert« hatten

und den Lehrer befeindeten. Ein Neuer, noch ahnungslos, bei dem zu Haus

ältere Verwandte über den Professor Unrat gelacht hatten wie über eine

Jugenderinnerung von freundlicher Komik, und der nun mit dem Schub zu

Ostern in Unrats Klasse gelangt war, konnte sich bei der ersten falschen

Antwort anfauchen hören:

»Von Ihnen habe ich hier schon drei gehabt. Ich hasse Ihre ganze

Familie!«

* * * * *

Unrat auf seinem erhabenen Posten über all den Köpfen genoß seine

vermeintliche Sicherheit; und inzwischen war neues Unheil am Ausbrechen.

Es kam von Lohmann.

Lohmann hatte seinen Aufsatz sehr kurz abgetan und dann zu einer

Privatbeschäftigung gegriffen. Die wollte aber nicht vorwärtskommen,

denn der Fall seines Freundes von Ertzum wurmte Lohmann. Er hatte sich

gewissermaßen zum moralischen Schutzherrn des kräftigen jungen Edelmanns

aufgeworfen und betrachtete es als ein Gebot der eigenen Ehre, die

geistige Schwäche des Freundes, wo es ging, mit seinem so hoch

entwickelten Hirn zu decken. Im Augenblick, wo von Ertzum eine unerhörte

Dummheit sagen wollte, räusperte Lohmann sich lärmend und soufflierte

ihm darauf das Richtige. Die unbegreiflichsten Antworten des andern

machte er den Mitschülern achtbar durch die Behauptung, von Ertzum habe

den Lehrer nur »wütend ärgern« wollen.

Lohmann war ein Mensch mit schwarzen Haaren, die über der Stirn sich

bäumten und zu einer schwermütigen Strähne zusammenfielen. Er hatte die

Blässe Luzifers und eine talentvolle Mimik. Er machte Heinesche Gedichte

und liebte eine dreißigjährige Dame. Durch die Erwerbung einer

literarischen Bildung in Anspruch genommen, konnte er der Schule nur

wenig Aufmerksamkeit gewähren. Das Lehrerkollegium, dem es aufgefallen

war, daß Lohmann immer erst im letzten Quartal zu arbeiten begann, hatte

ihn trotz seiner zum Schluß genügenden Leistungen sitzen lassen, schon

in zwei Klassen. So saß Lohmann, grade wie sein Freund, mit siebzehn

Jahren noch unter lauter Vierzehn- und Fünfzehnjährigen. Und wenn von

Ertzum dank seiner körperlichen Entwicklung zwanzig zu sein schien, so

erhöhten sich Lohmanns Jahre dadurch, daß ihn der Geist berührt hatte.

Was mußte nun einem Lohmann der hölzerne Hanswurst dort auf dem Katheder

für einen Eindruck machen; dieser an einer fixen Idee leidende Tölpel.

Wenn Unrat ihn aufrief, trennte er sich ohne Eile von seiner der Klasse

fernstehenden Lektüre, und die breite, gelbblasse Stirn in befremdeten

Querfalten, prüfte er aus verächtlich gesenkten Lidern die ärmliche

Verbissenheit des Fragestellers, den Staub in des Schulmeisters Haut,

die Schuppen auf seinem Rockkragen. Schließlich warf er einen Blick auf

seine eigenen geschliffenen Fingernägel. Unrat haßte Lohmann beinahe

mehr als die andern, wegen seiner unnahbaren Widersetzlichkeit, und fast

auch deshalb, weil Lohmann ihm =nicht= seinen Namen gab; denn er fühlte

dunkel, das sei noch schlimmer gemeint. Lohmann vermochte den Haß des

armen Alten beim besten Willen nicht anders zu erwidern als mit matter

Geringschätzung. Ein wenig von Ekel beträufeltes Mitleid kam auch hinzu.

Aber durch die Kränkung von Ertzums sah er sich persönlich

herausgefordert. Er empfand, als der einzige unter dreißig, Unrats

öffentliche Lebensbeschreibung des von Ertzumschen Onkels als eine

niedrige Handlung. Zuviel durfte man dem Schlucker dort oben nicht

erlauben. Lohmann entschloß sich also. Er stand auf, stützte die Hände

auf den Tischrand, sah dem Professor neugierig beobachtend in die Augen,

als habe er einen merkwürdigen Versuch vor, und deklamierte vornehm

gelassen:

»Ich kann hier nicht mehr arbeiten, Herr Professor. Es riecht auffallend

nach Unrat.«

Unrat machte einen Sprung im Sessel, spreizte beschwörend eine Hand und

klappte stumm mit den Kiefern. Hierauf war er nicht vorbereitet gewesen

-- nachdem er noch soeben einem Verworfenen die Relegation in Aussicht

gestellt hatte. Sollte er nun auch diesen Lohmann »fassen«? Nichts wäre

ihm erwünschter gekommen. Aber -- konnte er es ihm »beweisen«?.. In

diesem atemlosen Augenblick reckte der kleine Kieselack seine blauen

Finger mit den zerbissenen Nägeln in die Höhe, knallte mit ihnen und

keifte gequetscht:

»Lohmann läßt einen nicht ruhig nachdenken, er sagt immer, hier riecht

es nach Unrat.«

Es entstand Kichern, und einige scharrten. Da ward Unrat, der schon den

Wind des Aufruhrs im Gesicht spürte, von Panik ergriffen. Er fuhr vom

Stuhl auf, machte über das Pult hinweg eckige Stöße nach allen Seiten,

wie gegen zahllose Anstürmende, und rief:

»Ins Kabuff! Alle ins Kabuff!«

Es wollte nicht ruhig werden; Unrat glaubte sich nur noch durch einen

Gewaltstreich retten zu können. Er stürzte sich, ehe jener es vermuten

konnte, auf Lohmann, packte ihn am Arm, zerrte und schrie erstickt:

»Fort mit Ihnen, Sie sind nicht länger würdig, der menschlichen

Gesellschaft teilhaftig zu sein!«

Lohmann folgte, gelangweilt und peinlich berührt. Zum Schluß gab Unrat

ihm einen Ruck und versuchte ihn gegen die Tür des Garderobengelasses zu

schleudern; doch dies mißlang. Lohmann staubte sich ab an der Stelle, wo

Unrat ihn angefaßt hatte, und verfügte sich besonnenen Schrittes in das

»Kabuff«. Darauf sah der Lehrer sich nach Kieselack um. Der aber hatte

sich hinter seinem Rücken an ihm vorbeigewunden und drückte sich schon,

mit einer Fratze, in das Arrestlokal. Der Primus mußte den Professor

darüber aufklären, wo Kieselack sei. Unvermittelt verlangte nun Unrat,

die Klasse solle durch den Zwischenfall keinen Augenblick von der

Jungfrau abgelenkt worden sein.

»Warum schreiben Sie nicht? Fünfzehn Minuten noch! Und die unfertigen

Arbeiten werde ich -- immer mal wieder -- nicht zensieren!«

Infolge dieser Drohung fiel den meisten überhaupt nichts mehr ein, und

es entstanden angstvolle Mienen. Unrat war zu erregt, um eine rechte

Freude daran zu haben. In ihm war der Drang, jeden je möglichen

Widerstand zu brechen, alle bevorstehenden Attentate zu vereiteln, es

ringsumher noch stummer zu machen, Kirchhofsruhe herzustellen. Die drei

Rebellen waren beseitigt, aber ihre Hefte, aufgeschlagen auf den Bänken,

schienen ihm noch immer den Geist der Empörung auszuströmen. Er raffte

sie zusammen und begab sich mit ihnen auf das Katheder.

Von Ertzums und Kieselacks Arbeiten waren mühselige und ungelenke

Satzgefüge, die nur zu sehr von gutem Willen zeugten. Bei Lohmann war es

sogleich unbegreiflich, daß er keine »Disposition« gemacht hatte, keine

Einteilung seiner Abhandlung in A, B, C, a, b, c und 1, 2, 3. Auch hatte

er nur eine einzige Seite fertig gebracht, die Unrat mit schnell

wachsender Entrüstung zur Kenntnis nahm. Es stand dort:

»Die dritte Bitte des Dauphins (Jungfrau von Orleans I 10).

Die junge Johanna führt sich, geschickter als ihre Jahre und

ihre bäurische Vergangenheit es vermuten ließen, durch ein

Taschenspielerkunststück bei Hofe ein. Sie gibt dem Dauphin einen

Inhaltsauszug aus den drei Bitten, die er in der letzten Nacht an den

Himmel gerichtet hat, und macht durch ihre Fertigkeit im Gedankenlesen

natürlich starken Eindruck auf die unwissenden großen Herren. Ich sagte:

aus den drei Bitten; aber tatsächlich wiederholt sie nur zwei: die

dritte erläßt ihr der überzeugte Dauphin. Zu ihrem Glück: denn sie würde

die dritte schwerlich noch gewußt haben. Sie hat ihm bei den beiden

ersten ja schon alles gesagt, worum er seinen Gott gebeten haben =kann=,

nämlich: wenn eine noch ungebüßte Schuld seiner Väter vorhanden sei, ihn

selbst als Opfer anzunehmen statt seines Volkes; und wenn er schon Land

und Krone verlieren solle, ihm wenigstens Zufriedenheit, seinen Freund

und seine Geliebte zu lassen. Auf das Wichtigste, auf die Herrschaft,

hat er somit schon verzichtet. Was soll er also noch erbeten haben?

Suchen wir nicht lange: er weiß es selbst nicht. Johanna weiß es auch

nicht. Schiller weiß es auch nicht. Der Dichter hat von dem, was er

wußte, nichts zurückbehalten und dennoch »und so weiter« gesagt. Das ist

das ganze Geheimnis, und für den mit der wenig bedenklichen Natur des

Künstlers einigermaßen Vertrauten gibt es dabei nichts zu verwundern.«

Punktum. Das war alles -- und Unrat, den ein Zittern beschlich, kam jäh

zu der Erkenntnis: =diesen= Schüler zu beseitigen, vor =diesem=

Ansteckungsstoff die menschliche Gesellschaft zu behüten, das dränge

weit mehr als die Entfernung des einfältigen von Ertzum. Zugleich warf

er einen Blick auf das folgende Blatt, wo noch einiges gekritzelt stand,

und das übrigens halb herausgerissen im Heft hing. Aber plötzlich, in

dem Augenblick als er verstand, überflog etwas wie eine rosa Wolke die

gewinkelten Wangen des Lehrers. Er schloß das Heft, rasch und

verstohlen, als wolle er nichts gesehen haben; öffnete es nochmals, warf

es gleich wieder unter die beiden andern, atmete im Kampf. Er empfand

zwingend: da wurde es Zeit, der mußte »gefaßt« werden! Ein Mensch, mit

dem es dahin gekommen war, daß er diese -- gewiß denn freilich --

Künstlerin Rosa -- Rosa -- Er griff zum drittenmal nach Lohmanns Heft.

Da klingelte es schon.

»Abliefern!« stieß Unrat aus, in der heftigen Besorgnis, ein Schüler,

der bisher nicht fertig geworden war, könne vielleicht im letzten

Augenblick noch zu einer befriedigenden Note gelangen. Der Primus

sammelte die Aufsätze ein; einige belagerten die Tür nach der Garderobe.

»Weg dort! Warten!« rief Unrat, in neuer Angst. Am liebsten hätte er

abgeschlossen, die drei Elenden unter Verschluß behalten, solange, bis

er ihren Untergang gesichert haben würde. Das ging nicht so rasch, hier

mußte logisch nachgedacht werden. Der Fall Lohmann blendete ihn

vorläufig noch durch ein Übermaß von Verworfenheit.

Mehrere von den Kleinsten pflanzten sich in beleidigtem Rechtsgefühl vor

das Katheder hin.

»Unsere Sachen, Herr Professor!«

Unrat mußte das »Kabuff« freigeben. Aus dem Gedränge wickelten sich

nacheinander die drei Verbannten, schon in ihren Mänteln. Lohmann

stellte gleich von der Schwelle her fest, daß sein Heft in den Händen

Unrats sei, und bedauerte gelangweilt den Übereifer des alten Tölpels.

Jetzt mußte sich möglichenfalls sein Erzeuger in Bewegung setzen und mit

dem Direktor reden!

Von Ertzum zog nur die rotblonden Brauen ein Stück höher in seinem

Gesicht, das sein Freund Lohmann den »besoffenen Mond« nannte. Kieselack

seinerseits hatte sich im »Kabuff« auf eine Verteidigung vorbereitet.

»Herr Professor, es ist nicht wahr, ich hab' nicht gesagt, daß es nach

Unrat riecht. Ich hab' nur gesagt, =er= sagt immer --«

»Schweigen Sie!« herrschte Unrat, bebend, ihn an. Er schob den Hals vor

und zurück, hatte sich gefaßt und setzte gedämpft hinzu:

»Ihr Schicksal hängt jetzt nunmehr immerhin ganz dicht über Ihren

Köpfen. Gehen Sie!«

Darauf gingen die Drei zum Essen, jeder mit seinem Schicksal über sich.

Professor Unrat

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