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III
ОглавлениеUnrat hastete die stille Gasse wieder hinauf, denn er hatte einen
Gedanken gehabt, dessen Richtigkeit er sofort, aber sofort nachprüfen
wollte. Er wußte durch plötzliche Erleuchtung, Rosa Fröhlich sei die
Barfußtänzerin, von der man jetzt so viel Aufhebens machte. Sie sollte
herkommen und in dem Saal der Gesellschaft für Gemeinsinn ihre Künste
sehen lassen. Unrat entsann sich ganz deutlich, wie Oberlehrer Wittkopp,
ein Mitglied dieser Gesellschaft, davon erzählt hatte. Er war im
Lehrerzimmer an sein Wandschränkchen getreten, hatte es aufgeschlossen,
einen Packen Exerzitienhefte hineingelegt und dazu gesagt:
»Nun bekommen wir hier also auch die berühmte Rosa Fröhlich, die auf
bloßen Füßen griechisch tanzt.«
Unrat sah Wittkopp vor sich, wie er sich wichtig machte, eitel um seinen
Klemmer herumschielte und die Lippen spitzte, um auszusprechen: »Rosa
Fröhlich.« Ganz ohne Zweifel, er hatte gesagt: Rosa Fröhlich. Unrat
hörte ja jeden der vier Laute, in Wittkopps gekünstelter Sprechweise und
mit dem gesäuselten R. Das hätte ihm früher einfallen sollen! Zweifellos
war die Barfußtänzerin Fröhlich inzwischen eingetroffen, und der Schüler
Lohmann war mit ihr in Verbindung getreten. Unrat war nun auf dem Wege,
beide zu »fassen«.
Er erreichte die Siebenbergstraße, er hatte sie halb durcheilt, da ging
donnernd ein Rolladen nieder vor einem Schaufenster, und Unrat blieb,
einige Schritte davor, vernichtet stehn. Denn der Rolladen gehörte dem
Musikalienhändler Kellner, der bei solchen Gelegenheiten die Karten
verkaufte und alles Nähere wußte. Es schien, als sollte Unrat die Zwei,
denen er nachsetzte, heute nicht mehr einholen.
Trotzdem konnte er sich nicht denken, daß er jetzt nach Haus gelangen
und sein Nachtessen herunterbringen werde. Er war in Jagdleidenschaft
geraten. Er gab sich noch ein paar Minuten, machte einen letzten Umweg.
Am Rosmarinweg hielt er, ganz erschüttert, vor einem schiefgetretenen
Holztreppchen den Schritt an. Es klomm steil bis vor eine schmale
Ladentür mit der Inschrift: »Johannes Rindfleisch, Schuhmachermeister«.
Eine Warenauslage war nicht da; hinter den Spiegelscheiben der zwei
kleinen Fenster standen Blumentöpfe. Und Unrat bedauerte, von seinem
guten Geschick nicht schon längst hierher geführt zu sein, zu der
Behausung eines rechtschaffenen und harmlosen Mannes, eines Herrnhuters,
der kein Scheltwort in den Mund nahm, niemals kränkend die Miene verzog,
und der über die Künstlerin Fröhlich anstandslos Auskunft erteilen
würde!
Er öffnete die Tür. Eine Glocke schlug an, und der Ton schwang
freundlich nach. Die Werkstatt lag sauber aufgeräumt im Halbdunkel.
Eingefaßt in den Rahmen der Tür zum Nebenzimmer, zeigte sich das mild
beleuchtete Bild der Schustersfamilie beim Abendbrot. Der Geselle kaute
an der Seite der Haustochter. Den kleinen Kindern gab die Mutter
Kartoffeln zur Mettwurst. Der Vater setzte die bauchige Flasche mit
Braunbier neben die Lampe, erhob sich und sah nach dem Kunden.
»Nabend, Herr Professer.« Er schluckte erst umständlich seinen Bissen
hinunter. »Und womit kann ich dienen?«
»Ja,« versetzte Unrat, rieb sich unsicher lächelnd die Hände und
schluckte auch, mit leerer Kehle.
»Entschuldigen Sie man,« setzte der Schuhmacher hinzu, »daß hier schon
allens duster is. Hier machen wir um Klock sieben Feierabend. Der Rest
des Abendes gehört dem Herrn. Wer da noch arbeiten tut, da is doch kein
Segen auf.«
»Das mag ja denn einerseits -- ganz richtig sein,« stotterte Unrat.
Der Schuhmacher war einen Kopf höher. Er hatte knochige Schultern und
unter seinem Schurzfell einen unvermittelten Spitzbauch. Ergrauende
Löckchen, ein wenig ölig, machten den Bogen um sein langes, bleifarbenes
Gesicht, dessen Wangen in einen keilförmigen Bart hineinhingen, und das
langsam lächelte. Rindfleisch schob immerfort über dem Magen die Finger
ineinander, löste sie und steckte sie wieder zusammen.
»Aber das ist es andererseits freilich nicht, weshalb ich komme,«
erklärte Unrat.
»Herr Professer, Nabend Herr Professer,« sagte die Frau von der Schwelle
her und knixte. »Was stehst du da in 'n Schummern mit Herrn Professer,
Johannes, laß ihm doch rein. Herr Professer, wenn Sie es man nich übel
nehmen, daß wir uns' Mettwuß essen.«
»Das liegt mir ganz und gar fern, gute Frau.«
Unrat entschloß sich zu einem Opfer.
»Meister Rindfleisch, ich unterbreche ungern Ihr Mahl, aber ich ging
grade vorbei und da kam mir der Gedanke, daß Sie mir -- aufgemerkt nun
also! -- ein Paar Stiefel anmessen sollen.«
»Zu dienen, Herr Professer,« und die Frau knixte, »zu dienen.«
Rindfleisch bedachte sich; dann verlangte er die Lampe.
»Denn sitten wi jä all' in'n Dustern bi'n Eeten,« bemerkte die Frau
heiter. »Nöh, Herr Professer, kommen Sie man rein, ich mach Licht für
Ihnen in der blauen Stube.«
Sie ging voran in einen Raum, wo es kalt war, und zündete Unrat zu Ehren
die beiden unversehrten rosa Kerzen an, die sich über ihren krausen
Manschetten und flankiert von zwei großen Muscheln, im Trumeau
spiegelten. An den kraßblauen Wänden verweilten in sonntäglicher Haltung
Großvatermöbel aus Mahagoni. Auf der gehäkelten Decke des Sophatisches
breitete ein segnender Christus seine Biskuitarme aus.
Unrat wartete, bis Frau Rindfleisch hinaus war. Als er den Schuhmacher
hinter geschlossener Tür und recht in seiner Gewalt hatte, setzte er
ein.
»Vorwärts denn also, Meister, jetzt heißt es zeigen, daß Sie, der Sie
einige kleinere Arbeiten zur Zufriedenheit des Leh-- zu meiner
Zufriedenheit bewerkstelligten, auch ein recht braves Paar Stiefel
schaffen können.«
»O ja, Herr Professer, o o oh ja,« erwiderte Rindfleisch demütig und
beflissen wie ein Primus.
»Mag ich immerhin schon im Besitz zweier Paare sein, so kann bei der
jetzt vorwaltenden Nässe doch niemand sich genug tun an guter, warmer
Fußbekleidung.«
Rindfleisch kniete und maß. Er hatte den Bleistift zwischen den Zähnen
und grunzte nur.
»Andererseits ist dies die Jahreszeit, die gewöhnlich etwas Neues in die
Stadt bringt, ein wenig -- sicherlich doch -- geistige Erholung. Die ist
es denn wohl auch, die dem Menschen nottut.«
Rindfleisch sah auf.
»Sagen Sie das man noch mal, Herr Professer. Ja ja jah, die tuhet dem
Menschen not. Und das weiß unsere Brüdergemeihende auch.«
»So so,« machte Unrat. »Aber ich denke an den Besuch ausgezeichneter,
unter den Menschen hervorragender Persönlichkeiten.«
»Da denk' ich auch an, Herr Professer, und da denkt auch die Gemeihende
an und versammelet uns Brüder am morgigen Abende zum Gebet mit einem
berühmten Missionar. Ja o jah.«
Unrat fand es schwierig, zur Künstlerin Fröhlich zu gelangen. Er suchte
eine Weile, und als er keinen Umweg mehr fand, ging er gradaus.
»Auch in der Gesellschaft für Gemeinsinn zeigt sich uns nächstens --
immer mal wieder -- eine Berühmtheit. Eine Künstlerin -- Sie werden ja,
so gut wie jedermann, von ihr gehört haben, Meister.«
Rindfleisch schwieg, und Unrat wartete mit Leidenschaft. Er war
überzeugt, was er brauchte, steckte in dem Menschen zu seinen Füßen, und
es liege nur an ihm, es herauszuziehen. Die Künstlerin Fröhlich hatte in
der Zeitung gestanden, war im Lehrerzimmer besprochen worden, hing im
Fenster bei Kellner. Die ganze Stadt wußte Bescheid über sie, außer
Unrat. Jeder andere hatte mehr Weltläufigkeit und Personenkenntnis als
Unrat: er lebte, ohne daß er's selber wußte, tief in dieser Vorstellung;
und er wandte sich mit vollem Vertrauen an einen Herrnhutischen Schuster
um Auskunft über eine Tänzerin.
»Sie tanzt, Meister. In der Gesellschaft für Gemeinsinn tanzt sie. Ei,
da werden nun die Leute hinlaufen.«
Rindfleisch nickte.
»Die Leute machen es sich woll nich klar, Herr Professer, wo sie
hinlaufen,« sagte er gedämpft und bedeutungsvoll.
»Sie tanzt ja barfuß, das ist doch eine seltsame Fertigkeit, Meister.«
Unrat wußte nicht, wie er den Mann noch anfeuern solle.
»Denken Sie nur: barfuß!«
»Barfuß,« wiederholte der Schuster. »O o oh! Also tanzeten auch die
Weiber der Amalekiter, die vor dem Götzen tanzeten.«
Und er stieß ein leeres Gelächter aus, nur aus Demut, weil er, der
ungelehrte Mann, sich mit Worten der Schrift zu schmücken wagte.
Unrat rückte gepeinigt hin und her, wie bei der Übersetzung eines
Schülers, der stockte und gleich festzusitzen drohte. Er hieb mit den
Knöcheln auf die Stuhllehne und sprang auf.
»So lassen Sie's nun gut sein mit dem Maßnehmen, Meister, und sagen Sie
mir -- vorwärts denn also! -- ob die Barfußtänzerin Fröhlich schon
eingetroffen ist! Das sollten Sie wohl wissen!«
»Ich, Herr Professer?« Und Rindfleisch stand bestürzt, »ich -- eine
Tänzerin?«
»Dadurch werden Sie auch nicht schlechter,« behauptete Unrat ungeduldig.
»O o oh, ferne von mir sei der geistige Hochmut und die
Selbstgerechtigkeit. Und Liebe im Herrn, Herr Professer, will ich denn
auch haben für meine barfüßige Schwester, o jah, und will bitten, daß
der Herr an ihr tuhe, was er an der Sünderin Magdalena getan hat.«
»Sünderin?« fragte Unrat überlegen. »Warum halten Sie denn die
Künstlerin Fröhlich für eine Sünderin?«
Der Schuhmacher blickte keusch auf den geölten Fußboden.
»Ei ja,« versetzte Unrat, immer unzufriedener mit dem Meister, »wenn
Ihre Frau oder Ihre Tochter einen Lebenswandel beginnen wollten wie eine
Künstlerin, das stände ihnen -- freilich denn wohl -- nicht an. Hingegen
gibt es Lebenskreise und Sittengesetze: -- doch mag's denn genug sein.«
Und er machte eine Handbewegung, die sagte, daß hier ein Gegenstand in
Tertia berührt ward, der höchstens nach Prima gehörte.
»Auch mein Weib ist eine Sünderin,« sagte der Schuster leise, schob die
Finger über dem Magen durcheinander und sah auf, mit einem
Bekennerblick.
»Und ich selbsten muß sprechen: Herr Herre. Denn Fleischessünder sind
wir allzumal.«
Nun erstaunte Unrat.
»Sie und Ihre Frau? Sie sind doch rechtmäßig verheiratet?«
»O o oh jah, das sind wir woll. Aber Fleischessünde, Herr Professer,
bleibt es immerdar, und Gott erlaubt es auch nuhr --«
Der Herrnhuter richtete sich auf zu etwas Wichtigem. Seine Augen wurden
rund und ganz bleich von Geheimnis.
»Nun?« fragte Unrat nachsichtig.
Und jener, flüsternd:
»Das wissen die andern Menschen man nich, daß Gott es nuhr darum
erlaubt, auf daß er in seinen Himmel oben mehr Engel kriegt.«
»So so,« machte Unrat, »das ist ja denn freilich recht hübsch.«
Und er lugte mit einem hinterhältigen Lächeln zu dem verklärten Gesicht
des Schuhmachers hinauf.
Aber er unterdrückte bald seinen Spott und wandte sich zum Gehen. Er
fing an zu glauben, Rindfleisch wisse wirklich nichts über die
Künstlerin Fröhlich. Der Schuhmacher besann sich auf diese Welt und
fragte, wie hoch denn die Schäfte sein sollten. Unrat antwortete
nachlässig, behandelte auch den Abschied von der Familie Rindfleisch nur
mit flüchtiger Leutseligkeit. Dann trat er rasch den Heimweg an.
Er verachtete Rindfleisch. Er verachtete die blaue Stube, die Enge
dieser Geister, die demütigen Seelen, die pietistischen Überspanntheiten
und die sittliche Verstocktheit. Auch bei Unrat zu Hause sah es eher
dürftig aus; dafür aber hatte er in seinem Kopf die Möglichkeit, sich
mit mehreren alten Geistesfürsten, wenn sie zurückgekehrt wären, in
ihrer Sprache über die Grammatik in ihren Werken zu unterhalten. Er war
arm, unerkannt; man wußte nicht, welche wichtige Arbeit er seit zwanzig
Jahren förderte. Er ging unansehnlich, sogar verlacht unter diesem Volk
umher; -- aber er gehörte, seinem Bewußtsein nach, zu den Herrschenden.
Kein Bankier und kein Monarch war an der Macht stärker beteiligt, an der
Erhaltung des Bestehenden mehr interessiert als Unrat. Er ereiferte sich
für alle Autoritäten, wütete in der Heimlichkeit seines Studierzimmers
gegen die Arbeiter -- die, wenn sie ihre Ziele erreicht hätten,
wahrscheinlich bewirkt haben würden, daß auch Unrat etwas reichlicher
entlohnt wäre. Junge Hilfslehrer, noch schüchterner als er, bei denen er
sich mit der Sprache herauswagte, warnte er düster vor der unseligen
Sucht des modernen Geistes, an den Grundlagen zu rütteln. Er wollte sie
stark: eine einflußreiche Kirche, einen handfesten Säbel, strikten
Gehorsam und starre Sitten. Dabei war er durchaus ungläubig und vor sich
selbst des weitesten Freisinns fähig. Aber als Tyrann wußte er, wie man
sich Sklaven erhält; wie der Pöbel, der Feind, die fünfzigtausend
aufsässigen Schüler, die ihn bedrängten, zu bändigen waren. Lohmann
schien in Beziehungen zu stehn zur Künstlerin Fröhlich; Unrat errötete
darüber, weil er nicht anders konnte. Aber zum Verbrecher ward der
Schüler Lohmann erst dadurch, daß er sich bei verbotenen Freuden der
harten Zucht des Lehrers entzog. Nicht sittliche Einfalt zwang Unrat zum
Zorn ...
* * * * *
Er gelangte in seine Wohnung und schlich auf den Zehen an der Küche
vorbei, wo die Wirtschafterin, über seine Verspätung ungehalten, mit den
Töpfen rasselte. Dann bekam er zu essen, Mettwurst und Kartoffeln. Sie
waren zerkocht und dennoch kalt. Unrat hütete sich, ein Wort dagegen zu
sagen; dieses Mädchen hätte sofort die Hände auf die Hüften gestemmt.
Unrat wollte sie davor bewahren, sich gegen ihren Herrn aufzulehnen.
Nach der Mahlzeit stellte er sich vor sein Schreibpult. Es war, Unrats
kurzsichtigen Augen zuliebe, übermäßig hoch; und die dreißigjährige
Anstrengung, den rechten Arm daraufzulegen, hatte ihm die Schulter weit
aus der graden Linie gehoben. »Das Wahre ist nur die Freundschaft und
die Literatur,« sagte er dabei wie gewöhnlich. Dies Wort hatte er
irgendwo aufgefangen und sich angewöhnt, und sah sich nun genötigt, es
vor sich hin zu denken, so oft er an die Arbeit ging. Was er unter
Freundschaft zu verstehn habe, erfuhr er nie. Das Wort ging nur zufällig
mit. Aber die Literatur! Das war ja sein wichtiges Werk, wovon die
Menschen nichts wußten, das hier in der Stille seit langer Zeit gedieh
und das vielleicht einmal, Staunen erregend, aus Unrats Gruft
hervorblühen sollte. Es handelte von den Partikeln bei Homer!... Aber
Lohmanns Aufsatzheft lag daneben und ließ ihn nicht in Stimmung kommen.
Er mußte danach greifen und an die Künstlerin Fröhlich denken. Es gab
etwas, das ihn sehr beunruhigte: er war nicht mehr sicher, daß die
berühmte Barfußtänzerin sich Rosa Fröhlich nenne. Diese Fröhlich konnte
ganz etwas anderes sein. Ja, sie =war= ganz etwas anderes: es ward Unrat
durch Grübeln zur Gewißheit. Er hatte sie immer noch ausfindig zu
machen, um sie dem Schüler Lohmann »beweisen« zu können. Er sah sich, im
Kampfe mit diesem Elenden, wieder weit zurückgeworfen und keuchte vor
einsamer Erregung.
Plötzlich stürzte er sich in seinen Mantel und stürmte hinaus. Vor dem
Haustor lag schon die Kette; Unrat zerrte daran, wie ein Ausbrecher. Die
Wirtschafterin schalt, er hörte sie herbeistampfen. In der Angst der
äußersten Minute tat er einen richtigen Griff, die Tür ging auf, er war
im Vorgärtchen und auf der Straße. Bis zum Stadttor wechselte er
zwischen Trab und Eilschritt; dann mäßigte er sich, aber sein Herz
klopfte. Er fühlte sich seltsam, wie auf verbotenen Wegen. Er ging den
verödeten Straßenzug, über Berg und Tal, immer gradaus. Er lugte in die
Gäßchen und »Gruben«, verweilte vor den Gasthäusern und sah mit
gespanntem Mißtrauen zu Fenstern hinauf, zwischen deren geschlossenen
Vorhängen ein Lichtstrahl zu liegen schien. Er wanderte auf der dunkeln
Seite; drüben verbreitete sich heller Mond. Es war sternenklar, es wehte
nicht mehr, und Unrats Schritte hallten. Beim Rathaus lenkte er auf den
Markt und machte die Runde unter den Lauben. Bogen, Türme, Brunnen
stachen ihre von Arabesken umrankten Schattenrisse in die gotische
Mondnacht. Eine rätselhafte Aufregung geschah in Unrat; er sagte zu
verschiedenen Malen:
»Da würde denn wohl ... traun ...« und »Vorwärts denn also!«
Dabei prüfte er eifrig jedes einzelne Fenster der Post und des
Polizeiamtes. Da er es unwahrscheinlich fand, daß sich die Künstlerin
Fröhlich in diesen Gebäuden versteckt halte, kehrte er auf die vorhin
verlassene Straße zurück. Wenige Schritte weiter glänzte die breite
Scheibe eines Lokals, in dem sich viele von Unrats Kollegen allabendlich
um das Bier scharten. Auf der Gardine erschien schwarz abgezeichnet der
spitzbärtige, mit dem Munde klappende Kopf eines Oberlehrers, eines ganz
schlimmen, der Unrat den Respekt versagte, weil er zur Lockerung der
Disziplin in der Schule Anlaß gebe, und der sich über Unrats Sohn
sittlich entrüstet hatte. Unrat sah sich diesen Doktor Hübbenett
nachdenklich an: wie er redete aus seinem Bart heraus, was er für einen
Biereifer hatte, welch gewöhnlicher Michel er war! Unrat hatte mit den
Leuten da drinnen nichts zu tun, gar nichts; es ward ihm jetzt klar, zu
seiner Genugtuung. Da hockten nun =Die= beisammen und waren in der
Ordnung: er aber dünkte sich fragwürdig, gewissermaßen, und ausgestoßen,
sozusagen. Und der Gedanke an Die dort war ihm kein böser Stachel mehr.
Er nickte dem Schatten des Oberlehrers zu, langsam und mit
Geringschätzung -- und ging weiter.
Die Stadt war gleich wieder zu Ende. Er kehrte um, wandte sich in die
Kaiserstraße. Bei Konsul Breetpoot mußte Ball sein; das große Haus war
ganz erleuchtet, fortwährend fuhren Wagen auf. Der Diener und mehrere
Aufwärter sprangen vor, öffneten die Schläge, halfen beim Aussteigen.
Seidene Röcke raschelten über die Schwelle. Eine Dame hielt an, sie
streckte gütig lächelnd die Hand einem jungen Mann entgegen, der zu Fuß
herbeikam. Unrat erkannte in dem hübschen Menschen mit dem Zylinder den
jungen Oberlehrer Richter. Er hatte sagen gehört, Richter sei auf eine
reiche Heirat aus, in einer eleganten Familie, zu der sonst Oberlehrer
nicht den Blick erhoben. Und Unrat, drüben im Dunkeln, feixte vor sich
hin.
»Ei, recht strebsam -- wahrlich doch,« sagte er.
Er machte sich in seinem bespritzten Kragenmantel lustig über den
wohlaufgenommenen, aussichtsreichen Menschen, wie ein höhnischer
Strolch, der unerkannt und drohend aus dem Schatten heraus der schönen
Welt zusieht und das Ende von alledem in seinem Geist hat, wie eine
Bombe. Er fühlte sich Richter weit überlegen, ihm war ganz munter; er
schäkerte still und sagte, ohne sich selbst zu verstehn:
»Ihnen kann ich auf Ihrem Wege noch recht hinderlich werden. Ich werde
Sie -- immer mal wieder -- hineinlegen, merken Sie sich das!«
Und im Weitergehn unterhielt er sich ausgezeichnet. Wenn er wieder auf
ein Türschild mit dem Namen eines Kollegen oder eines alten Schülers
stieß, dachte er: »Sie fass' ich auch noch mal,« und rieb sich die
Hände. Zugleich lächelte er in verstohlenem Einverständnis den achtbaren
Giebelhäusern zu, weil er versichert war, in einem von ihnen stecke die
Künstlerin Fröhlich. Sie hatte ihn merkwürdig angeregt, aufgekratzt, aus
dem Häuschen gebracht. Zwischen ihr und Unrat, der auf nächtlicher
Streife hinter ihr herschlich, war eine Art Verbindung hergestellt. Der
Schüler Lohmann war das zweite Stück Wild: sozusagen Indianer von einem
andern Stamm. Wenn Unrat mit seiner Klasse auf das Schulfest zog, mußte
er manchmal Räuber und Soldaten mitspielen. Er stand auf einem Hügel,
reckte die Faust gen Himmel und kommandierte: »Fest drauf, jetzt
nunmehr!« und regte sich richtig auf bei dem folgenden Scharmützel. Denn
das war Ernst. Schule und Spiel waren das Leben ... Und heute nacht
spielte Unrat Indianer auf dem Kriegspfad.
Er kam in immer lüsternere Spannung. Die unbestimmten Formen im Schatten
erregten ihm Furcht und Kitzel; jede Straßenecke lockte schauerlich. In
enge Nebengassen ließ er sich ein wie in Abenteuer, hielt bei einem
Wispern aus einem Fenster unter Herzklopfen den Schritt an. Hier und da
ging eine Tür bei seinem Nahen leise auf, einmal streckte sich ein rosa
bekleideter Arm nach Unrat aus. Er entfloh, ganz überrieselt, und sah
sich unvermittelt am Hafen -- zum zweitenmal heut, und er betrat diese
Gegend sonst in Jahren nicht. Schiffe türmten sich schwarz, unter
Rinnsalen von Mondlicht. Unrat kam auf den Gedanken, die Künstlerin
Fröhlich sei darauf, sie schlafe in einer Kajüte; vor Morgengrauen werde
das Nebelhorn brüllen und die Künstlerin Fröhlich davonfahren in ferne
Länder. Bei dieser Vorstellung ward Unrats Drang zu handeln, zuzufassen,
ganz ungestüm. Zwei Arbeiter stapften herbei, der eine von rechts, der
andere von links. Dicht bei Unrat trafen sie sich, und der eine sagte:
»Na, wo geit hen, Klaas?«
Der zweite antwortete düster und im Baß:
»Duhn supen.«
Unrat mußte sinnen über das Wort: wo er es heute schon gehört habe, und
was es besage. Denn er hatte in sechsundzwanzig Jahren die Mundart nicht
verstehen gelernt. Er folgte den beiden Proletariern und ihrem zu
erschließenden Sprachschatz durch mehrere kotige »Twieten«. In einer
etwas breiteren steuerten sie im Bogen auf ein weitläufiges Haus zu, mit
ungeheurem Scheunentor, worüber vor dem Bilde eines blauen Engels eine
Laterne schaukelte. Unrat vernahm Musik. Die Arbeiter verschwanden im
Flur, der eine sang mit. Unrat bemerkte im Eingang einen bunten Zettel
und las ihn. Er zeigte eine »Abendunterhaltung« an. Als Unrat in der
Mitte war, stieß er auf etwas, das ihm Keuchen und einen Schweißausbruch
verursachte, und fing, in der Furcht und der Hoffnung, sich geirrt zu
haben, von vorn an. Auf einmal riß er sich los und stürzte sich in das
Haus, wie in einen Abgrund.