Читать книгу Professor Unrat - Heinrich Mann - Страница 4

II

Оглавление

Auch Unrat aß, und dann legte er sich auf das Sofa. Aber wie es alle

Tage ging, warf im rechten Moment, als er einnicken wollte, nebenan

seine Haushälterin ein Geschirr hin. Unrat fuhr auf und griff sofort

wieder nach Lohmanns Aufsatzheft, während er sich rosa färbte, als läse

er das die Scham Verletzende, das darin stand, zum erstenmal. Dabei ließ

es sich schon gar nicht mehr schließen, so sehr auseinandergebogen war

es an der Stelle, wo die »Huldigung an die hehre Künstlerin Fräulein

Rosa Fröhlich« sich befand. Der Überschrift folgten einige unleserlich

gemachte Zeilen, dann ein freier Raum und dann:

»Du bist verderbt bis in die Knochen,

Doch bist du 'ne große Künstlerin;

Und kommst du erst mal in die Wochen --«

Den Reim hatte der Sekundaner noch zu finden. Aber der Konditionale im

dritten Vers sagte viel. Er ließ vermuten, Lohmann sei an ihm persönlich

beteiligt. Dies ausdrücklich zu bestätigen, war vielleicht die Aufgabe

des vierten Verses gewesen. Unrat machte zur Erratung dieses fehlenden

vierten Verses grade solche verzweifelten Anstrengungen, wie seine

Klasse gemacht hatte zur Auffindung der dritten Bitte des Dauphins. Der

Schüler Lohmann schien sich, durch diesen vierten Vers, über Unrat

lustig zu machen, und Unrat rang mit dem Schüler Lohmann, in wachsender

Leidenschaft, voll des dringenden Bedürfnisses, ihm zu zeigen, er selbst

sei zuletzt doch der Stärkere. Er wollte ihn schon hineinlegen!

Die noch unförmlichen Entwürfe künftiger Handlungen bewegten sich in

Unrat. Sie ließen ihn nicht mehr stillhalten, er mußte seinen alten

Radmantel umhängen und ausgehn. Es regnete dünn und kalt. Er schlich,

die Hände auf dem Rücken, die Stirn gesenkt, und ein giftiges Lächeln in

den Mundfalten, um die Lachen der Vorstadtstraße herum. Ein Kohlenwagen

und ein paar kleine Kinder, sonst begegnete ihm nichts. Beim Krämer an

der Ecke hing hinter der Tür eine Ankündigung des Stadttheaters: Wilhelm

Tell. Unrat, von einer Idee getroffen, schoß mit eingeknickten Knien

darauf zu ... Nein, eine Rosa Fröhlich kam auf dem Zettel nicht vor.

Trotzdem konnte jene Frauensperson in diesem Kunstinstitut beschäftigt

sein. Herr Dröge, der Krämer, der das Programm an sein Fenster hing, war

vermutlich in den einschlägigen Dingen bewandert. Unrat hatte schon die

Hand auf dem Türgriff; aber er holte sie erschrocken zurück und machte

sich davon. Nach einer Schauspielerin fragen, in seiner eigenen Straße!

Er durfte die Klatschsucht solcher tiefstehenden, in den humanistischen

Wissenschaften unerfahrenen Bürger nicht außer Acht lassen. Bei der

Entlarvung des Schülers Lohmann mußte Unrat geheim und geschickt zu

Werke gehn ... Er bog in die Allee nach der Stadt.

Gelang es ihm, dann zog Lohmann im Sturz auch von Ertzum und Kieselack

nach sich. Vorher wollte Unrat dem Direktor keine Anzeige erstatten

darüber, daß man ihn bei seinem Namen genannt hatte. Es würde sich von

selbst zeigen, daß Solche, die das taten, auch jeder andern

Unsittlichkeit fähig waren. Unrat wußte es; er hatte es an seinem

eigenen Sohn erfahren. Diesen hatte Unrat von einer Witwe, die ihn einst

als Jüngling mit den Mitteln zu fernerem Studium versehen hatte, die er

dafür vertragsmäßig, sobald er im Amt war, geheiratet hatte, die knochig

und streng gewesen war, und nun tot war. Sein Sohn sah nicht schöner aus

als er selbst, und war überdies noch einäugig. Trotzdem hatte er sich

als Student bei Besuchen in der Stadt, auf offenem Markt mit

zweideutigen Frauenzimmern blicken lassen. Und wenn er einerseits in

schlechter Gesellschaft viel Geld vertat, so war er andererseits nicht

weniger als viermal durch das Examen gefallen, so daß er zwar immer noch

ein brauchbarer Beamter hatte werden können: doch nur auf Grund seines

Abiturientenzeugnisses. Ein peinlicher Abstand schied ihn von dem

höheren Menschen, der das Staatsexamen bestanden hatte. Unrat, der sich

entschlossen von dem Sohn getrennt hatte, begriff alles Geschehene; ja,

er hatte es fast vorausgesehen, seit er einst den Sohn belauscht hatte,

wie er im Gespräch mit Kameraden den eigenen Vater bei seinem Namen

genannt hatte!

Ein ähnliches Geschick durfte er also für Kieselack, von Ertzum und

Lohmann erhoffen, besonders aber für Lohmann, bei dem es ja, dank der

Künstlerin Rosa Fröhlich, im Anzuge schien. Mit der Rache an Lohmann

eilte es Unrat. Die beiden andern verschwanden fast neben diesem

Menschen und seinen unbeteiligten Manieren und dem neugierigen Bedauern,

womit er zusah, wenn der Lehrer zornig war. Was war denn überhaupt das

für ein Schüler?.. Unrat sann mit grabendem Haß über Lohmann nach. Unter

dem spitzbedachten Stadttor blieb er plötzlich stehn und sagte laut:

»Das sind die Allerschlimmsten!«

Ein Schüler war ein mausgraues, unterworfenes und heimtückisches Wesen,

ohne anderes Leben als das der Klasse und immer im unterirdischen Krieg

gegen den Tyrannen: so war Kieselack; oder ein dummer, starker Kerl, den

der Tyrann durch seine geistige Vorherrschaft in fortwährender

Verstörtheit erhielt -- wie von Ertzum. Lohmann aber, der schien ja den

Tyrannen =anzuzweifeln=! Unrat kochte allmählich von der Demütigung der

schlecht bezahlten Autorität, vor der ein Untergebener sich in guten

Kleidern spreizt und mit Geld klimpert. Das waren überhaupt, ward ihm

auf einmal klar, alles Unverschämtheiten und nichts weiter! Daß Lohmann

niemals staubig aussah, immer saubere Manschetten trug und solche

Gesichter machte: Unverschämtheiten. Der Aufsatz von heute, die

Kenntnisse, die dieser Schüler sich außerhalb der Schule holte und von

denen die verwerflichste die Künstlerin Rosa Fröhlich war:

Unverschämtheiten. Und als Unverschämtheit stellte sich nun mit

Sicherheit heraus, daß Lohmann Unrat =nicht= bei seinem Namen nannte!

Darauf erstieg Unrat den Rest der steilen Straße zwischen den

Giebelhäusern, gelangte an eine Kirche, wo Sturm herrschte, und den

Mantel um sich her zusammengerafft, wieder ein Stück hinab. Nun kam ein

Seitenweg, und vor einem der ersten Gebäude zögerte Unrat. Rechts und

links neben der Tür hingen zwei hölzerne Kästen, hinter deren

Drahtgittern das Programm stak mit Wilhelm Tell. Unrat las es erst in

dem einen Kasten, dann in dem andern. Schließlich betrat er, ängstlich

umherspähend, den Torweg und den offenen Flur. Hinter einem kleinen

Fenster schien bei einer Lampe ein Mann zu sitzen; Unrat konnte in

seiner Aufregung schlecht erkennen. An diesem Ort war er seit gewiß

zwanzig Jahren nicht mehr gewesen; und er litt unter der Besorgnis des

Herrschers, der sein Gebiet verlassen hat: man möchte ihn verkennen, ihm

aus Unwissenheit zu nahe treten, ihn nötigen, sich als Mensch zu fühlen.

Er stand schon eine Weile vor dem Fensterchen und räusperte sich leise.

Als nichts erfolgte, pochte er an, mit der Spitze seines gekrümmten

Zeigefingers. Der Kopf dahinter schrak in die Höhe und streckte sich

sogleich aus dem zurückgeschobenen Schalter.

»Sie wünschen?« fragte er heiser.

Unrat bewegte zuerst nur die Lippen. Sie sahen einander an, er und der

abgedankte Schauspieler mit den tiefen, blauschwarzen Zügen, der flachen

Nasenspitze und dem Klemmer darauf. Unrat brachte hervor:

»So? Sie geben denn also den Wilhelm Tell. Das ist recht von Ihnen.«

Der Kassierer sagte:

»Wenn Sie meinen, wir tun's zu unserm Privatvergnügen.«

»Das habe ich Ihnen nicht unterstellen wollen«, versicherte Unrat, voll

Angst vor Verwickelungen.

»Man verkauft ja nischt. Bloß, daß die klassischen Vorstellungen in dem

Pachtvertrag drinstehn, den wir mit der Stadt haben.«

Unrat fand es geboten, sich bekannt zu geben.

»Ich bin nämlich der Professor Un-- der Professor Raat, Ordinarius der

Untersekunda am hiesigen Gymnasium.«

»Sehr angenehm. Mein Name ist Blumenberg.«

»Und ich würde recht gern mit meiner Klasse die Aufführung eines

klassischen Dichterwerkes besuchen.«

»Ach, das ist aber ganz reizend von Ihnen, Herr Professor. Mit der

Nachricht werd' ich bei unserm Direktor den größten Erfolg haben, da

zweifle ich keinen Augenblick.«

»Aber«, und Unrat erhob den Finger, »es müßte -- wahrlich doch --

dasjenige von den Dramen unseres Schiller sein, das wir in der Klasse

lesen, nämlich -- immer mal wieder -- die Jungfrau von Orleans.«

Der Schauspieler ließ die Lippen fallen, senkte den Kopf und sah von

unten, mit Trauer und Vorwurf, zu Unrat auf.

»Das tut mir aber fabelhaft leid. Weil wir die erst wieder einstudieren

müßten, wissen Sie. Ist Ihnen wirklich mit 'm Tell nicht gedient? Der

ist doch auch ganz hübsch für die Jugend.«

»Nein,« entschied Unrat, »das geht auf keinen Fall. Wir brauchen die

Jungfrau. Und zwar käme es -- aufgemerkt nun also! --«

Unrat schöpfte Atem, sein Herz klopfte.

»-- ganz besonders auf die Darstellerin der Johanna an. Denn diese soll

eine hehre Künstlerin sein, die den Schülern die erhabene Gestalt der

Jungfrau -- immer mal wieder -- recht nahe bringt.«

»Allerdings, allerdings«, sagte der Schauspieler, mit tiefem

Einverständnis.

»Da habe ich denn nun an eine Ihrer Damen gedacht, die ich, und

hoffentlich nicht mit Unrecht, auf das höchste habe preisen hören.«

»Ach nee.«

»Nämlich an das Fräulein Rosa Fröhlich.«

»Wie, bitte?«

»Rosa Fröhlich«, und Unrat hielt die Luft an.

»Fröhlich? Haben wir ja gar nicht.«

»Wissen Sie das auch ganz genau?« fragte Unrat, kopflos.

»Erlauben Sie, ich bin ja nicht meschugge.«

Unrat wagte den Mann nicht mehr anzusehn.

»Dann kann ich mir das aber gar nicht --«

Jener kam ihm zu Hilfe:

»Da muß wohl sicher 'ne Verwechslung vorliegen.«

»Ach ja«, sagte Unrat, kindlich dankbar.

»Entschuldigen Sie nur.«

Und er dienerte, während er sich zurückzog.

Der Kassierer war verblüfft. Schließlich rief er hinterher:

»Aber Herr Professohr, über den Fall läßt sich ja trotzdem reden.

Wieviel Billette würden Sie denn nehmen? Herr Pro --«

Unrat drehte sich unter der Tür noch einmal um, sein Lächeln war

verzerrt vor Angst vor dem Verfolger.

»Entschuldigen Sie doch nur.«

Und er war geflüchtet.

* * * * *

Ohne es zu merken, kam er die Straße hinunter und an den Hafen. Um ihn

her waren stampfende Tritte von Männern, die Säcke trugen, und breite

Rufe von andern, die sie zu Giebelluken hinaufwanden. Es roch nach

Fischen, Teer, Öl, Spiritus. Die Masten und Schlote dahinten im Fluß

verwickelten sich schon in Dämmerung. Inmitten der Betriebsamkeit, die

vor Dunkelwerden noch aufflackerte, ging Unrat dahin mit seinem

bohrenden Gedanken: Lohmann »fassen«, den Aufenthalt der Künstlerin

Fröhlich nachweisen.

Er ward angestoßen von Herren in englischen Anzügen, die mit

Frachtbriefen umherliefen, und von Arbeitern, die ihm »Achtung!«

zubrüllten. Die allgemeine Hast ergriff ihn; er drückte, ehe er's sich

versah, den Griff einer Tür, über der »Heuerbas« und irgendeine

schwedische oder dänische Inschrift stand. Im Laden lagen gerollte Taue,

Schiffszwieback, kleine, scharf riechende Fässer. Ein Papagei schrie:

»Duhn supen!« Mehrere Matrosen tranken, andere redeten, die Hände in den

Hosen, auf einen riesigen, rotbärtigen Mann ein. Der machte sich, es

dauerte eine Weile, aus den Tabakswolken des Hintergrundes los, stellte

sich hinter den Ladentisch, so daß der blecherne Reflektor der

Wandlaterne seinen Kahlkopf heftig beleuchtete, stemmte die Tatzen auf

die Kante und sagte plump:

»Wollen Sie was von mich, Herr?«

»Geben Sie mir,« verlangte Unrat leichthin, »eine Eintrittskarte für das

Sommertheater.«

»=Wat= sagen Sie?« fragte der Mann.

»Nun ja, für das Sommertheater. Da Sie denn nun einmal in Ihrem

Schaufenster anzeigen, daß Sie Billette zum Sommertheater verkaufen.«

»Wat soll ich doorvon denken, Herr,« und der Mann behielt den Mund

offen. »Das Sommertheater speelt doch nich in 'n Winter.«

Unrat versteifte sich auf sein Recht.

»Aber Sie haben es im Fenster, Mann.«

»Door kann 't jä ook bliewen!«

Das war herausgeplatzt; aber der Heuerbas nahm seine Achtung vor dem

bebrillten Herrn gleich wieder zusammen. Er suchte nach Gründen, die den

Fremden überzeugen konnten, das Sommertheater sei jetzt geschlossen. Um

seiner behutsamen Gedankenarbeit körperlich nachzuhelfen, gab er mit

seiner fürchterlichen, rotbehaarten Hand der Tischplatte von der Seite

ganz vorsichtige Streiche. Schließlich hatte er gefunden:

»Das weiß jä woll de dümmste Schooljong,« sagte er gutmütig, »daß in 'n

Winter kein Sommertheater is.«

»Erlauben Sie, Verehrter,« machte Unrat, überlegen abwehrend.

Der Mann rief zu Hilfe:

»Hinnerich! Laurenz!«

Die Matrosen kamen näher.

»Ick weit nich, wat mit em los is, hei will mit alle Macht in 'n

Willemsgorten.«

Die Matrosen rollten Kautabak in den Mündern. Sie und der Heuerbas

starrten angestrengt auf Unrat, als sei er ein sehr weit Hergekommener,

etwas wie ein Chinese, den man nun verstehen sollte. Unrat empfand dies;

es befiel ihn Hast, hier fertig zu werden.

»Dann könnten Sie mir wenigstens sagen, Mann, ob vorigen Sommer in dem

bewußten Theater ein gewisses Fräulein Fröhlich mitgespielt hat -- Rosa

Fröhlich.«

»Wo soll ich das woll herwissen, Herr?« Der Mann war vollkommen

verblüfft. »Meinen Sie, Herr, ick gew mich mit die Zirkusminscher aff?«

»Oder doch,« sagte Unrat Hals über Kopf, »ob die erwähnte Dame im

kommenden Jahr uns -- immer mal wieder -- durch ihre Leistungen erfreuen

wird.«

Der Heuerbas sah erschreckt aus; er verstand kein Wort mehr. Einer der

Matrosen hatte etwas gefunden:

»Hei makt sick 'n Jux, Pieter, hei will di uzen!«

Darauf legte er den Kopf in den Nacken und lachte, glucksend und

dröhnend, aus schwarz geöffnetem Rachen. Die andern stießen sich an und

machten es dann ebenso. Dem Heuerbas schien es zwar keineswegs, als ob

dieser Fremde sich lustig machte; aber er sah den Respekt in Gefahr, den

seine Kunden vor ihm haben mußten: diese Leute, die er verdang, die er

den Kapitänen aufs Schiff lud, zusammen mit Zwieback und Ginever. Er

verfiel unvermittelt in eine künstliche Wut, färbte sich wild, schlug

auf den Tisch und streckte einen gebieterischen Finger aus.

»Herr! Ich hab' mehr zu tun, ich bün Ihr Aap nich! Sehn Sie sich mal die

Tür an, da achter Ihnen is sie!«

Und als Unrat noch einen Augenblick betäubt auf seinem Platz blieb, traf

der Mann Anstalt, hinter seinem Tisch hervorzukommen. Unrat klinkte

rasch die Tür auf. Der Papagei schrie ihm nach: »Duhn supen!« Die

Matrosen brüllten vor Lachen. Unrat schloß die Tür.

Er bog scharf um die nächste Ecke und entkam aus der Hafengegend in

stille Straßen. Er zensierte das Vorgefallene.

»Dies war ein Fehler. Dies war -- freilich nun wohl -- ein Fehler.«

Die Künstlerin Fröhlich mußte auf einem andern Wege ausfindig gemacht

werden. Unrat sah sich die Begegnenden daraufhin an, ob sie etwas von

ihr wüßten. Es waren Lastträger, Dienstmädchen, der Laternenanzünder,

eine Zeitungsfrau. Mit dem Volk war keine Verständigung möglich: er

hatte die Erfahrung gemacht. Auch lud ihn sein jüngstes Erlebnis dazu

ein, bei der Anknüpfung mit Unbekannten vorsichtig zu sein. Weiser war

es, nach einem schon vertrauten Gesicht sich umzusehen. Aus der nächsten

»Grube« tauchte eben eines auf, dem Unrat noch voriges Jahr mit wütender

Betonung lateinische Verse zugeschrien hatte. Der Schüler, der »seins«

nie »präpariert« hatte, schien jetzt Handlungslehrling zu sein. Er

näherte sich mit einem Packen Briefe in der Hand und sah geckenhaft aus.

Unrat ging auf ihn zu, machte schon den Mund auf, wartete nur noch auf

den Gruß des jungen Menschen. Der aber erfolgte nicht. Der ehemalige

Schüler sah dem Professor höhnisch in die Augen und ging dicht an Unrats

zu hoher Schulter vorbei, wobei auf seinem blonden Gesicht das Grinsen

erschrecklich breit ward.

Unrat verschwand rasch in die »Grube«, woher der andere gekommen war. Es

war eine der nach dem Hafen sich senkenden Straßen; und da sie

abschüssiger ging als die andern, hatten sich hier zahllose Kinder

zusammengefunden, um in kleinen Wagen mit vollen Rädern, lärmenden

»Bullerwagen«, den Berg hinabzufahren. Die Mütter und Mägde standen auf

dem Bürgersteig, erhoben die Arme und riefen zum Abendessen; aber die

junge Welt stürzte unablässig, kniend in ihren Wagen oder die Beine in

der Luft, mit wehenden Halstüchern, über die Ohren geklappten Mützen und

zum Jubeln offnen Mündern, holpernd das Klinkerpflaster hinunter. Unrat

mußte, wie er die Straße überschritt, Sprünge machen, sonst geriet er in

die Deichsel. Um ihn her spritzten Pfützen auf. Aus einem

vorüberrasenden Wagen rief plötzlich eine durchdringende Stimme:

»Unrat!«

Unrat zuckte zusammen. Sofort wiederholten einige andere das Wort. Diese

Bürger- und Volksschüler hatten seinen Namen wohl von den Gymnasiasten

erfahren; und andere, die gar nicht wußten, was gemeint war, schrien

mit. Durch den Sturm hindurch, der sich gegen ihn erhoben hatte, mußte

Unrat die steile Straße erklimmen. Keuchend erreichte er einen

Kirchplatz.

Das war ihm wohl alles geläufig; die ehemaligen Schüler, die ihn nicht

grüßten, sondern angrinsten, die Straßenjugend, die ihm seinen Namen

nachrief. Nur hatte er heute in seinem Eifer nicht damit gerechnet: denn

jetzt schuldeten die Leute ihm eine Antwort. Wenn sie früher ihre

Vergilverse nie gekonnt hatten, mußten sie nun wenigstens über die

Künstlerin Fröhlich Bescheid wissen!

Unrat kam auf den Markt und an einem Tabakshändler vorbei, einem Schüler

von vor zwanzig Jahren, von dem er zuweilen ein Kistchen bezogen hatte;

-- nur zuweilen: er rauchte nicht stark, er trank selten; er hatte

keines der bürgerlichen Laster ... Die Rechnungen dieses Mannes waren

regelmäßig überschrieben: Herrn Professor U --, und dann erst war aus

dem U ein R gemacht. Ob das böse Absicht oder Gedankenlosigkeit war,

hatte Unrat nie feststellen können; aber er verlor auf einmal den Mut,

den Laden zu betreten, dessen Schwelle er schon berührt hatte. Der Mann

da drinnen war ein widersetzlicher Schüler, der nicht zu »fassen« war.

Er schlich eilig weiter. Es regnete nicht mehr; der Wind trieb die

Wolken fort. Die Gaslaternen flackerten rot. Schief über einen Giebel

lugte manchmal der gelbe, halbe Mond: ein höhnisches Auge, das gleich

wieder das Lid einkniff, so daß ihm sein Hohn nicht zu »beweisen« war.

Wie er in den »Kohlbuden« trat, flammten die großen Fenster des Café

Central lichterloh auf. Unrat spürte Lust, hineinzugehen, ein

ungewohntes Getränk zu sich zu nehmen. Er war heute auf merkwürdige

Weise aus den Schienen seines Tages herausgeworfen. Da drinnen ließ sich

gewiß etwas über die Künstlerin Fröhlich erfahren; dort ward von allem

möglichen gesprochen. Unrat wußte dies von früher, denn zu Lebzeiten

seiner Frau hatte er sich manchmal -- sehr selten -- eine Ferienstunde

im Café Central gegönnt. Seit sie tot war, hatte er zu Hause so viel

Ruhe wie er wollte, und brauchte das Café nicht mehr. Überdies war ihm

der Aufenthalt dort zum Schluß erschwert worden durch den neuen

Besitzer, auch einen frühern, nach Jahren in die Stadt zurückgekehrten

Schüler. Dieser hatte seinen einstigen Lehrer eigenhändig bedient und

ihn mit äußerster Höflichkeit, so daß Unrat es ihm unmöglich »beweisen«

konnte, fortwährend als Professor Unrat angeredet. Die Gäste waren sehr

angeregt gewesen; Unrat hatte die Empfindung gehabt, wenn er häufiger

herkäme, würde er dem Lokal zur Reklame dienen.

Also wandte er sich fort und suchte im Geist nach andern Stätten, wo er

seine Frage vorbringen konnte. Aber es fielen ihm keine ein. Die

bekannten Köpfe, die sein Gedächtnis aufrief, trugen alle solche Mienen

wie vorhin der Handlungslehrling, sein Schüler. Die erleuchteten

Geschäfte bargen, wie das des Zigarrenhändlers und das des Cafétiers,

lauter aufrührerische Schüler. Unrat geriet in Zorn, er fing an müde zu

werden, und er hatte Durst. Er warf nach den Läden, nach den Haustüren

mit Namen ehemaliger Sekundaner aus den Rändern seiner Brillengläser die

grünen Blicke, die seine Klasse giftig nannte. Alle diese Burschen

forderten ihn heraus. Auch die Künstlerin Fröhlich, die sich in einem

dieser Häuser versteckt hielt, einen seiner Schüler mit Nebendingen

beschäftigte und sich Unrats Machtbefugnis entzog, sie forderte ihn

heraus! Zuweilen zeigte das Schild an einem Eingang den Oberlehrer

Soundso an; dann lenkte Unrat gereizt die Augen weg. Der da hatte vor

seiner eigenen Klasse seinen Namen genannt; und daß er sich darauf

verbessert hatte, machte nichts gut. Dieser hier hatte Unrats Sohn auf

dem Markt mit einem Frauenzimmer gesehen und das Gesehene herumgeredet.

Auf allen Seiten bedroht von Feinden, durchmaß Unrat die Straßen. Er

schlich an den Häusern hin, mit einem gespannten Gefühl oben auf dem

Scheitel; denn jeden Augenblick konnte wie ein Kübel schmutziges Wasser,

den jemand ihm über den Kopf gegossen hätte, aus einem Fenster sein Name

fallen! Und da er ihn nicht sah, vermochte er den Schreier nicht zu

»fassen«! Eine empörte Klasse von fünfzigtausend Schülern tobte um Unrat

her.

So rettete er sich, ehe er's selber wußte, in die abgelegenste, tiefste

Gegend, wo am Ende einer langen, stillen Gasse das Stift der alten

Fräulein stand. Es war hier ganz dunkel. Ein paar huschende Wesen in

halblangen »Mantillen« und mit Tüchern um den Kopf kehrten verspätet

heim aus einem Kränzchen, von einem Abendgottesdienst, klingelten

verstohlen, zergingen in einer Türspalte. Eine Fledermaus beschrieb

Zacken über Unrats Hut. Unrat dachte und schielte nach der Stadt hinauf:

»Dann ist da kein, kein Mensch.«

Er sagte wohl:

»Ich leg' euch Bande noch mal hinein!«

Aber da er seine Ohnmacht fühlte, kam der Haß in ihm ins Zittern und riß

ordentlich an ihm; der Haß auf diese Tausende fauler, boshafter Schüler,

die ihm immer die schuldige Arbeit vorenthalten, ihn immer bei seinem

Namen genannt, immer nur auf Unfug gesonnen hatten; die ihn jetzt mit

der Künstlerin Fröhlich ärgerten, sie und den Schüler Lohmann nicht

angaben, sondern sich benahmen wie eine »gemeine« Klasse, die

zusammenhält gegen den Lehrer; die jetzt alle beim Abendessen saßen, ihn

aber nötigten, hier unten herumzuschleichen; und die überhaupt, es ahnte

ihm in dieser Stunde, etwas Übles aus ihm gemacht, ihn in den langen

Jahren, die er bei ihnen war, fragwürdig zugerichtet hatten.

Er, der seit sechsundzwanzig Jahren die Klasse vor sich hatte, die

Klasse mit immer denselben tückischen Gesichtern, hatte nie bemerkt, daß

die Gesichter hier draußen und wenn die Zeit hinging, bald ganz

gleichgültige Mienen behielten beim Gedanken an Professor Unrat, und daß

sie später sogar wohlwollende annahmen. Immer in der Anspannung des

Kampfes war er nicht dazu angetan, es zu würdigen, daß die Älteren in

der Stadt seinen Namen, sogar wenn sie ihm das Wort laut an den Kopf

sagten, nicht aussprachen um ihn zu verletzen, sondern Jugenderinnerungen

zuliebe, die ihnen mittlerweile harmlos heiter aussahen;

und daß er in der Stadt eine Figur war die für jeden Komik

umhertrug, aber für manchen eine zärtliche Komik. Er hörte nicht den

Meinungsaustausch zweier Schüler aus der allerersten Generation, die an

einer Straßenecke stehen blieben und ihm, er meinte voll Hohn,

nachblickten:

»Was ist denn mit dem Unrat? Er wird alt.«

»Und immer schmutziger.«

»Anders als schmutzig hab' ich ihn nie gekannt.«

»O, das wissen Sie wohl nicht mehr. Als Hilfslehrer war er noch 'n ganz

adretter Mensch.«

»So? Was der Name tut. Ich kann ihn mir überhaupt nicht sauber

vorstellen.«

»Wissen Sie, was ich glaube? Er sich selber auch nicht. Gegen so 'n

Namen kann auf die Dauer keiner an.«

Professor Unrat

Подняться наверх