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V

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Die Herzogin eilte zu San Bacco, sie hatte die Nachricht erhalten, er sei schwer verwundet. Aber vor seiner Tür mußte sie Halt machen; Nino schlüpfte heraus, ernst, mit der Ehrfurcht vor dem eigenen großen Erlebnis in den Augen.

»Er ist ins Gesicht getroffen. Das Florett ist ihm in den Mund gedrungen und zur Wange wieder herausgefahren.«

»An welcher Stelle, Nino?«

»Da. Ich weiß nicht, wie der Arzt das alles nennt. Ich werde aufpassen.«

»Nino, sieht es schlimm aus?«

»Sehr schlimm«, sagte der Knabe fest, nachdem er hinuntergeschluckt hatte.

»Ich darf nicht hinein?«

»Ich glaube nicht. Nein. Es sind zwei Ärzte da. In … ich weiß nicht, dort, wo sie sich schlugen, war kein Arzt. Darum hat er viel geblutet. Außerdem ist die barmherzige Schwester drinnen, und noch ein Mann, der ihn ausgekleidet und ins Bett gelegt hat. Die Ärzte verbinden ihn. Er ist ohnmächtig.«

»Warum hineingehen?« sagte sie leise. »Es wäre fruchtlos.«

Und sie dachte: »Wie ist alles fruchtlos, was ich tue. Wie bin ich fruchtlos. Er hat sich eigentlich für mich geschlagen. Er war das Beste, was ich hatte. Er wird sterben.«

»Geh du nur hinein zu ihm, Nino«, sagte sie. »Sie werden dich dulden.«

»Sie werden mich gar nicht sehen, so gewandt bin ich.«

Sie kehrte nach Hause zurück und verschloß sich, untröstlich.

»Er wird sterben. Schon einmal bin ich so jäh verlassen worden; Properzia tat es, aber sie ließ mich im Frieden der Göttin, Die Göttin gab mir mein Leben in die Hand als eine köstliche Schale. Mir ist, als sei ihr Glanz schon ausgelöscht, und ihre Reinheit durchkreuzt von wirren Zeichen.«

Nach drei Tagen richtete sie sich auf und ging nochmals hin. Es war am Morgen, ein Seewind brachte Kühlung, ein heiteres Läuten ging durch die Stadt. Nino sagte ihr:

»Sie können nicht hinein. Seit heute früh hat er Fieber.«

»Vielleicht einen Augenblick?« fragte sie sanft.

»Niemand als ich und die Schwester dürfen ihn sehen«, erklärte er sehr wichtig. Aber plötzlich, ganz bewegt:

»Das schmerzt Sie?« rief er. »O, das darf nicht sein. Gewiß macht man mit Ihnen eine Ausnahme. Sein Fieber ist nur leicht. Warten Sie, ich frage.«

»Laß nur, ich will nicht. Ich würde ihm schaden.«

»Aber dafür«, sagte er eifrig, »kann ich Ihnen heute alles wiederholen, was der Arzt gefügt hat über die Wunde. Sie ist nämlich nicht so gefährlich wie sie aussah. Das Florett ist vom ersten rechten Schneidezahn abgeglitten, die Zähne entlang gerutscht und unter der rechten Ohrspeicheldrüse durch die Kaumuskeln und Gesichtsmuskeln herausgesprungen. Verstehen Sie?«

»Also ist er sehr entstellt?«

»Gewiß. Der Kopf ist vollständig eingebunden.

Man sieht kaum mehr als die Augen. Er braucht ein Saugrohr, um Milch und Fleischbrühe zu trinken. Sprechen kann er nicht … Aber er hat eine Schreibtafel. – einen Augenblick, bitte.«

Er betrachtete sie, und wie traurig sie war. Dann schlich er ins Krankenzimmer. Nach einigen Augenblicken stand er wieder vor ihr, rot im Gesicht. Mit einem Ruck zog er das Buch aus Schiefer hinter seinem Rücken hervor. Sie las:

»Der Aderlaß hat nichts geholfen. Ich bitte um die Erlaubnis, Sie weiter lieben zu dürfen. Ihr Unheilbarer.«

Darunter war etwas ausgelöscht, aber der Griffel hatte Kratzspuren zurückgelassen. Sie buchstabierte:

»Ich auch. Nino.«

Und vor diesem doppelten Liebesbekenntnis hielt sie still und erlaubte ihren Augen, warm zu werden und feucht.

· · ·

Eine halbe Woche später durfte sie sein Zimmer betreten. Sie blieb unter der Tür stehen.

»Man hat Sie seltsam vermummt, lieber Freund«, murmelte sie, und lauter sagte sie:

»Aber ich sehe ja Ihre Augen, und weiß, daß Sie sehr stark und sehr glücklich sind.«

»Wirklich«, dachte sie ganz erstaunt, »diese Augen verhängt keiner der Schleier, die heutzutage fast alle Blicke, auch die gesundesten, neblig machen und aus der unmittelbaren Gegenwart fortrücken. Seine Augen sind dem Leben völlig offen, mir scheint, ich verstehe das eben in dieser Sekunde. Das Leben hat in diese beiden offenen blauen Feuer alle seine Bilder hineingeworfen, auch die gräßlichen, auch die beschämenden – aber es ist keine Schlacke darin entstanden.«

»Sie sind erstaunlich jung!«

»Und habe auch eine rechte Eselei begangen. Mich mit jemand zu schlagen, der Froschblut hat, und mich gar nicht herankommen läßt! Ach, Herzogin, ich gestehe es Ihnen, ich bin auf den ersten Sturm angewiesen, nicht auf die Kunst. Ich bin ein Draufgänger, Sie kennen mich ja. Ich habe immer nur um mich gehauen; irgendwo habe ich noch jedesmal getroffen; aber auch ich bin fast immer getroffen. Und dennoch habe ich berühmte Coups hinter mir. Einmal …«

»Regen Sie sich nicht auf!«

»Einmal hatte man das Terrain verlost. Ich bekam den tiefern Platz. Mein Gegner versucht den Schlagkopf. Das erste Mal springe ich zur Seite. Das zweite Mal mache ich Quintaparat und Riposte unter die Schulter. Der Kerl trägt noch den Arm in der Tasche.«

»Jetzt darfst du nicht mehr sprechen«, sagte Nino, und kam sachte hinter dem Bett hervor. »Mehr als zwei Minuten lang darfst du nicht sprechen. Sei nur ruhig, ich werde der Frau Herzogin schon alles erklären.«

»Ich bitte dich recht sehr«, sagte sie lächelnd.

»Dieser Herr von Mortœil müssen Sie wissen, ist ein Mensch mit ebensowenig Temperament wie Ehrgeiz. Er hat Bewegungen beim Fechten, so kalt wie ein Engländer. Er hat das Florett einfach steif vor sich hingehalten, und Onkel San Bacco, ein wenig kurzsichtig wie er ist – rannte gerade hinein, mit dem Munde, wissen Sie.«

»Daß ich noch alle meine Zähne habe«, erklärte San Bacco, und pochte mit dem Knöchel stark gegen sein Gebiß, »das ist meine Rettung, sonst hätte er mir einfach den Hals durchstochen.«

»Aber nicht vermöge seiner Kunst!« rief der Knabe leidenschaftlich. Er ergriff einen Stock.

»Verstehen Sie mich bitte, Herzogin! So hat er’s gemacht! Das war kein regelrechter arresto in tempo. Furcht war es im Grunde! Er kann gar nicht fechten und hielt einfach die Waffe vor, damit Onkel San Bacco nichts machen konnte. Pfui!«

Er lief aufgebracht durch das Zimmer.

»Du solltest dich nicht mit ihm aussöhnen!«

»Ist gut, ist gut«, erwiderte San Bacco. »Er hat mir geschrieben. Ich kann einem Ehrenmann, der sich mit mir geschlagen hat, nicht länger grollen.«

»Du haßt ihn also sehr?« fragte die Herzogin.

»Und sollte ich denn nicht?«

Der Knabe reckte sich auf.

»Da er mir fast meinen Freund getötet hätte!«

Er lehnte sich neben San Baccos Liegestuhl, auf einmal ganz verstummt.

Die Herzogin saß auf der anderen Seite.

»Also hier hausen die Freunde«, sagte sie und sah sich um. »Es sieht hier spartanisch aus. Ein eisernes Bett, ein Tisch mit Büchern, ein Armsessel, drei Strohstühle: das steht weitläufig auf den roten Fliesen. Sie haben Garibaldis Bildnis an der Mauer – nicht wahr, es ist für Sie gesorgt.«

»Und offene Fenster, vergessen Sie das nicht. Der Meerwind bläst von der Riva her durch die enge Gasse und ungehindert bis in meine Stube. Ein kleiner Platz liegt drunten, nur zwölf Meter breit, aber was braucht es mehr. Luft, Schatten, die Jugend als Freund, dazu noch ein Nicken von Ihnen, Herzogin: ich bin überreich.«

Sie schwieg und bewunderte ihn.

»Und das ganze Haus ist unser!« versetzte Nino mit Nachdruck. »Es ist nämlich ein sehr merkwürdiges Haus. Bemerken Sie, bitte, Frau Herzogin, daß jedes Stockwerk ein einziges Zimmer enthält. Das unterste ist unser Empfangs- und Speisezimmer, darüber wohnt Mama, dann Onkel San Bacco, und ganz oben ich.«

»Du hast also eine weite Aussicht?«

»Alle fünf Kuppeln von San Marco. Und die ganze Fassade beinah von San Zaccaria. Aber das Merkwürdigste ist der Brunnen drunten auf unserem kleinen Platz. Er ist achteckig und hat einen Deckel mit einem Schloß. Nie sah ich einen Brunnen mit einem Schloß. Jeden Morgen in aller Frühe kommt ein kleiner Buckliger, hören Sie nur, ein kleiner Buckliger mit einer spitzen roten Mütze und schließt ihn auf. Es ist sehr geheimnisvoll.«

»Ach!« sagte sie rasch, »den kleinen Buckligen muß ich ja kennen … Nein, doch nicht, das war früher. In dem Schloß, wo ich als Kind lebte, war so einer. Er rasselte mit einem großen Schlüsselbund, und den wichtigsten, eben den zum Brunnen, ließ er auch im Schlafe nicht aus der Hand … Nino, ich hätte dir vieles zu erzählen.«

Sie sann. Die Ruhestunde in diesem befreundeten Gemach erschloß ihr noch einmal den Frieden der eigenen Kindheit.

»Ich habe Ihnen ja auch so viel, so viel zu sagen«, erwiderte Nino mit Begeisterung. In ihrer Stimme fühlte er einen Zauber, der ihn hinriß.

»Und besonders, daß ich Sie ganz …«

»Jetzt bekommen wir auch noch Musik«, verhieß San Bacco und spitzte das Ohr. Nino lief ans Fenster, tief rot und zitternd.

»Fast hätte ich ihr verraten, daß ich sie liebe!« rief er sich zu, und verging vor Scham und Unwillen bei dem Gedanken.

»Es sind die Blinden, verkündete er überlaut. Sie stellen das Harmonium auf! Klarinette, Geige, Horn fangen an zu stimmen … Ein Paukenschlag! Bumm! Nun geht’s los!«

»Nein, sie wird es niemals erfahren!« so schwur sich der Knabe, stolz und blaß, und kehrte zurück an seinen Platz. Draußen tanzte und schluchzte die Sterbemusik der Traviata. Die Herzogin wiegte den Kopf.

»Du? Was hast du mir denn so viel zu sagen?« fragte sie und sah ihn an, ernst und gütig.

Er hätte in diesem Augenblick gern geweint. Im stillen flehte er sie an: »Nur das Eine nicht! Alles andere sage ich dir.« Er dachte nach, und fürchtete im Grunde, sie möchte ihre Frage wieder vergessen.

»Zum Beispiel der Ruhm«, sagte er hastig. »Wenn im Atelier des Herrn Jakobus über den Ruhm gesprochen wird, so glaube ich kein Wort davon, müssen Sie wissen. Es heißt immer, der Ruhm des einen oder des anderen nehme ab oder wachse. Welch ein Unsinn!«

Er zuckte die Achseln. Er begriff den Ruhm nur als ein Ganzes, Plötzliches, Unberechenbares, Überwältigendes. Er ward befremdet und mit Verachtung erfüllt durch alle die Erzählungen von den Schlichen, die zu ihm führten, von den Preisen, die für ihn bezahlt wurden, von Zugeständnissen an die öffentliche Meinung, Paktierungen mit ihren Lenkern, unstolzen Bewerbungen, heimlichem Erröten … Nein, der Ruhm war ein Mysterium.

»Neulich habe ich gelesen«, berichtete er feierlich, und schlug die Augen auf – »daß Lord Byron eines Morgens berühmt erwacht ist.«

»Wie schön ist das!« sagte die Herzogin.

»Nicht wahr?«

Plötzlich tat sein Herz wieder den Sprung wie damals, als er, blaß und seufzend, das Buch weggelegt hatte.

»Willst du denn ein Dichter sein?«

»Ich kann mir gar nicht denken, wie jemand eine Geschichte erfindet. Nein, ich will die Geschichten nicht erfinden, ich will sie erleben. Ich werde es wie Onkel San Bacco machen, mich herumschlagen mit Tyrannen, Völker befreien und Frauen, sonderbare Dinge überstehen.«

»Tue das, mein Lieber«, sagte der Alte. »Man bereut es nicht.«

»Wenn ich erst so gut fechten kann wie du.«

»Es fehlt nicht viel, dann bist du imstande, dich gerade so zurichten zu lassen wie ich.«

»Habe ich denn gute Muskeln?« fragte der Knabe, ganz leise.

»Hab’s dir doch schon oft gesagt. Und den Willen, sie zu bekommen, den hast du, und der ist mehr wert als die Muskeln selber!«

Die Musiker setzten ein. »Santuzza credimi«.

San Bacco und die Herzogin hörten zu. Nino biß sich auf die Lippen und dachte:

Aber meinen Knochen hat er noch niemals befühlt. Ob Onkel San Bacco denn gar nichts von ihm gemerkt hat?

Er nannte es seinen Knochen, und es warf ihn, so oft er daran dachte, in die Ängste einer geheimen Schmach. Es war aber die eiserne Stange eines Geradehalters, die unter seiner Bluse neben seiner linken Seite stand. Die Riemen umspannten die Schulterblätter. Er betrachtete das Instrument des Abends bei sorgfältig verriegelter Tür, mit ernsten Augen und festverschlossenem Munde. Dann, mit einem Entschluß, riß er es fort, warf die Kleider vom Leibe und trat vor sein Spiegelbild, trotzig erhobenen Hauptes.

»Zwischen der Brust und den Schultern ist es zu hohl«, sagte er sich mit Strenge. »Die Brust ist zu spitz. Ich habe es noch neulich bei dem bronzenen David gesehen, wie eine Jünglingsbrust aussehen soll – o, ganz anders als meine … Du mußt arbeiten, es wird besser werden …«

Und er begann Turnübungen zu machen. Aber es war ihm unheimlich zu Mut. Auf einmal ließ er den geschwungenen Arm herabsinken und legte sich zu Bett.

»Und wenn das auch nicht wäre. Der Hals ist ja viel zu dünn. Und kann ich denn hoffen, daß aus meinen Handgelenken jemals ein ordentlicher Männerarm herauswächst? Jeder gewöhnliche Mensch hat ja festere Handgelenke als ich. Onkel San Bacco aber hat welche wie aus Stahl.«

Die eigene Unerbittlichkeit griff ihn schließlich an; er schluchzte trocken. Dann biß er die Zähne zusammen, atmete tief und regelmäßig und verhütete dadurch den Ausbruch der Tränen.

Bei Tage überlegte er manchmal.

»Wer weiß, wie ich anderen vorkomme. Ich irre mich vielleicht: vielleicht bin ich besonders gut gebildet. Und wenn der Bildhauer des David mich gekannt hätte – wer weiß?« Es war eine unmögliche, im Seelengrunde schon wieder gestürzte Hoffnung. »Eine hohe Brust, ist das nicht ein Zeichen von Stärke? Und auf jeden Fall habe ich hübsche Beine, das haben noch alle gefunden, ich weiß es genau.«

Hier war er seiner Sache gewiß.

»Das Übrige verwächst sich, hat der Arzt gesagt. Übrigens, in den Kleidern sieht man nichts. Und ich härte mich ab. Ich will hungern und frieren lernen, schwere Arbeit tun, weit schwimmen, noch mehr …«

Aber er bewährte sich schlecht bei den Turnspielen. Den Augenblick, wo es gegolten hätte vorzuspringen und einen Gegner abzufangen, verpaßte er meist, denn er stand und träumte. Er träumte sich selbst als General und formierte seine Kameraden zum Angriff auf einen schwarzen Wald voll schauderhafter Feinde. Oder er ließ sie in den Raen des Schiffes umherklettern, zu dem die Mauern des Schulhofes sich umgestalteten. Schließlich wachte er auf, ganz erregt und bleich. Die Anderen waren rot, sie hatten gewonnen oder verloren; Nino hatte keines von beiden getan.

»Ach!« dachte er in einer Regung von Ernüchterung und Ungeduld. »Auch General werde ich niemals werden. Überhaupt, ich glaube, sie werden mich gar nicht zum Militär nehmen. Ich kann es mir nicht vorstellen.«

In Wahrheit empfand er ein uneingestandenes Grauen vor dem In-Reih-und-Glied-Stehen; vor den bürgerlichen Zusammenhängen ebenso. Wenn er von einer Heirat hörte, dachte er befremdet und neugierig: »Ob ich mich jemals verheiraten werde? Ich kann es mir nicht vorstellen.« Oder er sah einen Leichenzug. »Ich muß auf eine andere Weise verschwinden. Das kann mit mir wohl nicht so zugehen. Ich kann es mir nicht vorstellen.«

Das Spiel der Blinden war aus. San Bacco pfiff nochmals die letzten Töne, schwach, mit mühsam gespitzten Lippen.

»Der verdammte Verband! … Nino, war das schöne Musik?«

»Abscheulich war sie!«

Er schüttelte sich. Jeder seiner schlimmen Gedanken hatte sich an einen Ton gehängt, sich mit ihm gepaart, unlöslich. Und dieses zufällige Zusammenspiel einiger Noten mit einer leidvollen Grübelei machte dem Knaben aus ein paar gleichgültigen Takten einen Wald voller Peinigungen.

»Das will ich niemals wieder hören«, entschied er für sich.

Er ging auf den Fußspitzen durch das Zimmer, tänzelnd und unzufrieden.

»Habe ich hübsche Beine?« fragte er plötzlich, mit Sehnsucht in der Stimme.

»Zweifle nicht!« rief San Bacco. Es war sein erstes lautes Wort.

»Ich hab dich lieb!« sagte die Herzogin. »Komm einmal her … So. Du mußt mir also noch viel erzählen. Du darfst mich Du nennen und mit meinem Vornamen.«

Er war mit einem Sprunge bei ihr.

»Das darf ich?« fragte er leise, gespannt, ob sie ihr Wort nicht zurücknehme.

»O Yolla!«

»Yolla? Ist das eine Abkürzung?«

Er wußte erst jetzt, was er gesagt hatte und stotterte.

»Ich habe den Namen nämlich schon längst erfunden, im stillen – Yolla statt Violante. Sie verstehen wohl … Du verstehst wohl …«

»Ich muß ihr jetzt in die Augen sehen«, sagte er sich. »Sie wird jetzt alles herausbekommen.«

Da fuhr von draußen ein Schreien dazwischen und ein Klatschen, »Hoch San Bacco! Die Hymne an Garibaldi!« Und gleich darauf sprengte es daher, leichtherzig, mit raschen Gelenken, ein durchsonnter Sturm, der klapperte und sauste in den Falten von Bannern.

»Auch das ist Musik!« sagte San Bacco.

Nino war verschwunden. Die Herzogin sah vom Fenster, wie er über den Platz lief, und wie seine überhasteten Schritte daran verzweifelten, das Glück einzuholen: das unerhörte, einzige Glück, das aus des Knaben kurzen, roten Lippen fort und vor ihm hersprang. »Ist es denn wahr, soll ich wirklich jetzt, gleich jetzt das – das – das erleben?!«

Endlich stand er so nahe wie möglich bei den blinden Spielleuten. Er stand, eine Hand im Rücken, ohne eine Bewegung, und genoß das Rauschen, das Schmettern, das gelle Pfeifen, den wilden, fröhlichen, unaufhaltsamen Lärm, der Siege tanzte. Seine Geliebte droben erkannte es, wie sein Geist auf Pauken schlägen davonjagte und in den Klangwellen des Hornes. Wo war nun der Atemlose? Beim Einzug in ein erobertes Reich – er, der Triumphator. Adler stiegen ihm zu Häupten golden in die Luft. Sein Wagen ging über Tote – nein, sie waren nicht tot: auch sie richteten sich auf und jauchzten.

»Jetzt bin ich bei ihm«, dachte die Herzogin und spielte seinen Traum zu Ende. »Ich reiche ihm den Kranz …«

Aber da ward aus dem Gesicht des Knaben ein anderes, männliches. Auch dieses hatte kurze, willkürliche Lippen, rot vor Begierden. Sie erkannte es gar nicht und lächelte nur.

»Du willst doch ein Dichter sein«, sagte sie zu Nino, der wieder eintrat.

»Nein, nein«, erwiderte er, müde und als ob ihn fröre. »Was will ich eigentlich sein? … Yolla, weißt du es? Soldat? Dichter? Freiheitskämpfer? Seemann? Nein, nein, du weißt es auch nicht! Aus mir, ach …«

Er flüsterte, die Finger verschränkend.

»Aus mir wird gar nichts werden. Wie sollte ich wohl jemals anders sein als ich jetzt bin? Ich kann es mir nicht vorstellen.«

Sie umfaßte seine beiden Handgelenke und sah ihn an.

»Du hast soeben etwas sehr Großes gehört. Es ist vorüber, du fühlst dich verlassen und steckengeblieben, nicht wahr? Aber glaube nur, alles Große, das wir zu empfinden vermögen, ist unser. Es wartet auf uns, an dem Wege wo wir vorbeikommen sollen. Es beugt sich von seinem Sockel zu uns nieder, es nimmt uns so bei der Hand wie ich dich …«

»Auch mich«, sagte San Bacco, und legte seine Rechte in die ihrige. »Mir ist es gerade so ergangen. So aufgeregt ich es getrieben habe, jetzt da ich alt bin, meine ich immer auf einer eroberten Sumaca einen Riesenfluß hinabgefahren zu sein. Am Ufer zogen tolle Schicksale vorbei. Habe ich gekämpft? Früher hätte ich darauf geschworen. Jetzt weiß ich’s nicht mehr.«

»Sie haben gekämpft! Oder ein Gott durch Sie! Ah, wir ahnen nie deutlich genug, wie wir hoch stehen, wie wir stark sind und unersetzlich! Glaube das immer, Nino!«

»Ich gehe«, erklärte sie. Sie ordnete noch die Rosen, die sie mitgebracht hatte, im Glase. Sie rückte noch einen Stuhl zurecht und glättete das Kissen für San Baccos Kopf. »Sie verwöhnen uns, Herzogin«, sagte er, »Sie werden uns noch glauben machen, wir seien hier einfach drei Freunde.«

»Sind wir’s denn nicht?«

»Nein«, dachte Nino, »dazu tust du mir zu weh, Yolla.«

Er litt, da sie seine Hände berührte, und da sie sie wieder losließ; da sie gekommen war, und da sie nun wieder ging.

»Dann gehen Sie doch mit uns spazieren«, sagte er, heftig errötend. »Wir zeigen Ihnen in Venedig Dinge, die Sie sicher nicht kennen: schwarze enge Höfe, wo armes Volk wohnt, und wo Sie das Kleid mit beiden Händen aufheben müssen. Da ist zum Beispiel ein Sack aus Stein, und der Kopf eines Ertrunkenen sieht heraus, ganz verquollen, und speit Wasser.«

»Oder unser Palast«, sagte San Bacco.

»Jawohl, der Palast, den wir uns kaufen möchten, wenn wir Geld hätten, Onkel San Bacco und ich. Er verfällt und versinkt im Wasser zwischen niedrigen Ziegelmauern, wild überbuscht. Ein Balkon, spitzwinklig zwischen Säulen, hängt gebrechlich um eine Hausecke herum. Fensterrähmen wie Zwiebeln, bunte, durchbrochene Steinrosen sind in der Mauer – und ein Kamel; ein kleiner Türke führt es. Was ist das für ein Türke, Yolla, du glaubst doch nicht, daß es ein gewöhnlicher Mensch war. O, in dem Hause sind sonderbare Dinge geschehen.«

»Natürlich«, bestätigte San Bacco. »Nino hat sie mir erzählt, und ich glaube sie so gewissenhaft, wie er mir meine Streiche glaubt. Die Erwachsenen machen höfliche Gesichter, wenn ich von mir spreche. Die Zeit ist so sehr verändert; man hält es heute kaum für möglich, daß es einen Lebenslauf gegeben hat, wie meiner war. Nur bei Knaben die noch nicht zweifeln gelernt haben, bin ich unter meinesgleichen.«

»Das sind Einfälle!« sagte er dann und lachte leise vor sich hin. »Da haben Sie’s, ich mache mir seit acht Tagen keine Bewegung. Aber gehöre ich nicht in Wirklichkeit zu den Knaben, da ich mit den Parlamentsferien nichts besseres anzufangen wußte? Beim Wiederzusammentritt werden die Kollegen mir die Hände schütteln und mich beglückwünschen zu meiner Heldentat, und am Buffet über mich lachen. Diese Bürger wissen genau, welchen Windmühlenkampf ich mit ihnen bestehe. Sie haben Unterdrückung und Ausbeutung so fest an Freiheit und Gerechtigkeit gekoppelt, daß man die einen nicht mehr treffen kann, ohne die andern zu töten. Ich wünsche mir meine guten alten Tyrannen zurück. Sie heuchelten weniger, sie waren ehrlichere Schurken. Heute kann ich das verratene Volk kaum noch lieben. Es ist zu feige geworden, und ich zu ohnmächtig. Ich schäme mich vor ihm und seinetwegen. Das Gewissen schlägt mir, wenn es meinen Namen ruft, wie vorhin dort unten. Ich wollte, es zöge mich zur Verantwortung …«

»Werden Sie gesund! Alles Große, das wir zu empfinden vermögen …«

»Ist unser«, schloß er. Seine Augen leuchteten auf.

Als sie fort war, sahen die beiden verstummt einander an.

»Ich bin die ganze Zeit übermäßig glücklich gewesen«, jubelte plötzlich der Knabe.

»Wir sind es noch«, meinte San Bacco.

»Natürlich!«

Und Nino sprang über einen Stuhl. Was war selbst das Leiden für ein Glück! So lange sie da war, reichte jeder Gedanke höher und färbte sich lebhafter, jedes Gefühl bewegte einen schmerzlicher oder süßer. Es war kaum zu fassen.

· · ·

In ihrer Gondel befahl sie ohne sich zu bedenken:

»Campo San Polo.«

Sie betrat das große Schauatelier und wußte noch gar nicht, weshalb sie kam. Man sagte ihr, der Meister sei ganz allein. Jakobus entließ, so oft die Herzogin gemeldet ward, durch eine Hintertür, insgeheim und eilig, alle seine Besucher. Sie fand ihn vor der Staffelei, tief in der Arbeit.

»Das ist schön«, sagte sie.

»Es kostet fünfzehntausend Francs, das ist das Schönste daran.«

»Aber ich empfinde es.«

Er sah sie an.

»Ach so. Heute würden Sie für die letzte Schmiererei Empfindung übrig haben. Sie sind voll Glück und Güte. Woher kommen Sie denn?«

»Nicht eifersüchtig sein, mein Lieber. Sie sehen, ich will Ihnen wohl.«

Er verzog das Gesicht, mißtrauisch und begehrlich.

»So wohl, wie ich’s verlange – schwerlich.«

»Fast so. Unterlassen wir die nähere Bestimmung.«

Er war tiefrot geworden.

Sie öffnete die Arme. Langsam und gleichmütig trippelte zur Tür herein die kleine Linda. Die Herzogin umschlang das Kind, kniete bei ihm hin, streichelte seine Hände, drückte die Wange auf die harte Silberstickerei seiner kühlen, schweren Robe.

»Ich hab’ dich lieb, kleine Linda«, sagte sie, und sie dachte: »Weil du sein Kind bist! … Er war ja der Mann, der ebenso kurze, rote Lippen hatte wie Nino, und dem ich den Kranz reichte, anstatt ihm den Knaben aufzusetzen. San Bacco kann verehren, noch mit siebenzig Jahren; Nino bebt vor Sehnsucht nach schönem Leben. Sie sind beide ein wenig lächerlich, ich weiß – der Greis, hochtrabend und in Tücher verbunden, der Knabe schwächlich und hochtrabend. Wie liebe ich sie! Welche Zärtlichkeit durchdringt mich unter ihren anbetenden Blicken! Dann gehe ich und sage diesem Jakobus, daß ich ihm wohl will. Er verdient es nicht, aber …«

»Und dir auch«, wiederholte sie ganz laut und riß das Kind fester an sich. Es betrachtete die Kniende von oben, verständnislos und kalt.

»Rühren Sie sich nicht!« rief der Maler. »Eine Sekunde! Ich habe es schon!«

Er ergriff die Kohle; im selben Augenblick fiel von ihr alle Bewegung. Sie schaute zu, wie er in stürmischer Verbissenheit die übrig gebliebene Pose des Gefühls auf der Leinwand herunterriß – des Gefühls, das ihr schon entfahren war.

»Das ist mir wieder gelungen«, sagte er mit einem Seufzer, und begann sofort zu malen. Sie sah das Bild an und erfuhr nun erst von ihm, daß sie soeben einen Schmerz durchgemacht habe. Ihr dunkler Kopf drängte sich mit leidenschaftlicher Schwermut gegen das unbewegte, künstliche Geschöpf aus Silber und Perlmutter.

»Die Herzogin von Assy und Linda Halm – es wird eine meiner beliebtesten Sachen werden«, behauptete Jakobus. »Die Photographien danach werden riesig viel verlangt werden, im Kunsthandel wird’s einfach ›Herzogin und Linda‹ heißen … Ich bin stolz darauf, Herzogin, aber sind Sie’s nicht auch ein bißchen?«

»Weil Sie mich berühmt machen? Sie sehen das zu wichtig an, mein Lieber. Ich bin durch meine Launen berühmt geworden, bevor ich es durch meine Bilder ward. Früher nannte man mich eine politische Abenteurerin, jetzt eine Kunstschwärmerin – und wie ich später noch heißen werde, das wissen weder Sie noch ich. Sie sind sehr unschuldig an alledem. Ich lebe einfach, und alles kommt wie es muß.«

»Sie schulden mir also gar nichts, Herzogin? Wirklich gar nichts? Daß ich auf Sie allein all meine Kunst gehäuft habe, das verpflichtet Sie zu nichts? Daß ich mein Leben eng gemacht habe und mein Können auch …«

»Eng und stark. Wenn Sie nicht ›Herzogin und Linda‹ als großer Meister malten, dann würden Sie alle möglichen Dinge machen – aber im Stil aller andern.«

»Sie haben Beweisgründe, weil Sie kalt sind. Aber mir sind Sie zum Verhängnis geworden, und Sie werden mir schon einmal meinen Lohn auszahlen. Ich warte.«

»Trösten Sie sich. Sie warten nicht umsonst. Jeder der starker Empfindung fähig ist, wird irgendwann erhört werden. Es gibt keine Begehrten und keine Verschmähten: es war nur ein Qualsüchtiger, der mich das glauben machen wollte. Ohne Hoffnung auf Liebe sind bloß die, die selber nicht lieben können … Aber wer sagt Ihnen, daß gerade ich Sie lieben werde? Ich bin Ihr Verhängnis, gut, und bleibe ganz ruhig dabei – sehen Sie, so ruhig wie Sie selber geblieben sind, als Lona Sbrigatis Stimme das tragische Timbre bekam.«

»Das ist unredlich!« rief er, aufrichtig entrüstet, und legte die Palette weg.

»Sie fühlen sich nicht sicher, sonst wären Sie redlich. Lona Sbrigati, Sie sagen es, hat durch mich Ihr Talent bekommen, Sie aber, Herzogin, töten meine besten Werke, weil Sie meine Liebe ausschlagen. Und Sie leben für die Kunst! …«

»Eigensinnig wie ein Kind!«

Sie schüttelte den Kopf.

»Clelia Mortœil empfängt kein Talent von Ihnen und auch keine Liebe. Sie hat sich Ihnen aufgedrängt, sagen Sie, aber Sie nahmen sie doch an. Sie nehmen zu viel, Freund, und verlangen noch mehr. Auch Ihre Frau …«

»Meine Frau ist glücklich!« rief er heftig. »Sehr glücklich! Da muß ich schon bitten!«

»Ich weiß nichts von Ihrer Frau. Aber ich mißtraue dem Glück, das von Ihnen kommt.«

»Es ist ja richtig … Es ist nicht alles in Ordnung zwischen mir und der Frau … Wir leben getrennt – aber ich will Ihnen schon zeigen, warum. Erstens muß die Frau eines Künstlers beschränkt sein, offenbarungsgläubig sogar. Ihre Offenbarung soll ihr Mann sein. Meine Frau dagegen war lehrhaft, sie wollte ›mit mir arbeiten‹. Ich merkte das schon vor der Hochzeit und erschrak. Aber sie liebte mich so unsäglich, krankhaft geradezu, und ich bin nicht so stark wie Sie meinen. Ich heiratete sie. Aber bald nachher verlor sie fast alle Haare. Da war es aus.«

»Da war es aus?«

»Ich kann alles niederkämpfen, nur den physischen Ekel nicht.«

»Wegen dünner Haare verstoßen Sie eine Frau?«

»Dünne Haare! Sie wissen nicht, was Sie da Abscheuliches sagen. Volles langes Haar bedeutet mir das Geschlecht des Weibes, ihre Macht funkelt als Diadem in langen Flechten. Eine Frau mit dünnem Haar ist eine Entweibte, ein abstoßendes Wesen. Was glauben Sie, ich will sie weder in meinem Schlafzimmer noch auf meiner Leinwand. Ich male die Hysterie und das ohnmächtige Laster, ich male den grünlich verquollenen Blick und die unzüchtige Stirn einer Frau Pimbusch aus Berlin, aber niemals werde ich dünnes Haar malen!«

Er tobte.

»Das ist ja ein Stück Wahnsinn«, meinte sie, und hob die Schultern. Aber ihr graute fast.

»Also darum duldet er Clelia«, dachte sie. »Weil sie schönes starkes Haar hat … Und wenn ihre Frisur ihm einmal nicht mehr weich und tief genug vorkommt, um einen kalten Kuß hineinzudrücken …«

»Niemals!« wiederholte er und spreizte sich. »Glauben Sie denn, daß ich unter den Augen einer Frau, die mich körperlich beleidigt, noch hätte arbeiten können? Wem schulde ich mehr, irgend einem Geschöpfe das sich in mein Leben eingedrängt hat – oder der Kunst? … Nun, da schauen Sie, wer gibt mir denn recht, wenn nicht die Frau Herzogin von Assy es tut!«

Er kam näher und senkte die Stimme, vertraulich und schmeichlerisch.

»Übrigens halten Sie mich nicht für zu hartherzig. Die Frau ist wirklich nicht unglücklich, sie darf mich ja lieben. Sie darf mir schreiben, Sie darf überall von mir sprechen. Mit den Zeitschriften die meine Werke wiedergeben, läuft sie von einen Salon in den andern. Wenn ich ausstelle, verschenkt sie die Billets, Sie langweilt alle Welt mit mir, sie hat die Manie, lebende Bilder nach meinen Gemälden zu stellen.«

»Die Frau ist rührend, ich möchte sie kennen.«

»Hm. Sie gewinnt durch die Entfernung. Aber glücklich ist sie, glauben Sie das mir, sie liebt mich ja so unsäglich, krankhaft geradezu.«

»Ja, glücklicher wohl als wir beide«, äußerte die Herzogin, ehe sie’s überlegt hatte.

Er sah sie starr an.

»Ganz recht, glücklicher als – wir.«

Und in jäher Ausgelassenheit:

»Aber ich krieg’ schon noch meinen Lohn! Gelt, Linda, sie zahlt mir schon noch aus, was ich zu kriegen hab’!«

Er warf sich mit stürmischen Küssen auf das erstaunte Kind.

Im selben Augenblick stieß ein Fuß an die Schwelle; und sehr blaß, erhobenen Hauptes und um den Mund ein leises Lächeln, gemischt aus Verstörtheit und Verachtung, erschien Nino.

»Grüß Gott, du lieber Bursch!« rief Jakobus. Der Knabe küßte der Herzogin die Hand, er sah sie nicht an.

»O, ich komme nur – nur wegen meiner Stunde«, sagte er kalt und trat vor das Fenster.

Die Herzogin bereute auf einmal jedes Wort, das sie seit dreißig Minuten gesprochen hatte. Sie begriff nicht mehr, daß sie hier sitzen konnte.

»Ich habe ihn verraten«, dachte sie. »Das ist kindisch und wahr.«

Sie betrachtete sein Profil, und fühlte alles mit, was in der Seele des Knaben sie anklagte und richtete. Sie fühlte mit innerlichem Weinen, wie sie ihn verriet, ihn und seinen großen Freund, gleich dem alltäglichen Weibe, das sie in seiner Seele nicht war. Sie war eine geliebte Ferne, ein Märchenziel, wo in Weben und Klingklang von Mondsilber und Harfen, über flimmernde Terrassen und nachtblaue Zypressen das unmögliche Gefühl steil aufquoll, ein himmelhoher Springstrahl, der nie zurückfiel.

Jakobus holte einen Entwurf herbei, spannte ihn in einen Rahmen und trat prüfend davon weg.

»Nun sieh doch einmal, was der Bursch gemacht hat! Ja, geruht denn heute der junge Meister keinen Blick darauf zu werfen?«

Er umarmte Nino von hinten, liebevoll, als ein älterer Bruder. Der Knabe duldete die Berührung, mit hochgezogenen Schultern. Er ließ sich fortschieben, bis vor die Staffelei. Plötzlich richtete er sich gerade auf.

»Das ist nicht von mir«, sagte er, leise und bestimmt.

»Was schwätzt er daher? Das soll nicht von ihm sein?«

»Das ist nicht von mir. Sie haben das verbessert.«

»Verbessert – verbessert … Ich bin ja dein Lehrer …«

»Nicht bloß verbessert. Es war überhaupt gar nichts, das was ich gemacht hatte.«

Da ließ sein Blick die Zeichnung los; er traf erst den Maler und fiel dann auf das Gesicht der Herzogin, schwer und traurig. Sie erschraken beide und sahen weg.

»Er ahnt«, sagte sie im stillen. »Er ahnt Dinge, die ich selbst nicht weiß.«

»Und die ich nicht wissen will«, setzte sie hinzu, in stummer Empörung. Sie stand auf.

Jakobus hatte keine Antwort mehr für Nino. Er unterschied, unvermutet und für eine Sekunde, ganz klar alles was geschah und was er selber tat.

»Er hat recht, der Bursch, ich bilde ihm ein, er habe Talent. Ich will ihn mir ja zum Freunde machen, denn die Herzogin sieht ihn gar zu gern. Da saß’ ich ihn denn um die Schulter und zeig’ mich ihr mit ihm zusammen. Etwas von ihrem Wohlgefallen fällt auch auf mich. Und er ist halt doch nur ein Knabe. Er wirbt … für mich.«

»Nino, jetzt wird gemalt! Gemalt wird jetzt!« rief er und schwenkte den Knaben rundum.

»Ah bah!« dachte er. »Er weiß von dem allen nichts. Das sind Grillen …«

Und gleich darauf hatte er’s selber vergessen.

Nino breitete seine Arbeit auf dem Tische aus; er zeichnete, gebückt und still. »Ach Yolla, Yolla«, flüsterte es immerfort in ihm. Er fühlte sich ganz wund. »Ach, wäre ich nicht hergekommen, es wäre dann noch gerade so, wie es vorhin war, vor kaum einer Stunde, in unserm Zimmer … Ich weiß nicht, was seitdem geschehen ist. Es ist etwas Schreckliches, aber ich verstehe es nicht …« Und zu unterst in ihm, aus seinen tiefsten Schmerzen, wickelte sich heimtückisch ein Wunsch hervor: »O Yolla, daß ich dich gar nicht liebte!«

»Nein, nein!« rief er sich zu. »Ich will dich lieben bis zum Tode. Diesen Menschen aber hasse ich, mitsamt seinem Atlaswams vom Theater!«

Jakobus sah ihm über die Achsel.

»Aber das ist ja ein Fortschritt! Herzogin, schauen Sie einmal her, bitte: jetzt fängt’s an bei dem Burschen. Da gibt’s keinen Zweifel mehr, jetzt wird was draus!«

Er schwatzte vor Freude. Die Besserung seines Schülers machte ihn übermütig, wie eine unverhoffte Rechtfertigung.

»Was will sie denn noch, Nino, die Frau Herzogin! Nicht bloß, daß ich selber ihr zu Gefallen ein großer Maler geworden bin. Man tut ja, was man kann … Aber jetzt mache ich noch einen aus dir – daß später, wenn meine eigenen Finger zittern, immer noch einer da ist, der ihrer Schönheit nachgeht und sie feiert. Bin ich ein treuer Diener, Nino? Meinst du wohl, daß sie mir einmal meinen Lohn auszahlen wird, die Frau Herzogin?«

Der Knabe blickte auf.

»Das ist mir unbekannt, es ist Ihre Sache«, sagte er frech. Er dachte:

»Wenn Onkel San Bacco einen haßt, so läßt er’s ihn merken. Das geht nicht so weiter.«

»Übrigens habe ich genug gezeichnet. Ich mache keine Fortschritte, Sie tun nur so. Ich werde auch niemals wieder herkommen. Ich will überhaupt kein Maler werden.«

»Wie, bitte? Ich habe nichts gehört. Also hast du wohl nichts gesagt.«

»Nino«, sagte die Herzogin, »du denkst doch daran, daß deine Mutter zu Hause liegt und leidet, und daß sie hiervon nichts erfahren darf? Nichts davon, daß du die Kunst verlassen willst?«

Sie bat; er hörte es. Er hörte auch, daß sie den Namen seiner Mutter nur gebrauchte, um für sich selbst zu bitten.

»Ach, ihr mit euerm Kunstwesen!« sagte er langsam, leidend und trotzig, und sah zu Boden.

»Du möchtest dich lieber herumschlagen, ich weiß – Großes tun und sonderbare Dinge erleben. Aber begreife doch, daß dies alles durch die Kunst geschieht, ja, daß es jetzt fast nur noch durch die Kunst geschieht. Sieh doch, auch die Tracht der großen Zeiten – wer darf sie heute noch anlegen? Ein Maler.«

Der Knabe maß seinen Feind, flüchtig und ohne den Kopf zu erheben. »Ich bin unglaublich ungezogen«, dachte er, »aber es muß sein.« Und er stieß geringschätzig den Atem aus.

»Ich bin dir wohl nicht schön genug?« fragte Jakobus.

»Damals«, fügte die Herzogin hinzu, »hatten die Maler Grund, sich vor einander zu fürchten. Bei der Arbeit trugen sie Schwerter.«

»Und Brillen?« fragte Nino. »Sehen Sie, es stimmt nicht.«

Jakobus ward rot und ging beiseite.

»Komm, meine Linda, wir drücken uns fort. Wir schämen uns.«

»Und er schämt sich wirklich!« rief die Herzogin und lachte. Sie war beiden dankbar für diesen freimütigen Zank. Sie drängte mit beiden Händen die Stirn des Knaben zurück, bis er ihr in die Augen sehen mußte.

»Schau nur, er ist ja auch ein Bube – wie du. Drum kannst du ihn kränken. Weil er eine Brille trägt. Seid ihr Buben!«

Der Knabe wendete sich nach dem Maler, er versetzte laut und bebend:

»Verzeihen Sie mir, bitte!«

»Dich, Yolla, hab’ ich noch viel, viel mehr gekränkt … Ah, du kannst gar nicht wissen, wie sehr.«

Er war auf einmal erweicht, unfähig einen Menschen leiden zu machen, und ganz beglückt durch die eigene Schwäche. Die Hand seiner Geliebten lag noch auf seiner Stirn; er fühlte es gar nicht, so leicht war sie. In seiner Verwirrung meinte er fast, es kauere dort eine Taube, weiß und wunderbar. »Yolla!« flüsterte er, und schloß die Augen.

»Gut Freund?« fragte Jakobus und bot Nino die Rechte.

»Ja«, erwiderte der Knabe, leise und ergeben.

Jakobus umhalste ihn und trollte mit ihm durch das Zimmer.

»Das Malen ist nun verpaßt. Es wird ja dunkel.«

Er haschte nach Nino und ließ ihn springen wie ein Hündchen. Mit ihm und der Gliederpuppe spielte er der Herzogin eine Komödie vor. Nino zeigte sich gelenkig, er dachte: »Schweigt sie? Meint sie, ich sei nicht zufrieden?« Er lachte ihr zu, laut und herzlich, und sie erwiderte es.

Jakobus blieb endlich stehen, eine Hand auf der Hüfte, das Bein anmutig gebogen, und mit zerstörten Locken. Er atmete tief auf. Es war ihm jung zu Mute; er fühlte: »Die knabenhaften Reize des schlanken Nino werden alle mir zugerechnet. Die Herzogin sieht nur noch mich.«

»Nino!« rief er, sinnlos vor Frohlocken. »Die Frau Herzogin ist jetzt gnädig gestimmt, ich merke es. Geh hin und bitt’ sie, sie soll mir doch meinen Lohn auszahlen! Gehst du?«

»Was für eine kindische Hartnäckigkeit!« murmelte die Herzogin.

»Auch dies noch«, sagte der Knabe für sich. Er drückte wieder eine Sekunde lang die Lider ein. Blaß, in einem Rausche der Selbstaufopferung, ging er auf sie zu. Er nahm ihre Hand; seine Lippen, sein Atem, seine Wimpern streichelten sie.

»Gieb dem Herrn Jakobus seinen Lohn!« sagte er fest.

»Das hättest du nicht sagen sollen.«

Sie drehte sich um und sah Clelia Mortœil an der Tür stehen.

»Sie auch, gnädige Frau?« rief Jakobus. »Das ist reizend. Wir spielen gerade. Sind wir heiter!«

»Es freut mich. Spielen Sie weiter«, erwiderte Clelia, langsam und tonlos. Sie setzte sich, das Fenster im Rücken. Plötzlich sprach niemand mehr. Es dämmerte tiefer, Jakobus sagte gezwungen:

»Frau Clelia, wir erkennen von Ihnen nur den Schattenriß – und der hat etwas seltsam Unheimliches.«

Man sah ihren Kopf sich bewegen, in leisen Stößen.

»Was ist Ihnen? Sie haben keinen Hut auf? Waren Sie in der Kirche? Gehen Sie ins Konzert?« Es kam keine Antwort.

Die kleine Linda drängte sich gegen ihren Vater. Nino stand erwartungsvoll.

»Ach du, Nino Sventatello!« rief Jakobus laut und herzhaft. »Es ist zu dunkel zum Spielen. Ich erzähle dir eine Geschichte.«

Er zog das Kind und den Knaben an seine beiden Seiten, auf die niedrige Bank zu Füßen einer langen, geschnitzten Truhe. Die Herzogin stand vor ihnen.

»Nino Sventatello, dies ist die Geschichte von einem, der auch Hans Leichtfuß hieß, und der auf den Stufen eines Brunnens schlief, weil ihm kein Bett gehörte. Aber als er eines Morgens erwachte, gehörte ihm Rom; denn ein großer Herr, der erst am hellen Morgen nach Hause ging, hatte Gefallen gefunden an seinen blonden Locken und an den Schatten um seine geschlossenen Lider. Er ließ ihn in seinen Palast tragen und sorgte dafür, daß ihm mit äußerster Vorsicht neue Kleider angelegt wurden: weißseidene Schuhe, Strümpfe und Hosen, eine rote Weste, ein grüner gestickter Rock – denn er hoffte, wenn Nino in diesem prinzlichen Staat erwache, werde er zu lachen geben.

Nino aber lachte selber, sobald er die Augen aufschlug, sehr befriedigt von den Kavalieren, die ihn bekomplimentierten. Ihre Perrücken schleppten einen halben Fuß weit am Boden, so tief verbeugten sie sich. Er dehnte sich sodann mit solcher Anmut, dem Lakaien der die Chokolade verschüttete, gab er so gewandt eine Ohrfeige, und setzte sich mit solcher Sicher heit auf das Lieblingspferd des großen Herrn, daß dieser endlich sagte: ›Halt! Du tust ja, als ob du ein Prinz wärst.‹ – ›Sie meinen?‹ entgegnete Nino. Der Herr verstand Scherz. ›Du sollst wirklich einer sein. Aber vorher mußt du beweisen, daß du Mut, Artigkeit und Redekunst besitzest. Diese Dinge zu besitzen, ist leicht für den, der schon in den Kleidern eines Kavaliers steckt. Darum sollst du sie in deinen alten Kleidern zeigen.‹ – ›Alte? Ich habe nie was Altes getragen.‹ – Man zog sie ihm an. ›Ich lasse die Verkleidung gelten‹, sagte Nino. Er sah sich den Kutscher des Hauses an: ›Das ist ein sehr starker Mann: ich wage es.‹

Als der Herr mit seiner schönen Tochter daherfuhr, legte Nino sich über den Weg, den Hals gerade vor das rechte Rad. Rechts saß das junge Mädchen: sie kreischte angstvoll. Der Kutscher riß an den Zügeln, das Rad berührte Ninos Hals. Der Herr wollte herausspringen, aber das Mädchen hielt ihn fest: ›Du bist so schwer, der Wagen würde einen Ruck bekommen, und er ist tot.‹ – Während die Pferde um seinen Kopf herum mit den Hufen stießen, redete Nino.

›Sie kennen mich, schöne Prinzessin: ich bin einer von den Knaben, die am goldenen Schlage Ihrer bunt bemalten seidenen Kutsche standen und die Hand hin hielten; ich aber ließ die meinige sinken, weil Ihre Augen so groß und blau waren. Sie kennen mich, ich bin einer von den Knaben, die am Küchenfenster Ihres Palastes die Düfte einatmeten und dabei ein Stückchen trockenes Brot aßen. Aber droben an Ihrem Fenster sah ich ein Stückchen von einer weißen Schulter mit einer goldenen Locke darauf – und ließ mein Brot einem andern. Sie kennen mich, ich bin einer von den Knaben, die die Stäbe Ihres goldenen Parkgitters mit den Händen umfaßten, wenn auf den bunten Wiesen die Damen und die Herren Ball spielten. Ich aber sah Ihre goldenen Locken wehen und Ihre leichte Gestalt über die Blumen hinfliegen, ohne ihnen ein Leid zu tun – und umklammerte die Stäbe noch fester, sonst wäre ich übers Gitter fort, in die glänzende Gesellschaft mitten hinein und Ihnen zu Füßen geflogen. Und weil ich nichts anderes mehr zu tun wußte, liege ich nun mit dem Halse unter den goldenen Rädern Ihrer Galakutsche und sage Ihnen, wie schön Sie sind und wie sehr ich Sie liebe.‹ (Dabei zitterte Ninos Stimme, denn was er sagte, war wahr – oder er meinte, es sei wahr: er wußte selbst nicht mehr.) ›Und gleich wird Ihr Kutscher, wenn er auch stark ist, die Pferde nicht mehr halten können, und ich sterbe für Sie. Denn die Leute, die hier in Haufen umherstehen, werden sich hüten, mich unter Ihren Rädern hervorzuziehen. Sie sind den schönen Reden viel zu geneigt und viel zu begierig auf anregende Schauspiele, um diesem unterhaltenden und spannenden Auftritt vor der Zeit ein Ende zu machen.‹

›Aber ich tue es!‹ rief das junge Mädchen, hüpfte aus dem Wagen und hob Nino auf. ›Wer bist du?‹ – ›Ich bin Prinz Nino, Ihr Herr Vater kennt mich.‹ Der große Herr schnaubte zornig: ›Was ist das für eine Komödie? Was fällt dir ein, Betteljunge?‹ – Nino erwiderte ruhig und vornehm: ›Sie wollten, daß ich eine Komödie als Betteljunge spielen sollte. Ich, der Prinz, sollte beweisen, daß ich auch als Betteljunge Mut, Artigkeit und Redegewandtheit besitze. Ist es nicht mutig, wenn ich den Hals vor die Räder einer Kutsche lege, die von zwei wilden Hengsten gezogen wird? Ist es nicht artig, daß ich das zu Ehren einer Dame tue? Und werden mir nicht alle Anwesenden bezeugen, daß ich, selbst noch in einer ungewöhnlichen und halsbrecherischen Lage, zu reden verstehe?‹ – Der Herr lachte laut, ließ Nino die Prinzenkleider wieder anziehen und vermählte ihn mit seiner Tochter.«

Jakobus war fertig; er hörte mit Stolz, wie der Knabe neben ihm Tränen verschluckte. »Das müßte sie sehen«, dachte er. Nino dachte: »Herrgott, wenn jetzt Licht gebracht wird! Meine Augen sind ja naß.« Er wagte nicht, sich zu rühren; und inzwischen blieb es still.

»Frau Clelia, hat Ihnen das gefallen?« fragte Jakobus.

Man wartete. Endlich kam aus dem Dunkeln die Antwort mit der Stimme eines gereizten Kindes.

»Ich weiß nicht. Mein Vater liegt im Sterben.«

»Oh! Oh!«

Jakobus stürzte auf sie zu, er umarmte sie in der Finsternis so fest, als risse er sie selbst vom Grabesrande weg.

»Warum sagst du das nicht eher?« murmelte er. »Warum läßt du dich nicht trösten? Du hast doch mich.«

»Ich bin zu dir gekommen, ja – aber es war ein Irrtum. Ich habe niemand. Ich bin ganz allein. Hast du vielleicht an mich gedacht, als – ihr vorhin so heiter waret?«

Er ließ sie los und rief nach Licht. Er fuhr im Zimmer umher.

»Herzogin, lassen Sie es sich nicht nahe gehen, ich flehe Sie an.«

Die Herzogin eilte, sobald es hell war, auf Clelia zu.

»Ich bin erschüttert«, sagte sie leise, mehrmals.

»Nein, nein, ich bin ganz allein«, wiederholte die junge Frau, eigensinnig und voll Ablehnung. Sie wollte keine Teilnahme wecken, sie dachte nicht mehr daran, ein angenehmes Bild zu gewähren, wie früher, als klagende Nymphe. Sie wünschte nicht den Wider schein ihrer anmutigen Träumerei in die Augen der anderen zu werfen. Man sollte sie endlich nicht mehr liebenswürdig finden. Nein, sehr unliebenswürdig wollte sie sein, ganz ausgestoßen, ganz ohne menschliche Zuflucht und Herzlichkeit! Als einzigen Trost ersehnte sie es, ein Frösteln des Unbehagens und der Angst in die Stunden der Glücklichen einzuschleppen – der Glücklichen, die sie beraubten.

»Wir gehen hin, nicht wahr, Herzogin?« fragte Jakobus. »Frau Clelia, wir verlassen Sie nicht.«

»Es ist unnötig.«

Die Herzogin umfaßte von unten ihre beiden, hilflos und abwehrend hingestreckten Arme.

»Stirbt er? Sie glauben nicht, wie ich das fürchte!«

Clelia stutzte vor der unerwarteten Leidenschaft.

Jakobus sah ihnen zu und ward plötzlich kleinlaut. »Bleibe hier«, so bat er Nino. »Bleib’ bei der kleinen Linda.«

Dann gingen sie.

· · ·

Es war ein schweres Wetter. Der Himmel ergoß sich tief glühend, wie ein Feuerstrom aus geschmolzenen Weltkörpern. Die Nacht der engen Gassen war gesprenkelt von Farbenflecken: schaukelnden Ketten bunt durchleuchteter Papierbälle und umhergeschwenkten Reihen von Mädchen in blauen Tüchern und gelben und rosig gestreiften. Das Volk feierte seinen Heiligen. Es trieb hin und wieder, durch den Dunst schmorenden Ols, inmitten von weinseligem Lachen, verliebten Lockungen, von Harmonikaweisen die lange plärrten, und dem der Mandoline keck entsprungenen Lied.

Die drei durcheilten das Fest und dachten an den Sterbenden.

Clelia empörte sich: »Ich will nicht. Ich soll den Maler und den Geliebten verlieren, beide auf einmal. Ich werde mich wehren, ich werde böse, abscheulich böse sein.« Und sie grübelte, in Wut verbissen, darüber nach – gegen wen.

Jakobus rannte vor Ungeduld. »Dieser Alte ist unausstehlich. Mit welchem Recht stirbt er und stört mich. Endlich soll ich sie bekommen, die Frau, die ich mir so mühevoll verdient habe; wie darf vorher etwas anderes geschehen! … Und sie hat Angst – wie ich.«

Sie fragte sich: »Warum fürchte ich diesen Toten? Wer war er? Einer im Tempel der Göttin! Gewiß, er schwärmte nicht, scheu und selig wie Gina; er hängte nicht schwere Kränze auf, er verbrannte keine duftenden Kräuter und holte keinen Klang aus großen, goldenen Leiern, wie ich es tun möchte. Er war der herrschsüchtige und geizige Priester, der hinter dem mit Eulen bestickten Vorhange die Goldstücke zählt. Er zerbrach die Arbeiter, er quälte aus ihnen heraus die letzte Kraft. Was hat er an Properzia getan! Dennoch ist mir’s jetzt, als ließe er mich einsam und so gefährdet zurück, wie damals Properzia mich ließ. Ich bleibe allein mit eitlen Gaffern wie Mortœil, mit Lady Olympia, der umherstreichenden Unkeuschen, mit Siebelind, dem Feinde des Lichts. San Bacco erscheint als Gast; er ist von allen Taten heimgekehrt und versteht zu verehren. Aber Nino, der Knabe, mag noch nicht anbeten; es drängt ihn erst hinaus zu allen Taten … Und ich selbst, ich fühle etwas in mir, etwas Heißes und Unerbittliches, das mich fort aus der feierlichen Halle und hinunterdrängt über die hohen Stufen, an denen die Brandung des weihelosen Volkes sich bricht. Ich verschwinde schon in ihm, ich bin schon verloren.«

Sie erschrak, mitten in ihrer Träumerei, über die sinnlose Menge, die um sie her taumelte und sich stieß. Sie bestiegen den Dampfer und fuhren bis Cà d’oro. Wie sie in das Gäßchen einbogen zur Seite des Palazzo Dolan, kamen ihnen drei junge Dirnen entgegen. Drei Bursche beugten von hinten die geröteten Gesichter über die kupferblonden Haarknoten und fangen, dicht an den goldigen Hälsen, mit schallenden Stimmen etwas Zärtliches, das zu lachen gab. Eines der Mädchen hielt eine Rose zwischen den Lippen. Sie drehte sich plötzlich um nach dem Werbenden hinter ihr und warf ihm, mit ihren Lippen, die Rose gerade auf den Mund. Die Herzogin sah es, indes sie in das Portal trat.

Am Fuß der Treppe drängte die Dienerschaft des Hauses sich in einem Haufen. Sie fuhren zusammen beim Anblick ihrer Herrin.

»Was ist geschehen?« fragte Clelia.

Die Leute stießen einander an, wanden sich, stotterten.

»Gioacchino, du hast einen zerrissenen Rock … Deine Kleider sind ganz naß, Daniele.«

Ein kleiner, geschniegelter Mann hüpfte selbstbewußt herunter zwischen den großartigen und leeren Marmorgeländern.

»Contessa, ich grüße Sie. Sie kommen rechtzeitig.«

»Doktor, wie ist es mit meinem Vater?«

»Es geht ihm gut, Contessa.«

»Er wird leben?«

»Beruhigen Sie sich«, meinte der Arzt leichthin. »Er wird zwar nicht leben, aber im Schlafe hinübergehn … Ah, so …«

Er unterbrach sich.

»Der Anblick der Leute setzt Sie in Erstaunen. Es ist nichts. Wir haben soeben eine kleine Feuersbrunst gehabt, im Zimmer des Kranken … Mein Gott ja, es muß in einem Augenblick des unerklärlichen Auflebens seiner Kräfte geschehen sein … Ich war eben abwesend. Der Graf hat das Bett verlassen, ich frage mich, wie? An die Bilder auf den hohen Gestellen bei seinem Bett, an die hundertjährigen Meisterwerke hat er Feuer gelegt, mit Hilfe eines gewöhnlichen Ölkännchens. Diese alten, trockenen Rähmen, diese ausgedörrten Pergamene, alles das flackerte auf wie Stroh. Ich kam im rechten Augenblick dazu und rief die Dienerschaft. Ich bin glücklich, Contessa, Ihrem Hause einen Dienst geleistet zu haben. Ein paar Terrakotten sind immerhin zersprungen, ein paar Bilder sind verbrannt …«

»Mein Vater?«

»Der Graf lag am Boden und blies in die Flammen. Sein Hemd fing gerade Feuer. Beruhigen Sie sich, Contessa, es ist nichts geschehen; es ist gerade wie zuvor. Es ist meiner Kunst gelungen, den Grafen am Leben zu erhalten, wenigstens für die nächste halbe Stunde. Wir haben nichts zu fürchten für die nächste halbe Stunde – oder fast nichts: weiß man jemals? Ich muß jetzt zu einer wichtigen Verabredung, komme aber sofort zurück. So viele Komplimente, Contessa.«

Sie stiegen hinauf. Der Sterbende lag mitten im größten Saal, mit dem Kopf nach dem Eingang, hinter Kissen versteckt. Von hohen Staffelbauten aus Ebenholz und Bronze, die zusammengebrochen waren, floß ein breiter Schwall verjährter Kostbarkeiten bis vor das Bett. Die Rähmen waren geschwärzt und geborsten, angesengte Leinwandfetzen rollten sich zusammen. Es roch nach verbrannten Lumpen. Eine Niobe reckte, mitten aus aller Zerstörung, klagende Arme hervor. Die Herzogin erkannte in dem durchlöcherten Bilde, worin die Füße der Statue standen, ihr eigenes Porträt. Sie trat auf Farbensplitter und sagte sich, daß hier die Schönheit und die Größe drei- oder vierhundert Jahre gelebt habe – um zu ihren Füßen zu enden.

»Warum ließ man das zu?« fragte sie gereizt. »Warum blieb er allein?«

»Mein Mann«, sagte Clelia weinerlich, »er wird ausgegangen sein. Es verstimmt ihn, wissen Sie, wenn jemand stirbt.«

»Soll man das Bett in ein anderes Zimmer tragen?«

»Ach wozu.«

Sie schüttelte den Kopf, die Schultern ein wenig nach vorn gezogen.

»Arme Frau«, murmelte Jakobus, in peinlicher Ungewißheit, wie er sich zu verhalten habe.

»Wie ist er bleich!« äußerte die Herzogin. Sie entdeckte es auf einmal.

»Da er ja sterben soll …« meinte Jakobus, die Hände in den Taschen.

Sie trat vor das Bett, sie sagte eindringlich:

»Ihre Tochter ist da. Conte Dolan, hören Sie? Ihre Tochter. Auch wir andern. Sehen Sie mich?«

»Unnötig«, versetzte Jakobus, und stellte sich auf die andere Seite. »Er erkennt niemand. Sehen Sie nicht, daß er nur noch einen Gedanken hat?«

Sie sah es. Der allerletzte Rest dieses fast versiegten Lebens ergoß sich in eine einzige Anstrengung: noch einmal hinaus aus den Hüllen, wo es zu sterben galt. Die Hände arbeiteten, der Kopf hastete in winzigen Rucken, hoffnungslos und ohne Rast, dem Rande der Kissen zu. Seine Haut war weiß wie Papier. In den schmerzlichen Gräben zwischen den entfleischten Wangenmuskeln und dem riesigen und harten Haken der Nase zuckte es regelmäßig und rasch. Die Lider schoben manchmal ihre schweren Falten ineinander, der erloschene Blick suchte etwas, im Fieber der gewährten Sekunde.

»Clelia, geben Sie sie ihm doch!« bat die Herzogin.

Es war jene römische Büste, die Properzia nur Einem schenken mochte – ihre liebe Faustina, sie, die Dolan ihre Seele genannt und die er sich endgültig erobert hatte, damals als die große Unglückliche starb.

Seine Tochter stellte sie auf den Bettrand. »Kennst du mich, Papa?« fragte sie. Seine gekrampften Finger begannen alsbald an dem Steine zu kratzen und zu zerren, und sie zu würgen an ihrem armen entstellten Halse – die auserlesene und hingeopferte Seele, mit der auch er einst gerungen hatte, in den Tagen seiner Kraft.

»Welche Grausamkeiten, unerhört und irrselig, geschehen nun in diesem Schädel?« so fragte sich die Herzogin. »Und er ist doch selber fast schon vergangen in die steinernen Ewigkeiten, denen die liebe Faustina gehört.«

Schließlich entsank dem Ohnmächtigen der Stein. Clelia weinte zornige Tränen; ihr ausatmender Vater hatte sie nicht beachtet. Sie machte mit den Schultern eine Bewegung, als würfe sie alles hinter sich, und verließ rasch den Saal.

Die Herzogin deutete auf die Trümmer ringsumher und dann auf den Greis.

»Auch das war eine Leidenschaft«, sagte sie, wehmütig und stolz.

»Was ist da zu bedauern«, entgegnete er hart. »Es gibt Wichtigeres.«

Er wanderte umher, tief beunruhigt, in sich hineinhorchend. Plötzlich blieb er stehen; es war ihm, als sehe er sie zum ersten Male.

»Das ist ja erstaunlich! So zum Erschrecken schön war sie niemals; nie von so verzehrender und so fruchtbarer Schönheit. Das ist das Leben in Wollust, das ich malen will: das ist Venus, die ich in ihr vorausahne, und die mir gehört! O, jetzt gibt es keinen Zweifel mehr … Und ihre Kraft wächst an diesem Sterbebett! Sehe ich nicht ihre Lippen sich höher röten? Es ist, als hätte der abgelebte Leib hier vor uns sich schon geöffnet und Tausende neuer, namenloser Keime ausgeschüttet – der Kreislauf sei schon vollendet, und das heiße Leben schlüge nun, wie dieser Gewesene es vielleicht kannte, uns beiden ins Gesicht. Ja, auch ich fühle es: wie ein Jungbrunnen sprüht es aus der Maske des Todes, empor zu uns, in unsere Augen und Münder, und erfüllt uns mit etwas Berauschendem. Sie wird nicht leugnen, daß es Liebe ist!«

»Herzogin!« sagte er leise und fast herrisch.

»Ich weiß schon«, sagte sie, ihm gegenüber, und atmete schwer auf. Sie hatten beide gleichzeitig den Ruck gespürt, der sie aufheben wollte über das Bett und den Sterbenden fort, in einem Taumel, einander an die Brust. Sie klammerten sich jeder an einen Bettpfosten, und sie sahen sich an, im unruhigen Schein der einzigen Kerze, blaß und mit einem unbewußten Lächeln.

»Sie gehören mir«, begann er wieder. »Sie sind ja die Venus.«

Er stemmte die Hände auf das Bett und starrte sie an, über seine Brillenränder hinweg. Sein Bart zerdrückte sich, schon etwas grau, auf der Brust. Er trug noch sein samtenes Wams mit der weißen Krause. Der Mantel, worin er es verborgen hatte, hing starr und schwarz von den Schultern.

»Die Venus?«

»Wie ich’s Ihnen vorhergesagt habe … Hatte ich nicht auch Minerva in Ihnen erkannt, bevor Sie’s waren? Ihre Schönheit war damals bestimmt, immer kühler zu werden. Die Luft um Sie her schimmerte silbern, Sie schmiegten sich an Marmor und verschwanden unter Statuen. Heute beunruhigen Sie den Marmor, auf den Sie sich stützen. Sie teilen ihm ein seltsames Fieber mit. Betrachten Sie doch das zerrissene Bild dort …«

»Sie wünschen mich so, Freund. Meine Bilder sind Ihre Wünsche.«

»Gewiß. Jedes Ihrer Bilder ist nur ein Wunsch. Sättigen Sie mich endlich, dann kommt das Meisterwerk. Denn, Herzogin …«

Er sagte mit erhobener Stimme und feierlich:

»Sie sind verpflichtet, mir das Meisterwerk zu geben. Es ist mir ehemals beschieden gewesen, die Pallas nochmals zu erträumen, die vor vierhundert Jahren einer gemalt hätte. Jetzt will ich die nie gesehene Venus machen. Von meiner Pallas haben Sie gelebt, diese ganzen sieben Jahre. Sie haben das Opfer meiner Kunst und meines Lebens entgegengenommen – ich erinnere Sie immer an dieselben Dinge. Jetzt geben Sie mir die Venus, die Sie sind: geben Sie mir sich

Er besann sich und unterdrückte seine Aufregung. Ruhig, mit Hochmut, setzte er hinzu:

»Was bitte ich Sie viel. Es ist ja ohnehin Ihr Schicksal.«

»Kann sein«, erwiderte sie. »Dann überlassen Sie mich ihm und warten Sie.«

»Ach warten, warten – wenn wir doch schon längst alles wissen und einig sind.«

»Sie sind wie ein Kind, Sie werden rot vor Rechthaberei und Ungeduld. Sie nennen das Liebe? Ich lasse Sie reden, weil Sie ein Kind sind.«

»Hinter Ihnen das Bild!« stieß er hervor. »Es redet kühner als ich. Schauen Sie’s an, bitte. Die Niobe steht mit den Füßen drin: wie schade. Vorigen September hab’ ich die Skizze gemacht, in Ihrer Villa. Es sollte eine kunstliebende große Dame sein in ihrem Park: ein Repräsentationsbild. Ich schwöre Ihnen, daß ich nichts weiter wollte. Kürzlich hab’ ich’s ausgeführt. Und nun? In den waldigen Hintergrund, wo das Laub in schwerem Schweigen gelb wird, ist inzwischen etwas Atemloses, Begieriges geraten. Sie stehen in großer Toilette, den gestickten Kragen aufrecht im Nacken, vor einer Marmorbalustrade. Der Marmor lebt, Sie merken das doch? Sie legen Ihren nackten Arm auf den Sockel, und unter Ihrer geäderten Hand, die schmal und fingernd an seiner Flanke herabhängt, färben sich auch die Adern des Steines dunkler und scheinen zu schwellen. Was ist das? Die Vase zu Ihren Häupten wölbt sich und will empfangen, der Tanz der Frauen auf ihrer Rundung atmet heißer … Und Sie selbst, Herzogin – Ihre Robe taumelt in weichen, müden und verlangenden Falten; Ihre Augen sind halb geschlossen, beinahe blind vor Sehnsucht; die eine Ihrer dunkeln weichen Lippen küßt die andere. Ein paar rote Blätter liegen Ihnen vor den Füßen. In dem Wasser drunten am Gehölz bluten ein paar rote Lichter. Ich habe vergessen, woher sie kamen. Was sagt dieser schwere, verhalten keuchende Herbst? Was sagen Sie, Herzogin? Ich weiß es nicht. Ich, der ich Ihnen noch an jedes Wasser und zu jedem Stück Glas gefolgt bin und jedes Ihrer Spiegelbilder aufgefangen habe, ich weiß es nicht. Ich habe es gemalt.«

»Sie wußten es noch eben«, sagte sie leise. Er erwiderte ebenso:

»Und Sie wissen es auch.«

»Mag sein … Aber ich merke auch, daß wir uns zu sehr erhitzt haben. Und zwischen uns liegt einer …«

»Der schon ziemlich kalt ist«, ergänzte Jakobus, grausam auflachend.

Es schauderte ihr.

»Clelia!« rief sie. Sie wendete den Kopf; ihr Haar war vom Kerzenlicht rotgolden eingesponnen; ihr Profil war ins Dunkel gerichtet, weiß und steinern.

»Clelia, Ihr Vater …«

Der Vorhang schlug einmal hin und her; aber die Schritte der Fliehenden hörte niemand. Clelia lief in ihr Zimmer; sie verschloß die Tür, sie warf sich auf das Ruhebett und drückte das Gesicht fest in das Kissen. Es quoll ihr in den Mund, ein Knebel aus Seide. Ihre Nägel zerrissen es. Auf einmal erhob sie den Kopf, keuchend, und betrachtete sich im Spiegel. »Ich sehe schon bläulich aus«, sagte sie. »Fast wäre es mir gelungen, ich könnte schon tot sein – vielleicht noch vor Ihm, der mir keinen Blick gegönnt hat. Warum sind eigentlich alle mir feindlich geworden?«

Sie weinte, und sah im Spiegel ihre Tränen rinnen.

»Gut, sie sollen es haben«, beschloß sie endlich. Sie setzte sich hin, zerbiß ein Spitzentuch und starrte, vergrämt und böse, aus dem Fenster.

»Früher haben sie mich süß und gütig finden wollen: ich habe ihnen den Gefallen getan. Jetzt sollen sie merken, daß es mir nur aufs Herrschen ankommt. Welch ein Genuß, ihnen zu zeigen, daß ich gar nicht so gut war, wie sie meinten – mein eigenes Bild zu zerstören! … Er hat mich niemals geliebt, ich weiß es, und es ist mir gleichgültig. Und die unbändigen Schöpfungen, die ich aus seinem Genie herauszerren wollte, auf die habe ich schon längst verzichtet. Es ist nun gerade meine Genugtuung daß er mit mir zusammen versandet ist, er, der so viel verhieß … Und jetzt will er sich erheben, und ich soll liegen bleiben? Das Meisterwerk, das ich ihm nicht entringen konnte, das genießt jetzt diese andere? Ich werde dafür sorgen, daß das nicht geschieht. Ob sie sich lieben oder nicht – ich bin keine gebeugte Verlassene. Aber er soll auch als ihr Geliebter der Damenmaler im Provinzwinkel bleiben, der er zu meiner Zeit war. Das ist mein Ehrgeiz, und ich denke ihm Genüge zu tun.«

Darauf verfaßte sie einen Brief an Frau Bettina Halm in Wien.

»Ihr Mann ist in Intriguen verwickelt, die seine Gesundheit bedrohen und möglichenfalls sein Leben. Sie lieben ihn, ich weiß es, darum rate ich Ihnen als Verehrerin seines Talentes: Kommen Sie, wohnen Sie bei mir. Ich berichte Ihnen mündlich von den gefährlichen Lockungen, denen er, der sinnliche Künstler, leider nicht widerstehen konnte. Die andern Liebhaber der Dame gehen daran sich zu rächen, vor allen der gefährliche Duellant San Bacco …«

Sie zerriß den Brief.

»So etwas schreibt man nicht. Übrigens wird diese Gattin eine eitle Gans sein, die sich in Gesellschaft mit seinem Genie aufputzt.«

Endlich entwarf sie eine Depesche.

»Ruhe und Arbeitskraft Ihres Mannes sind gefährdet, kommen Sie sofort.«

· · ·

Gina litt, einsam in ihrem Zimmer, unter den schwülen Dämpfen, die lange Tage hin und herstiegen zwischen Himmel und Meer. Am ersten blauen Abend entführte die Herzogin ihre Freundin auf die Lagune, in einer schlanken braunen Gondel ohne Haken und ohne Felze. Die beiden Gondoliere waren frisch gekleidet, in Anzug und Mütze aus weißer Seide. Sie trugen Schuhe von gelbem levantiner Leder mit dicken Quasten, und um den Leib eine blauseidene Schärpe mit silbernen Fransen. Es wehte lind, eine rosig beleuchtete Wolke stand über der Punta di Salute.

»Wie süß, arglos und voll kann das Leben sein!« sagte Gina. »Am Morgen in der Nähe eines geliebten Bildes weilen zu dürfen oder bei einem Monument, das uns stolz und glücklich macht, als verherrlichte es uns selber; am Nachmittage dort drüben im Garten zu ruhen, wo verwitterte Statuen die dunkeln Lauben mit Fabelspielen schmücken; tief den Meerwind einzuatmen, und dann zurückzufahren durch die blaue, sonnige Lagune, die fröhliche Riva entlang; in einer Gondel ein schönes Gesicht aufblühen zu sehen wie ein unverdientes Wunder, und bei jeder Wendung des Kopfes die glänzende Piazzetta wiederzufinden, rosig und weiß hinter bunten Segeln – wie ein Traum – ein Traum …«

Sie schwieg; ihre Augen sannen, »ein Traum«, wiederholte sie, und durchkostete das Wort, als hätte sie es eben neu erschaffen. Die Herzogin dachte:

»Ja, das ist das Beste, was ich in der Welt kenne. Und dennoch langweilt es mich.«

Gina sprach weiter:

»Dann bricht die Sternennacht an. Der Säulenportikus der alten Dogana steht verflimmernd weißlich, geisterhaft in seinem dunkeln Spiegel. Ein Kriegsschiff wirft eine Reihe langer Lichter ins Wasser, und der schwarze Schattenriß einer Gondel, mit weißen Ruderern darauf, die taktmäßig nach vorn fallen, gleitet stumm durch den glühenden See. Die Gondeln irren langsam und lautlos durcheinander in der Finsternis. Eine Mandoline wirft uns aus der feuchten Ferne eine Melodie zu, wie eine Kette kleiner blasser Korallen. Dann stimmt neben uns auf dem Wasser einer ein Volkslied an …«

»Er hat diese ganze Poesie irgend einem Fremden verkauft, für wenige Lire«, sagte die Herzogin, und lächelte, als entschuldigte sie ihre Worte.

»Was geht’s mich an«, erwiderte Gina, »daß er ein gewöhnlicher Poesieverkäufer ist? Ich will gar nichts von ihm, ich empfange einfach die Töne, die nicht mehr ihm, die schon der Nacht gehören. In ihrem Schoße, tief in meiner Gondel liege ich und schließe die Augen. Ich will gar nichts mehr von den Menschen als ein paar verlorene Töne, deren Süßigkeit sie selbst nicht kennen, will gar nichts mehr als ein heimliches Gefühl – ich habe früher so sehr gedarbt.«

»Ich will kein Gefühl in Liedern. Ich zucke befremdet die Achseln, so oft einer mich mit Versen rühren möchte. Ich finde ihn zudringlich. Meine Dichter sind klare Meister des Worts; sie verschmähen die kleinen weinerlichen Menschlichkeiten. Sie sind stolz auf ihr Herz, das Vollendetem schlägt. Ihre Verse geben, wenn wir sie aussprechen, einen Klang, als fielen bronzene Münzen nieder auf Marmor. Sie haben ihre untadeligen Stanzen und Sonette in diese engen und von Kunst berstenden Plätze eingelassen als Reliefs, schwellend von Bildern und streng.«

»Und doch haben wir, wenn wir sie zusammen lasen, manchmal geweint.«

»Nur die Übermacht ihrer Schönheit hat uns Tränen entlockt … Ich denke daran, wir saßen auf steilen, purpurnen und vergoldeten Bänken, im harten Licht hoher Porphyrbögen, und wir lasen Gedichte, in denen Königsmäntel blutig rauschten und eherne Posaunenklänge die Tempelstufen hinanrollten.

Und auf blassen, weichen Polstern lagen wir«, so fuhr Gina fort – »verwischte Blätterschatten glitten über flüchtige Seiden, schwachlila und zage, und unter dicht verhängten Fenstern sagten wir uns müde, gestammelte Verse, Verse, in denen ein kranker Liebhaber bittet, und von entlaubten Bäumen leise Federn zögernd aus verlassenen Nestern schaukeln … Venus und Amor waren in einem Oval aus Elfenbein auf dem Buchdeckel … Aber manchmal ward es schaurig; wir lasen uns in Schlösser hinein voll Erinnerungen an üble Größe. Die Frauen lächelten, rote Male an den Hälsen, und draußen, über die schwarze Waldmauer, rasten die Schatten unholder Abenteuer. Neben uns, aus schweren Leuchtern mit bronzenen Postamenten voller Ungeheuer und Schlachten, stieg das bleiche Licht, wie aus den Ängsten einer Traumnacht.«

»In diesen Versen«, so schloß die Herzogin, »sind die Madonnen wieder, was sie zu ihren Tagen waren: die bis in den Himmel hinauf Geliebten. Und die Engel haben sie zurück, die unsägliche Grazie ihres allerersten Augenaufschlags.«

Nach einer Weile flüsterte Gina:

»Die lieben, lieben Kunstwerke …«

Sie brach ab, sie atmete mühsam.

»Die Luft ist schon wieder schwer geworden. Wie die Wolken sich verfinstern, und die Lagune alle Farbe verliert! Ich bin sehr traurig.«

»Warum, Gina?«

»Ich muß Venedig verlassen, um für mein Kind noch ein wenig zu leben. Diese schöne Stadt tötet mich – es wäre ein zu glücklicher Tod, hier inmitten der Tröstungen meiner lieben, lieben Kunstwerke. Ah! Sie sind gütig und treu, sie bedrücken den Schüchternen nicht. Vor den Vergewaltigungen durch Menschen bin ich zu ihnen geflüchtet, die so feierlich zu mir sprechen, und dabei so innig. Ich verschwinde in ihnen, ich vergesse den Menschen, der ich war, und wie mißhandelt und entwürdigt er von andern Menschen war – und es bleibt von mir nichts übrig als das Gefühl, erwärmt im Sonnenschein der Bilder.«

»Ich aber«, sagte die Herzogin, »ich werde erst ganz Ich im Umgang mit den Bildern! Nur sie sind meinesgleichen, nur bei ihnen genieße ich meinen ganzen Stolz und die Liebe, deren ich fähig bin. Ich habe, seit sie mich zu ihrer Freundin machten, voller, verschwenderischer, mutiger gelebt als früher, da ich Staaten umwerfen wollte und tausend Menschen für mich sterben ließ.«

»Leben?« flüsterte Gina. »Ich will es ja vergessen, das Leben.«

»Ich nicht. Mein Kunstgenuß ist kein Verzicht, Ich bin zu Gaste bei den schönen Werken; denn sie geben mir Rausch und Macht.«

»Und wenn sie es einmal nicht mehr tun?«

Gina verfolgte mit angstvoller Miene das Heraufziehen des Gewitters. Venedig lag, ein kreideweißer Streif, gespenstig zwischen dem schwarzen Himmel und der fahlblauen Lagune.

»Dann«, erwiderte die Herzogin, und warf den Kopf zurück, »dann gehe ich weiter.«

· · ·

Clelia kam in großer Trauer, die sie verjüngte. Unter dem dichten Schleier glitzerte ihr Haar golden wie ein versenkter Schatz. Sie brachte Frau Bettina Halm mit. Die Herzogin saß am Brunnen im Saal der Minerva.

»Die Damen kennen sich also schon von früher?«

»Bettina ist meine Freundin, wie ihr Mann mein Freund ist«, erklärte Clelia. »Ich habe sie eingeladen.«

»Sie wohnen nicht bei Ihrem Gatten, gnädige Frau?«

»O, nein.«

»Haben Sie ihn gesehen?«

»Wir waren heute zusammen bei ihm«, sagte Frau Halm, und ließ ihren Blick ganz plötzlich in den Schoß fallen. Dabei lächelte sie leer und ängstlich. Sie setzte die Herzogin in Erstaunen. Dieser fleckige, blaßäugige Kopf mit dünnem, flachsigem Haar krönte eine große Gestalt, volle Schultern und eine starke Büste; und er allein schien abgemagert aus Kummer über die eigene Häßlichkeit.

Die Herzogin dachte:

»Die arme Frau, unschön und einfältig! Sie läßt sich von Clelia benutzen. Und Gattin und Geliebte, beide gegen mich verbündet, haben es kaum gewagt, vor Jakobus hinzutreten. Die armen Frauen! … Ich werde ihnen etwas Liebenswürdiges sagen.«

Clelia empfing es kühl, Bettina dankbar. Dann ward das einförmige Gespräch unterbrochen durch das Erscheinen Ginas mit ihrem Sohne. Frau von Mortœil zog sich mit ihnen zurück, Sogleich beugte Frau Halm sich ein wenig vor; sie sagte vertraulich und leise.

»Sie glaubt mich zu täuschen. Sie ist sehr unbedeutend, die Arme. Verzeihen Sie diese Komödie, Herzogin!«

»Ich glaube zu wissen, welche Komödie Sie meinen. Aber erklären Sie mir doch.«

»Sie hat mich glauben machen wollen, mein Mann stehe in Gefahr. Sie brächten ihm Gefahr … Seien Sie nicht gekränkt, es ist ja eine törichte Lüge.«

»So sind Sie nicht ihre Freundin?«

»Wie könnte ich! Er hat mir ja geschrieben, daß sie ihn quält!«

»Er schreibt Ihnen?«

»Allerdings!«

Sie drängte die Schultern nach hinten und machte ein erstaunlich eitles Gesicht. Der Kopf geriet ins Zittern vor Anstrengung. Sie hielt ihren Blick krampfhaft fest in den Augen der Herzogin, aber plötzlich entwischte er ihr, jagte davon im Zickzack, scheu und verstört, wie bei einer Überrumpelung – bis er wieder in ihrem Schoße anlangte. Als sie sich erholt hatte, sagte sie:

»Sie glauben wohl, er behandele mich schlecht? O, ich soll Ihnen weismachen, er sei selbstsüchtig. Die Andere wünscht es; sie ist leicht zu durchschauen, nicht wahr? Ich durchschaue alles, ich bin nicht dumm … Überdies, wie gesagt, schreibt Jakobus mir. Oftmals wenn sein Herz in Not ist, fragt er mich um Rat.«

»Das tut er?«

»Weiß er doch, daß niemand ihn so liebt wie ich, so – wunschlos.«

Sie seufzte.

»Zum Beispiel«, so fuhr sie lebhaft fort, »da, diesen Saal kenne ich ganz genau: es ist der Saal der Minerva. Er hat ihn mir eines Tages beschrieben, aus einem gewissen Anlaß. Sie, Herzogin, haben hier während Ihres ersten Festabends gesessen, an der Stelle, die Sie gerade jetzt einnehmen, und er ist vor Ihnen auf und abgegangen. Auch Properzia Ponti saß am Brunnen und noch eine. Diese dritte reizte ihn und nahm ihn sich, trotz seines Zornes. Seit dem Abend liebt er Sie, Herzogin, Sie wissen es ja. Es sind nun sieben Jahre, nicht wahr?«

Mit leichten Gesten ihrer starken Arme sprach sie wie über einen ganz geläufigen Gegenstand, und ein förmliches Lächeln, das selbstverständliche Dinge zu bestätigen schien, wich nicht aus ihrer Miene.

»Mein Gott! Sieben Jahre! … Sieben Jahre lang ein Ideal gewesen zu sein, eine Unerreichbare. Sie verstehen es, Herzogin, wenn ich Sie beneide. In diesem Sinne! Die andere – Sie wissen welche – die beneide ich nicht: ich verachte sie zu sehr. Eine lästige Geliebte ist viel verächtlicher als eine ungeliebte Gattin: sind Sie nicht auch der Meinung?« fragte sie bittend.

»Ich glaube«, sagte die Herzogin. Und plötzlich fielen Fesseln von Bettina. Leidenschaftlich, die Hand auf dem Herzen, flüsterte sie:

»Wie glücklich sind Sie, die Sie am selben Orte leben wie er, ihn täglich sehen dürfen. O glücklich, mehr als ich fassen kann. Nicht wahr, er ist ein großer Künstler?«

Die Herzogin vernahm den Schrei einer inbrünstigen Überzeugung. Ehrfürchtig fast erwiderte sie »Ja.«

Geheimnisvoll wisperte darauf Bettina:

»Aber er hat noch nicht sein Höchstes geschaffen. Nur eine Frau könnte es aus ihm hervorzaubern. O, nicht jene Andere. Sie hat schönes Haar, das ist viel – sehr viel. Wenn ich ihr Haar hätte! Ach, ich bin nicht schön … Aber sie ist kalt und unbedeutend. Sie glaubt mich täuschen zu können. Eine Frau, die so liebt wie ich, täuschen zu wollen: schon das zeigt, wie unbedeutend sie ist. Er duldet sie – wegen ihres Haares, und auch weil er nicht weiß wie sie loswerden. Sie ist ja nicht seine Frau. O, mit mir war es anders. Mich war er schnell los … Wenn ich ihr Haar hätte! Nein, ich brauche es nicht: Wenn ich Ihres hätte, Herzogin. Und Ihren Geist: All’ ihre Schönheit! Wie sollte er groß werden! Ich würde dann sicherlich wissen, was er schaffen sollte, um größer zu werden als alle. Jetzt weiß ich’s ja nicht, ich Arme. Und wenn ich es wüßte, ich dürfte es ihn nicht sagen: bin ich doch häßlich. O, wäre ich schön!«

Sie weinte fast. Sie hielt die Hände gefaltet auf den Knien und den Kopf gesenkt.

»Es ist eine überanstrengte Seele«, dachte die Herzogin, gerührt und beängstigt. »Was soll ich ihr sagen?«

»Er wird noch einmal erkennen, was Liebe wert ist«, äußerte sie. Bettina sah auf.

»Glauben Sie?« fragte sie bitter, und die Herzogin hörte die ganze Qual, mit der die Arme ihren Zweifel bezahlte, den Zweifel an ihrem Gotte.

Clelia kehrte zurück, mit Gina und Nino. Bettina fuhr empor, ihre Blicke flogen haltlos im Saale umher. Sie begann ein eiliges Geplauder, mit eleganten Gebärden und kleinen albernen Lachanfällen.

In der Nacht erwachte die Herzogin mit dem Gedanken:

»Ich muß fort aus Venedig, wie Gina. Warum lasse ich mir Unlust und Sorgen machen. Draußen warten unberechenbare Weiten voll neuen, freien Lebens. Keine Forderungen verfolgen mich dort, keine Pflichten gegen abgetane Heiligtümer. Ich will als eine Unbekannte über Land fahren. Keiner soll auf den Gedanken verfallen, mich mit seinen Leiden herabzustimmen oder mich zu beunruhigen mit seinen Begierden.«

Am Morgen besann sie sich auf diesen Einfall, und er überraschte sie.

»Bettina hat mir zu denken gegeben. Weil er ihr schreibt, weil er ihr armes, irres Herz noch mehr verstört mit allen Abenteuern seiner Sinne, darum dankt sie ihm und leugnet seine Selbstsucht. Ach, ich kenne seine Selbstsucht erst ganz, seit ich Bettina kenne. Sie hat ihm sehr geschadet. Den Anblick dieser Frau werden alle seine Werbungen mich nicht vergessen machen.«

Schließlich sagte sie sich:

»Und wenn sie mich nicht ängstigte, so wäre doch ihr Unglück mir heilig. Ich werde ihn niemals erhören, den Mann der Frau, die so leidet.«

· · ·

San Bacco trug nur noch ein Pflaster auf der Wange. Die Herzogin feierte seine Genesung, und auch sein Gegner kam. Mortœil behielt, um sich seinen Sieg über den alten Kämpen verzeihen zu lassen, den Arm in der Binde, obwohl seine kleine Beschädigung längst vernarbt war. San Bacco war bewegt; er ging ihm entgegen und umarmte ihn. Bei Tafel nahm er ihn an seine Seite. Er selbst saß links von der Herzogin, die zu ihrer Rechten den Herrn von Siebelind hatte. Neben ihm wartete ein Platz.

»Lady Olympia kommt«, erklärte er, »sie kommt bestimmt. Ich bin ja in ihrer Gondel hergefahren. Ich habe sie bei Mistreß Lewis verlassen. Sie mußte noch zur Contessa Albola, zur Signora Amelia Campobasso …«

»Hat sie von Ihnen verlangt, daß Sie die Liste auswendig lernen?« fragte Jacobus über den Tisch hinweg.

»Ich habe sie ihr sogar selbst gemacht«, schnarrte Siebelind. »Heute früh, als wir von Chioggia zurückkamen … Wenn Sie, Verehrtester, etwa zweiflerisch gestimmt sind …«

»Nicht zweiflerisch, nur neidisch.«

»Und das mit Recht.«

»Sie lachten sich ins Gesicht. Siebelind feixte vor Glück, Jakobus war erregt und benahm sich geräuschvoll. So oft er an seiner Frau vorbeisah, schlug sie aus Folgsamkeit ein kindisches Gelächter auf. Clelia, die für diesen Abend ihre Trauer abgelegt hatte, nahm wahr, wie kühl die Herzogin ihn behandelte, und sie beherrschte sich nicht mehr vor Freude. Nino saß stumm am Tischende neben der kleinen ernsthaften Linda im Prachtkleide. Gina lächelte.

Man speiste in der Halle, inmitten der gemalten Feste. An Galerien und Treppen vorbei erhob sie sich bis unter das gläserne Dach. Es war geöffnet; Schwalben blitzten durch ein dunkelwogendes Blau. Es hing herein, schwer zum herabsinken: ein Baldachin, der alle begrub unter Glanz und Triumph.

Siebelinds Ausgelassenheit riß die einen hin und die andern machte sie verstummen.

Meinen Morgen habe ich ganz und gar beim Chemisier verbracht – und bloß wegen dieses Hemdkragens. Sie glauben nicht, wie ich eitel bin. Eine Krawatte, die meine Gesichtsfarbe um eine Schattierung gesünder macht, beschäftigt mich stundenlang.«

»Sie Geistesmensch.«

»Die Glücklichen haben keinen Geist, sie pfeifen drauf. Der Daffrizzi hat mir selber die Kragen anprobiert. Er hat Angst geschwitzt bei dem heiklen Kunden. Schließlich hat er gelächelt.«

»Sie haben ihn dafür geohrfeigt?«

»Ich habe ihm die Hand geschüttelt. Ich bin ja ein Glücklicher. Ach, hören Sie, da war in Chioggia gestern ein Esel mit Maitrieben …«

Und er ahmte das Geschrei nach.

»Sie muß übrigens im nächsten Augenblick da sein«, versicherte er unvermittelt, und sah den andern nach der Reihe in die Augen. Sie waren alle voll lächelnder Hochachtung. Seine eigenen blinzelten nicht mehr; sie musterten alles von oben, sie, die sonst von unten spähten. Ihre Lider, rot gerändert von den Anstrengungen der Nacht, standen aufgerissen. Er verschränkte die Arme, mit den hageren und geröteten Gelenken, tief über dem Magen. Er reckte sich, um seine hohle Gestalt stand wie aus Holz der Frack, und er trug den Kopf stolz gescheitelt und hoch. Verwirrende Schicksale hatten Siebelind, allen unerwartet, emporgeschnellt zu hektischem Selbstbewußtsein.

»So sieht das Liebesglück aus«, sagte sich die Herzogin. Er zog sie unheimlich an.

»Also in Chioggia waren Sie?«

»In Chioggia, Herzogin!«

»Seit wann?«

»Seit gestern früh!«

Sie sah ihn strahlen. Ein wenig Fettschminke und einige Kohlenstriche unterstützten seinen Glanz. Sie verschafften der Nase eine vergängliche Biegung und erkünstelten den Wangen einen schmalen Umriß, fein und arrogant.

»Sagen Sie doch, Sie sind sehr glücklich?« fragte sie, schnell und begierig.

»Über alle Maßen! Und über alle menschlichen Begriffe! Denn wenn ich es recht bedenke, so liebte ich Lady Olympia schon seit sieben Jahren – jawohl, seit damals: worüber erschrecken Sie, Herzogin? – und hielt ihren Besitz für so unmöglich wie das Fliegen. Und nun …«

Er faltete die Hände.

»Nun hat sie mich das Fliegen gelehrt.«

»Und Sie bereuen gar nichts?«

»Was denn!«

»Nun, ich meine, früher wollten Sie die wahre Liebe, wie die wahre Kunst, unsinnlich, formenlos mystisch?«

»Das war mal ein Unsinn! Herrgott, war das ein Unsinn!«

»Sie glaubten daran. Aber Lady Olympias Formen waren stärker. Sie sind in Ihre Asketensinne eingebrochen und haben Ihren primitiven Garten aus Lilien und Majoran jämmerlich zerstampft … Und Ihre Sittlichkeitsmedaille?«

»Wollen Sie alles wissen? Ich bin, ob ich’s nun ahnte oder nicht, dem Bunde nur wegen meiner schwachen Konstitution beigetreten. Ich meinte nichts zu vertragen. Es war ein Irrtum, ich vertrage viel, ich darf sagen ungewöhnlich viel: das – hat man mir bezeugt. Wie mir übrigens das jetzt gleichgültig ist! Ich liebe und werde geliebt!«

»Um so besser.«

»Beachten Sie bitte, Herzogin, meinen gesunden Appetit. Und was guter, alter Burgunder ist, erfahre ich in diesem Augenblick, da ich das Glas an die Lippen hebe. Nehmen Sie das wörtlich, bitte. Das Glück hat aus mir von gestern auf heute etwas durchaus Neues gemacht, es hat mich gewissermaßen auf die andere geistige Welthälfte gestellt. Von den Verschmähten bin ich plötzlich entrückt zu den Begehrten. Sie können sich denken, wie verwunderlich mir zu Sinn ist. An alle Dinge ist ein Stück angesetzt, und an alle ein erfreuliches. Nichts fehlt zu meiner Wonne; ich werde sogar beneidet.«

»Von wem?«

Sie dachte:

»Da Lady Olympia noch keinen verschmäht hat …«

»Von Jakobus. Der Arme gebärdet sich lärmend aus Unfrohheit. Er erklärt laut, auf mich neidisch zu sein, damit man’s nicht glauben soll. Meinen Sie nicht, er ist es dennoch?«

»Wer weiß.«

Sie dachte:

»Wie muß ich ihn schon gereizt haben, wenn er nach diesem Glück schielt!«

»Ach, ich würde mich so gern beneiden lassen.«

»Das ist kein guter Zug, das Glück verdirbt Sie.«

»Wir Glücklichen folgen unsern Trieben. Nur kein verständnisvolles in andere Hineinkriechen! Nur keine Selbstquälerei: wie ekelhaft! Der Geist überhaupt ist verächtlich; bloß das Unglück hat ihn.«

»Der Geist war bisher Ihre Üeberlegenheit über – uns.«

»Ich danke für die Überlegenheit. Will keinen Geist. Will gar nichts sehen noch wissen … Übrigens werde ich den Jakobus mir versöhnen. Ich werde so tun, als glaubte ich, daß er Lady Olympia schon vor mir besessen hat.«

»Sie entweihen ja Ihre Geliebte?«

»Große Worte! Was macht so etwas, wenn man liebt und geliebt wird. Sie würde mich verstehen! Ich habe das Bedürfnis, alle auf meine Seite zu bringen, zur Erhöhung meines Glücks. Friede und Freundschaft … Erlauben Sie, Herzogin, daß ich das der ganzen Gesellschaft sage.«

Er verschluckte nochmals den Inhalt seines Glases, füllte es wieder mit Burgunder und schlug dagegen.

»Meine Damen, meine Herren, wir feiern, wie Sie wissen, zwei Helden, die, wenn es nach ihnen gegangen wäre, einander so mitgespielt haben würden, daß wir sie gar nicht mehr feiern könnten. Zum Glück ist es ihnen mißlungen. Zu noch größerem Glück haben sie sich die Hände gereicht. Lassen Sie uns alle Hand in Hand leben! Unbefangen unter Glücklichen! Lieben und geliebt werden, das ist das einzige, was zählt … Übrigens haben wir Lady Olympia sofort zu erwarten!« rief er dazwischen und sah nach der Uhr.

»Dahinschlendern, immer den Sinnen nach, ohne Bedenken, ohne Eile, ohne Pflichten, und womöglich zu Zweien. Genießen, was die Welt hat. Wir haben noch gestern überlegt, Lady Olympia und ich in Chioggia, wie wir, wenn das anginge, die Stunden unseres Tages über Europa verteilen würden. Wir nahmen uns vor, am Nachmittag in einem gewissen kleinen Ostseebad Krabben zu essen, und wenn dort die Küste zu kühl würde, den Spaziergang zu Venedig auf dem Lido zu beenden; die leere Stunde vor dem Diner auf dem Boulevard des Italiens zu vergaffen; in Rom, im kleinen Salon bei Ranieri zu speisen; die Theaterstunde halb der Skala und halb einem Londoner Musik Hall zu schenken; hinterher in Wien eine Portion Gefrorenes zu genießen; und am Ufer eines Alpensees bei offenen Fenstern schlafen zu gehen.«

Er betrachtete zärtlich sein funkelndes Glas.

»Seien wir glücklich: es ist so schön! Trinken wir auf unsere Helden!«

· · ·

Nino trank seinen Wein und verließ unbeachtet die Tafel.

»Was soll ich dort! Welch ein unglücklicher Tag! Ich sitze nicht neben meinem großen Freunde. Und Yolla hat mir noch kein einziges Wort gesagt. Die Veilchen auf den Spitzen, vorn an ihrem Halse, die habe ich zweimal gesehen, und einmal, sehr flüchtig, ihr Profil. Gerade schlossen sich ihre Wimpern: der mit ihr sprach, muß davon ein leises Wehen gespürt haben, sie sind so lang.

Und immerfort habe ich weit über den Tisch gelegen. Dieser Mortœil hat es gemerkt und seiner Nachbarin gezeigt. Übrigens haben mich neulich zwei von diesen Eseln aus dem Lyceum mit ihr gesehen. Wie sind sie verächtlich, keiner liebt wie ich! Aber wenn sie Verdacht schöpften – wenn sie sich unterständen, ihn laut werden zu lassen; ich glaube, ich er würgte sie!

Ach, warum bin ich nicht erwachsen und stark! Welche Wonne, diesen Mortœil zum Zweikampf zu fordern! Geht es wirklich nicht? Ich bin ja jetzt vierzehn. Onkel San Bacco sollte gerächt werden. Ich würde es dem Laffen eintränken, was ich ihn neulich habe sagen hören: ›Der Bengel ist vollständig verliebt‹ – geradezu wegwerfend hat er’s gesagt. Die andern haben genickt, mit ’ner gewissen schleicherischen und höflichen Zärtlichkeit, als lohne es sich nicht, davon zu reden. Wollten sie sich lieber ganz still verhalten! Sie werden noch was erleben! Wie kann man mir das bieten – mir!«

Er rannte, auf den Boden starrend, durch eine Flucht kleiner Zimmer. Eine geschlossene Tür hielt ihn auf: er bog in einen Seitengang. Auf einmal stand er erstaunt.

»Wohin bin ich geraten? Es gibt hier immer noch Räume, die ich gar nicht kenne. Dort steht ein Bett; aber der Saal ist groß, luftig und voll gemalter Geschichten wie alle andern. Tür und Fenster sind offen; in den Schlafzimmern von Damen, meinte ich, müßte es nach vielen Essenzen duften. Das Bett ist aus Eisen und sehr schmal. Es liegen keine Sachen umher; man kann nicht einmal wissen, ob sich hier jemand die Hände gewaschen hat … Wer wohl in dem Bette schläft …?

Nein, lügen tue ich nicht! Ich weiß ganz genau, daß sie darin schläft … Und dort liegt auch ein Strumpf, man hat ihn vergessen. Ich möchte ihn aufheben – warum nicht. Jetzt müßte ich mich schämen, wenn ich es nicht täte … Er ist lang, lang, glänzend schwarz; er fühlt sich unglaublich weich an – natürlich Seide. Er ist gewiß schon getragen, ich brauche nur den Arm hineinzustecken – so – dann formt er sich gerade wie das Bein … Ich fühle schon wieder mein Herz im Halse. Ich glaube manchmal, ich bin herzkrank. Aber es ist mir gleich, mag alles geschehen … Yolla hat Beine wie die allerschönsten Frauen auf den Bildern – ich weiß nicht mehr welchen. Wie seltsam, ich sehe auf einmal einen ganzen Knäul von großen nackten Beinen. Alle die gemalten Frauen strecken mir ihre Beine hin – aber sie sind plump, pfui, plump gegen Yolla ihres.«

Alle seine Gedanken stürzten unversehens übereinander. Er erblaßte heftig, und biß sich auf die Lippen, in einer leidenden Versunkenheit. Die Hände hatten schon, ohne daß er’s wußte, sein samtenes Flausch aufgerissen; sie öffneten das Hemd und drückten den Strumpf, hastig zusammengeballt, auf sein Herz. Dumpf pochte es dagegen; die Seide ward warm. Der Knabe sah hinaus auf das langsame Wasser da unten. Er empfand keine Scham, aber einer Sehnsucht fragwürdige Bilder durchwogten ihn schwer und schmerzhaft.

Plötzlich warf er den Strumpf hin, schloß seine Kleider und kehrte um.

»Sie werden das wieder merken. Sie sehen es meinen Augen an, ich weiß nicht wie und was. Ha, ein Wort von diesem Mortœil! Ich hasse ihn fast so sehr wie meinen Vater – kann jemand schlechter sein als der war? Und ich hasse ihn sicher mehr als den Abbate Friuli und den Herrn Tigretti, meine biedern Lehrer. Diese Heuchler und kleinlichen Schinder – kann jemand erbärmlicher sein als sie?«

Er stutzte selber vor der Heftigkeit seines Ausbruchs.

»Mortœil? Hasse ich ihn wirklich? Was liegt mir denn an dem einen Elenden? Nein, nein, alle sind sie mir zuwider – alle die von Yolla Worte bekommen und Blicke, alle, die mit ihr zu Tisch sitzen, alle, die dieselbe Luft atmen. Ach, ich bin eifersüchtig sogar auf meinen großen Freund; ich wollte, er kehrte nach Rom zurück. Yolla soll allein sein mit mir. Ich will sie in einen verzauberten Garten entführen. Niemand darf hinein, ich lasse ihn sehr streng bewachen. Wie werden wir dort glücklich sein …«

»O, auch das Abenteuer wird noch kommen!« rief er ganz laut. Er lief wirr und erhitzt durch die Zimmer. Die Bilder zogen ohne Unterlaß an den Wänden hin. Der Knabe schleuderte ihnen seine Herausforderung zu: »Ihr seid doch nicht bunter als mein Leben!«

Sein Leben! Es bestand ganz aus einer Kindheit, einsam und arm an Liebeserwärmung. Wovon sie geglüht hatte, das war die Hitze aus vielen Stunden seelischen Aufruhrs, die Hitze eines Knabenzornes ohne Schranken und eines wilden Gerechtigkeitsdranges. So oft, wenn das Haus, der Laubgang, die Dorfmauer und der Passionsweg verlassen sich bückten unter der Last des Mittags, hatte er Spaziergänge gemacht, die eine Flucht waren: ans Meer, immer ans Meer – und seine schwachen Arme hinausgereckt, fort aus der lahmen und boshaften Wirklichkeit, nach dem Wohnsitz des Hochsinns und der mächtigen Freudigkeit, dort hinten, wo ganz gewiß ihr Reich war. Und in seiner Kammer hatte er sich kasteit mit Nadeln, Riemen, Zangen – bloß um vor Vater und Erziehern, die schlecht waren, etwas voraus zu haben: ertragene Schmerzen, härtere Gedanken.

»Ich will euch hassen, so lange ich lebe!« so schwur er sich wieder einmal zu, auf dem Rückwege vom Schlafzimmer seiner Geliebten – »und ich will stolz sein wie Onkel San Bacco, und so schön, wahrhaftig, so schön wie sie selbst, meine Yolla!«

Die Gesellschaft saß noch bei Tische.

»Du hast wohl gerauft?« fragte ihn sein großer Freund.

»Nein, aber ich hatte verdammte Lust dazu«, erwiderte Nino, und er sah der Herzogin gerade ins Gesicht.

»Sie sollen es nur merken«, dachte er. Aber sie beachteten ihn nicht. Auf die Geschichte des Strumpfes, die sie erheitert haben würde, verfiel keiner. Sie hatten keine Ahnung, welche erste Liebe in ihrer Mitte rauchte und schrie.

· · ·

Man begab sich in das Kabinett der Pallas. Die Herzogin trat vor die Terrasse und machte ein Zeichen. Eine Gondel glitt dunkel bis unter das hohe Gitterportal; seine verschlungenen Eisenranken blitzten. Dann tändelte eine bunte und traurige Melodie herbei über die toten Blumen des künstlichen Gartens.

»Es sind die Blinden«, sagte die Herzogin. »Marquis, sie spielen Ihnen zu Ehren.«

San Bacco küßte ihr die Hand.

»Aber ich bitte um etwas weniger Verzweifeltes.«

»Etwas Lustiges!« riefen die andern. Siebelind sagte:

»O, ich habe etwas sehr Lustiges vorbereitet. Harmlos lustig. Gedulden die Herrschaften sich zwei Minuten.«

Er enteilte.

Jakobus fragte die Herzogin:

»Wo befinden sich die Blinden?«

Sie machte zwei Schritte hinaus, um sie ihm zu zeigen. Er war mit ihr allein, und begann sofort:

»Wann gehen Sie aufs Land, Herzogin?«

»Bald. Es waren Arbeiten vorzunehmen in der Villa … Eilt es Ihnen?«

»Es eilt mit meinem Bilde, Sie wissen mit welchem. Ehe die Blätter gelb werden, brauche ich Sie zu einigen Sitzungen im Freien.«

»Sie haben sich das hübsch ausgedacht.«

»Da Sie dabei unbekleidet sein werden, müssen wir warmes Wetter haben.«

»Lieber Freund, Sie leiden an einer Wahnidee. Glücklicherweise ist sie harmlos. Ich rechte deswegen nicht mit Ihnen.«

»Herzogin, Sie wissen sehr wohl, daß Sie mich erhören müssen. Denn sonst geht viel verloren.«

»Und sind Sie sicher, daß mir etwas daran gelegen ist?«

Leise und schnell hatten sie einander geantwortet. Auf einmal schwiegen sie, beide erschrocken. Die Blinden spielten zärtlich einen Tanz. Darauf lächelte die Herzogin.

»Sie sind Künstler. Ihre Eitelkeit verführt Sie dazu, Ihre Beschäftigung gar zu ernst zu nehmen.«

»Eine Beschäftigung nennen Sie es? Für Sie selbst aber, Herzogin«, so rief er mit Schwung, »war es ein Gottesdienst, der Ihr bestes Leben ausgefüllt hat. Besinnen Sie sich doch, was Sie der Kunst schulden!«

»Und Ihnen?«

»Natürlich. Es wäre undankbar, es wäre unvornehm, wenn Sie mich nicht erhörten!«

»Ein Knabe sind Sie, stürmisch und selbstsüchtig und unfähig anzuerkennen, daß die Welt nicht ganz auf Ihre Gelüste zugeschnitten ist. Sie haben sehr viel Glück gehabt; nun entrüstet es Sie ehrlich, daß Ihnen einmal etwas widersteht. Ich halte Ihnen Ihre Unschuld zu gut und Ihre Unerprobtheit.«

»Sie schulden …«

»Weder Ihnen noch der Kunst. Ich habe keine Verpflichtungen. Wenn mich die Kunst langweilt, gehe ich meiner Wege.«

Sie ließ ihn stehen und kehrte ins Zimmer zurück. Alle wandten sich nach einer Dame um, die von der andern Seite eingetreten war.

»Herr von Siebelind?«

»Madame Blanche de Coquelicot«, erwiderte seine Stimme, Die Fremde stieg mit Männerschritten und hinkend bis in die Mitte. Sie hatte rotgelbe Haare und eine Haut von fettiger Blässe; unter der steif an ihr herunterfallenden, schwarzen Seidenrobe ahnte man ein entfleischtes Gerüst voll verderbter Geschmeidigkeit.

Mortœil lachte, angewidert und gekitzelt.

»Bravo Siebelind, das ist tatsächlich die Coquelicot. Ich habe sie sehr gut gekannt.«

»Ich auch«, sagte Jakobus, wegwerfend.

»Nun ja, wer kennt mich nicht«, erklärte Siebelind, und er sprach französisch. Es flatterte ihm von den Lippen.

»Wahrhaftig, sie ist es«, äußerte San Bacco, ganz versteint. »Beim Sprechen sieht man es; Herzogin, wollen Sie es glauben. Ich habe einmal mit ihr soupiert. Der unglückliche Pavic war auch dabei. Sie hielt ihn auf schamlose Weise zum besten.«

Jakobus sagte zu Nino:

»Schau dir einmal die Figur an. Alles, aber auch alles ist falsch daran, verstehst du. Wenn sie sich abends zu Bett legt, bleibt nichts von ihr übrig als eine kleine Häringssehne.«

Der Knabe bekam einen Schreck. Die Vorstellung eines Kopfes mit einem silbergrauen Gallertschweif, einsam auf einem ungeheuren Kissen, hielt ihn gepackt. Blanche verhieß der Gesellschaft einen Vortrag, etwas harmlos Lustiges.

»Der Hals!« flüsterte Gina, mit Schaudern. Die Chanteuse wand einen Hals hin und her, sehnig und so dick bepudert, daß es aussah, als läge er in einem Gipsverband. Ihr Mund ging auf wie eine breite blutige Wunde. Die engen, gebogenen Kohlestriche über ihren Augen stiegen in die Höhe; sie stand, die Arme geradlinig an den Hüften, so reglos, daß man sie nicht atmen sah, und sang, matt, zungenfertig und heiser, ihre unstillbaren Gelüste. Hofburschen, Pferdejungen mit Gerüchen von Männlichkeit und Stallmist, Metzger, Abdecker, Henker mit Düften nach Blut und Männlichkeit – das liebe sie. Zum Schluß machte sie zwei, drei müde Cancanschritte: eine große, ernüchterte und schon halb ins Privatleben zurückgetretene Unkeusche, die Neulingen eine flüchtige Unterweisung gönnt. Die Herren klatschten, Bettina kicherte albern.

»Das ist wirkliche Kunst!« erklärte Mortœil, aufrichtig entzückt. Die Herzogin richtete den Blick auf die Pallas; sie tat es mit Beklemmung. Dann fragte sie sich, achselzuckend:

»Bin ich denn abergläubisch? … Er spricht von einem Gottesdienste, der mein bestes Leben ausgefüllt habe. Aber es war doch nur ein Spiel. Wenn ich es nun satt habe. Um mich her habe ich Dekorationen und Symbole aufgestellt: die Pallas, ihr Tempel, worin ich sie feiere, der Saal, den ich ihr errichtete, die Seelen im Marmor, die Statuen meine Freundinnen, jene dort draußen mit ihrer weißen Drohung – das alles engt mich ein und langweilt mich. Ich schiebe das beiseite, wie Versatzstücke aus Pappe. Ich will einmal wieder frei sein, völlig frei, und ein neues Land aufsuchen und eine unbekannte Art zu leben.«

Sie rief aus:

»Ein gelungener Scherz, Herr von Siebelind. So plötzlich entdecken Sie Ihre Talente?«

»Das Glück, Herzogin! Das Glück lockt alles Gute hervor, das man in sich hat.«

Er war gerührt – und das Gefühl, das aus einer in kalter Unzucht verhärteten Maske herausbrach, erregte Grauen, wie etwas wider die Natur. Er saß in einem geraden Sessel, die Beine übergeschlagen, die Arme ausgebreitet auf der Rückenlehne, und ließ sich bestaunen.

»Ich gestehe, ich bin immer riesig eitel gewesen auf meine Ähnlichkeit mit der Coquelicot. Sie müssen sie doch längst bemerkt haben.«

»Die Ähnlichkeit mit einem alten Weibe!« stieß Jakobus hervor, im Ton einer Beleidigung.

»Warum nicht«, meinte Siebelind sanft und selbstgefällig. »Ich habe eigentlich nur wenig Fettschminke nötig gehabt.«

Mortœil bemerkte frech:

»Da Sie schon vorher ganz damit bedeckt waren …«

»Die zweite Nummer!« krächzte Siebelind und erhob sich. Vom Wasser her kamen Polkatakte. Er sang drei Töne, brach ab und sagte:

»Lady Olympia kann uns jetzt nicht länger warten lassen … Sehen Sie wohl, da kommt sie.«

Er brachte die Strophe zu Ende und richtete unter der roten Perücke aus den Augenwinkeln hervor, seinen verführerischen Dirnenblick unverwandt auf seine Geliebte.

»Milady, habe ich Ihren Beifall? Blanche de Coquelicot singt Ihnen zu Ehren, Milady … Ist deine Gondel da, du Süße?« fragte er leise und aufgeregt. Sie versetzte ärgerlich.

»Was für eine Unverschämtheit! Wer ist denn diese unpassende Figur?«

»Ich bin ja Gottfried«, flüsterte er. »Muß meine Maske aber gut sein!«

»Ich kenne keinen Gottfried – oder nur sehr flüchtig, lieber Herr. Und ich habe keine Lust, die Bekanntschaft zu erneuern.«

»Was für ein guter Witz, Milady!«

Er sprang auf einem Bein in die Luft.

»Sie sind merkwürdig aufgeräumt. Habe ich das verschuldet? Es täte mir leid. Sie haben mich damals neugierig gemacht, wissen Sie, weil Sie so bitter waren und so tief. Man konnte Angst bekommen; man verstand nicht einmal alles. In Ihrem dummen Glück finde ich Sie einfach unfair.«

Er feixte und zwinkerte.

»Ich bin ja Blanche de Coquelicot, eine sehr magere Frau, und Sie eine starke. Sie haben wohl von den Künsten gehört, wegen deren Blanche berühmt ist? Jetzt werden wir uns erst lieben, Milady.«

»Ich werde gleich veranlassen, daß Ihnen die Tür gewiesen wird«, sagte sie und musterte ihn über die Schulter weg, während sie sich entfernte. Er fing auf einmal zu zittern an, von Kopf bis Fuß, lachte aber so lasterhaft wie zuvor.

»Also heute nehmen Sie mich nicht mit?« fragte er, immer hinter ihr.

»Er gab sich für vernachlässigt und leidend aus und war einfach ein unanständiger Gesell«, bemerkte sie, empört über den Betrug.

»Es hat ja Zeit, ich verstehe Scherz«, versicherte er.

Er machte eine Pirouette und kehrte, merklich hinkend, zur Gesellschaft zurück. Er sang sogleich weiter mit heiserem Geschrei. Den letzen Ton noch im Halse, stürzte er wieder zu Lady Olympia.

»Aber morgen doch!« bat er, unbeirrbar und mit einem Lächeln, daß die Fettschicht auf seinem Gesicht merklich hin und herschob, so krampfhaft war es.

»Was ist denn das für ein Mensch, den man gar nicht los wird?« fragte sie, gelassen und laut. Er warf plötzlich den linken Arm in die Luft und schlug hinten über zu Boden, mit einem starken Krach und so steif, daß das seidene Kleid keine einzige Falte warf.

»So mußte es kommen«, meinte ruhig Lady Olympia.

»Es war allerdings schon den ganzen Abend vorauszusehen«, erklärte Mortœil und setzte das Glas ins Auge. Jakobus stieg wütend über Siebelinds Körper weg.

»Das ist ekelhaft. Man hätte es nicht dulden sollen.«

»Da es die Frau Herzogin zu belustigen schien«, meinte San Bacco.

»Da es uns allen Vergnügen machte …«

Er brummte gesenkten Hauptes, schamerfüllt:

»Wie war das überhaupt möglich.«

»Nicht war, unheimlich war’s – schon lange?« sagte Gina zu Bettina.

Die beiden Frauen folgten still den Lakaien, die Siebelind forttrugen. Sie schoben, der Eine zu seinen Füßen, der Andere zu seinen Häupten, den grotesken Verunglückten zur Tür hinaus, wie eine lange wächserne Puppe, eine geschickte Nachbildung des Lasters. Drei Zimmer weiter betteten sie ihn auf ein Sopha. Gina betrachtete ihn, schaudernd vor der Frau, die ihn zertreten hatte. Bettina lugte ihr über die Schulter, mit einfältiger Neugier.

»Schade«, sagte sie, »wir waren so lustig.«

»Fanden Sie?«

»Nein – eigentlich nicht.«

Sie deutete auf den Ohnmächtigen; und mit schmerzlicher Aufwallung:

»Der arme Mensch! Mit Jakobus ist es gerade so.«

»O!« machte Gina. Bettina schüttelte den Kopf, hoffnungslos.

»Er liebt sie viel zu sehr.«

»Sie sehen es mit an und leiden, nicht wahr?«

Bettina flüsterte kläglich:

»Ja.«

»Es wird doch einmal aufhören.«

»O nein, er ist zu unglücklich – über alle Begriffe. Er hat es mir ja gesagt.«

»Ich weiß es: er und auch – die Herzogin. Wenn zwei sich quälen, das merke ich.«

»Er hat mir sein Herz ausgeschüttet … Anfangs war er erzürnt über mein Kommen und übersah mich ganz. Dann hat er mir in einer sehr traurigen Stunde alles gesagt. Das Fenster war verhängt, es regnete, sein Kopf lag auf meinen Knien. Es war sehr schön.«

Gina meinte für sich:

»Sie ist dankbar, wenn er ihr klagt, daß eine Andere ihn verschmäht … Ich weiß nicht, wäre ich auch so? Ich verstehe sie.«

»Wenn ich ihm etwas abnehmen könnte von seinem Leiden!« seufzte Bettina.

»Wenn ich die Herzogin wäre«, begann Gina zögernd. Bettina horchte auf.

»Nun?«

»Ich glaube, ich täte es.«

»Nicht wahr, Sie würden ihn glücklich machen, O, auch ich täte es, ganz gewiß!«

»Ich täte es aus Liebe zur Kunst«, erklärte Gina – »damit ein schönes Werk entsteht.«

»Ich täte es für ihn«, sagte Bettina – »damit er groß wird … aber die Herzogin will es weder für ihn tun noch für die Kunst. Ist sie denn kalt?«

Gina erklärte bestimmt:

»Nein, ich kenne sie. Kalt ist sie nicht. Ich liebe sie.«

»Es ist seltsam, daß auch ich sie liebe. Aber auch Furcht habe ich vor ihr.«

Gina sah zu Boden.

»Ich auch.«

»Sie ist so stark«, lispelte Bettina, weinerlich.

»Ja, ja, darum fürchte und liebe ich sie – weil sie so stark ist.«

Und die beiden Schwachen gingen schweigend zurück.

· · ·

Drinnen war die Stimmung unrein und behindert. Man war versucht, an sich herunter zu sehen – ob man sich beschmutzt habe. San Bacco wanderte aus einer Ecke in die andere. Murrend überlegte er noch immer:

»Wie ich mit Mortœil Streit anfing, da hatte er es ja viel weniger schlimm getrieben, als heute dieser Jammermensch. Ich verstehe mich nicht.« Jakobus lief ihm über den Weg. San Bacco blickte stirnrunzelnd auf, aber der andere war sichtlich eingesperrt in seine wilden Gedanken.

»Das fehlte noch!« meinte er. Er nannte Siebelinds Streiche eine Schande und litt selber unter ihr.

»Das war ein bißchen zu ekelhaft für jemand, der gereizt ist wie ich.« Er suchte verzweifelt nach einem Ausweg für seine Erbitterung. Er kam an Clelia vorbei. Sie versetzte spöttisch:

»Sie tun unrecht daran, sich aufzuregen. Sie werden ebenfalls einen Anfall bekommen.«

Gleich darauf erschrak sie vor seinen Augen.

»Ich kann dich doch wohl nicht prügeln, meine Liebe«, sagte er sehr sanft, mit einer demütigen Verbeugung.

Sie verlangte leise:

»Prügele mich nur.«

Er drehte ihr den Rücken. Die Herzogin stand im Gespräch mit Lady Olympia. Unermüdlich strich er an ihnen vorüber, ohne beachtet zu werden. Endlich stellte er sich im Hintergrunde auf und starrte hin, über die Brille weg und verbissen in seine Gier. Beide waren groß, formenreich, gepflegt, sehr weiblich und überaus begehrenswert. Aber die eine, kräftig atmend und satt, glich einem breiten Tier der Ebene, einer großen Blume aus rotem Fleisch. Die andere war eine fiebernde Statue, weiß, auf einsamem Berge und weiß, weiß … Unter den leise zitternden Spitzen des Corsage regten sich ihm nackte Muskeln. Dann glitt vor seinem Auge das Gewand hinunter bis auf die Hüften. Der Körper, makellos, reglos, hob sich, ragte im Triumph. Er schnitt in die Luft, mit dem reinen Umriß seiner Formen. Sie wich zurück vor diesen Brüsten. Sie waren glatt und reif. Kein Kuß hatte sie erweicht. Aber ihr Marmor, der heiß war, lechzte nach den Abdrücken von Lippen.

San Bacco tat eine Frage. Der Maler erklärte:

»Mich fesselt die Lichterscheinung der beiden Damen.«

Er hörte San Bacco antworten, sich selbst noch etwas sagen, und wunderte sich dabei:

»Merkwürdig, daß ich es fertig bringe, sie nicht an mich zu reißen!«

Vom Kamin her vernahm man die laute und selbstgefällige Stimme des Herrn von Mortœil. Er redete hinter den Schultern von Bettina und Gina. Sie versteckten eingeschüchtert die Köpfe in großen Mappen mit Kupferstichen. Sie zeigten einander, leise schwärmend, die Madonna der Frari, und jene andere, mit den beiden Bäumen. Mortœil blieb durch die peinliche Stimmung der übrigen ganz unberührt, und er legte Gewicht darauf, es zu beweisen.

»Gian Bellin«, so sagte er im Verlaufe seines klaren und gewandten Vortrages, »ist unter den Venezianern der Psychologe. Ich bevorzuge ihn, er ist sehr pariserisch, möchte ich sagen. Er war ganz vertieft in die Frau. Wie viele begrabene Leiden, wie viele erloschene Freuden leben in seinen Madonnen wieder auf! Welche Schicksale lassen sich entziffern aus all diesen schönen, sorgenvollen, verblaßten, glücklichen, sinnenden Gesichter! Auf jedem seiner Bilder fällt ein neues, ahnungsvolles Licht in Frauenseelen: in die Seelen von Müttern, Himmelsbräuten, inbrünstigen Heiligen, leidenden Liebenden und unbekümmerten Weltdamen.«

»Sie vergessen Eine!« rief Jakobus. Er begab sich zu den Plaudernden.

»Noch eine hat er enträtselt und aufbewahrt: die Madonna-Verderberin. Ich sah unlängst das Gemälde, auf dem Lande, in einer armseligen Kirche, verwahrlost und vergessen. Sie thront über Engeln und sie ist eine schöne, starke, wilde Herzlose, stolz auf die Herrschaft ihres Leibes über die Sinne der Männer, und aus schweren Lidern verächtlich hinunterblinzelnd auf den Heiligen, der zu ihren Füßen bettelt.

Ein kleiner, verkommener Priester erzählte mir von ihr. Er war unrasiert, höhnisch, in schmutziger Soutane, und roch nach Wein. ›Wenn sie wüßten, Herr‹, so sagte er. ›Das ist eine Schinderin. Noch nie hat sie eine Bitte erhört. Im Gegenteil, sie macht das Vieh krank und die Leute elend. Dabei bezaubert sie das Volk, daß es immer wieder zu ihr kommt. Es möchte sie steinigen, aber es muß kommen und beten. Ein Mensch in Angst bringt ihr wohl einmal das Opfer eines Herzens, eines armen Herzens aus schlechtem Silber oder Blech. Am Tage darauf ist das Herz verschwunden, als hätte sie’s gefressen.‹«

Jakobus richtete sich beim Sprechen hoch auf, kreuzte die Arme und suchte, in hellem Aufruhr, den Blick der Herzogin. »Die unnütze Verderberin bist du!« Er ließ es nicht laut werden, aber sie hörte es.

»Er verliert die Besinnung«, sagte sie sich, »Ich werde ihn besänftigen … Nein, ich werde ihn bitten, mich nicht wieder zu besuchen.«

Lady Olympia zog sie in einen Sessel.

»Süße Herzogin, ich unterhalte mich köstlich. Was für eine grausame Madonna Sie sind! Dieser große Meister verfällt in Tollheit, weil Sie ihn lieben!«

»Weil ich …«

»Geben Sie es ruhig zu. Sie lieben ihn und verdammen ihn. Er ist darüber erbittert – hat er nicht recht?«

»Können wir das ändern? Dort hinten liegt ein Ohnmächtiger, Sie kennen ihn, Milady.«

»Den hab’ ich glücklich gemacht, süße Herzogin – leider zu glücklich … Er hat keine Liebe auszugeben, er muß sparen. Das hat er vergessen: daher sein Unglücksfall … Wie wäre es, wenn Sie Ihren großen Maler einfach erhörten. Verzeihen Sie, ich ketzere. Sie sind so sehr Seele, so abgeneigt dem Fleische. Würden Sie’s glauben, daß ich es selber auch gewesen bin? Ich habe eine Musterehe geführt mit Lord Ragg. Man hat es fast vergessen – aber mein Sohn, ein prachtvoller Boy, keusch und gesund, reist jetzt auf den Kontinent. Sie werden ihn kennen lernen, denke ich … Ich bin nicht sehr geistreich, wie Sie wissen, süße Herzogin. Was ich gelernt habe, ist eins: Je strenger wir gegen unsere Sinne sein zu müssen glauben, desto stärker sind sie im Grunde. Ich habe gefunden, daß ich glücklicher bin, wenn ich meinen Sinnen nachgebe, als wenn ich sie unterdrücke. Das ist so einfach. Welchen Grund können wir haben, wir Freien und Glücklichen, uns selber zu hindern.«

»Keinen«, erwiderte die Herzogin. »Auch habe ich meine Sinne niemals unterdrückt. Ich war sehr sinnlich, als ich von den starken Leibern eines schönen und von mir befreiten Volkes träumte. Ich war sehr sinnlich, als ich mich den Kunstwerken hingab.«

»Jetzt aber unterdrücken Sie Ihre Sinne, da es sich um das Fleisch handelt. Warum?«

»Ja, warum?« dachte die Herzogin, nach innen gewandt. Da kehrten ihr in einem jähen Blitz lauter vergessene Gestalten zurück: bleiche, vor Gier zuckende Gesichter, tastende Hände; ihre Pariser Bewerber, blutig oder von Sinnen; Pavic am Fuße des Sofas mit zerrissenen Polstern, um Verzeihung bettelnd; Prinz Phili im Theaterkostüm, mit dem Degen in ihre Kleider verhaspelt und laut weinend; Della Pergola, am Boden, blaß vor Selbstverachtung und entschlossen, sie zu ertragen.

Lady Olympia lächelte für sich. »Sie muß sich zu der bewußten Sache außerordentlich stark hingezogen fühlen; sonst würde sie sich nicht so zähe sträuben. Ich werde noch sehr unterhaltende Geschichten an ihr erleben.«

Befriedigt von diesem Schlusse, erhob sie sich.

»Ich reise, süße Herzogin, in vier oder fünf Tagen. Aber ich hoffe Sie noch zu sehen – und glücklich.«

»In meiner Villa bei Castelfranco. Schon morgen fahre ich hin.«

»Ich komme vorbei. Auf Wiedersehen.«

Lady Olympia nahm Abschied. Wie sie hinausging, trat Siebelind ein. Unwillkürlich blieb sie stehen. Alle verstummten. Siebelind machte ein zweifelhaftes Gesicht und strich sich mit der feuchten Hand über die Stirn. Er fühlte sich zerschlagen und unsauber wie nach einer Nacht voll unglaubhafter Ausschweifungen.

»Was ist denn mit mir vorgegangen?« fragte er sich, und suchte mit seinen Gedanken durch einen Nebel zu dringen. »Ich bin im Frack? Ja so, ich war maskiert. Da sind noch zwei rote Haare.«

Er entfernte sie. Darauf begegnete er seinem Spiegelbild.

»Meine Wangen sind so hohl, daß sie ganz schwarz aussehen. Dort muß die Fettschminke entfernt sein. Ich komme mir vor wie rückenmarkskrank.«

Er machte einen Schritt und hinkte dabei daß es polterte. Er war befriedigt.

»Du hättest Lust gehabt, davonzulaufen, mein Lieber«, so sagte er sich. »Aber das geschieht nicht. Du bist glücklich gewesen, scheint es? Du warst ein Narr, dich darauf einzulassen, und ein Verräter deines Schicksals warst du. Nun sei ein Bekenner und tritt mitten unter die Verächter, bitte! Und erstens bist du der Überlegene, nicht sie. Denn sie versuchen nicht einmal, zu erraten, was jetzt in dir vorgehen mag. Du aber liest jedem einzelnen seine ahnungslosen Eitelkeiten von den leidensleeren Gesichtern … Oh! Das Leiden ist die einzige Hoheit für menschliche Stirnen! Nie hatte ich wie in dieser Minute das Herrenbewußtsein des Märtyrers!«

Er nahm Lady Olympias Hand, die sie ihm hinhielt; sein Mund berührte sie heiß und unterwürfig. Dann sah er ihr nach.

»Gutmütige Pute. Sie bereut schon. Nicht einmal ganz gewissenlos sind diese Glücklichen. Und mit einem ›Ich will es nicht wieder tun‹ glauben sie uns – uns vergessen machen zu können. Habt ihr ’ne Ahnung!«

Er humpelte mühevoll bis in die Mitte des Zimmers. Die Damen waren plötzlich in eifrigem Geplauder.

»Ganz recht, das war vorherbestimmt. Alles an euch, jeder Gedanke, jedes Wort, jedes Zögern und jeder Ruck, ist unumgänglich. Da, der dort wird das Glas aus dem Auge fallen lassen und sich davon drehen, aus Furcht, man könnte ihn mit mir verwechseln.«

Mortœil entfernte sich von ihm.

»Und der andere hier wird mich unerträglich anblitzen aus seinen Augen; ein beneidenswerter Lebenslauf ganz aus einem Stück hat sie vollkommen rein erhalten.« Er schlich an San Bacco vorbei.

»Nun also – ich kann deinen Blick nicht ertragen … Muß ich das Auge auch vor dir niederschlagen, mein kleiner Freund? Sieh da, du bemerkst mich gar nicht; die Frau Herzogin ist auch gar zu schön, wer könnte da ruhig bleiben. Du bist ein schlankes Schiff, fahrtbereit und mit nichts als Hoffnungen beladen – und ich zum Wrack geworden vor der Abreise: aber wir spüren denselben schwülen Wind auf unsern Flanken, wie?«

Er war dicht bei Nino. Er suchte nach etwas Wehmütigem; schließlich raunte er:

»Gottvolles Weib, was Verehrtester? Ja ja, als ich noch jung und schön war …«

Nino schrak auf und sah ihm ins Gesicht. Ein Ekel, jäh und angstvoll, faßte ihn an. Er hastete, drängte vorbei, bebend und beinahe flehend.

»Nein! Ich will nicht!«

Siebelind schaute ihm nach, mit Genugtuung.

»Das war ein gehöriger Ausbruch deiner ganzen Seele, mein kleiner Freund. So entsetzlich wäre ich dir nicht, wenn du recht gesund wärest. Aber so steht es mit dir: ein ausschweifender Wille, Begierden die die Welt umarmen, in einem unzulänglichen Körper. Und so sind sie alle! Alle sind so, die heute dem Leben recht geben und seiner Gewalt!

Wer sind deine Brüder, Nino? Ein Monarch voll zehrender Sucht, Länder zu zerstampfen und Meere zu peitschen: er reibt sich in tiefem Frieden seine skrophulosen Gliedmaßen, die leicht kalt werden. Der Soldatensänger des neuen Imperiums: Blut, Lorbeer, Tropensonne glühen und rauschen, wo er die Leier schlägt, und entfesseln Raubtierschreie; er aber ist ein Männchen, das die Hitze im weiten Kaiserreiche seiner Ideen nicht aushält. Der großartige Dichter der großartigsten Rasse: er preist auch unermüdlich die Schönheit an, die große, lebenstrotzende Schönheit, die auf seinem Bette liegt – aber seine Väter haben sie gezeugt, und seine Kunst ist ein einziger Inzest … Und der erhabene Philosoph, die Vollendung von Jahrtausenden: er lebt dreiundzwanzig und eine halbe Stunde seiner Gesundheit, um in den letzten dreißig Minuten einen Hymnus niederzuschreiben – an das Leben … Versagende Nerven, bedrohte Lungen, rachitische Brustkörbe, eine geschwollene Prostata, ein wenig Fäulnis hier und da verteilt im Körper – aber noch bis in eure Anfälle von männlicher Hysterie hinein die Brunst nach Größe: so seid ihr alle. Kleiner Nino, du bist ein bedeutender Typus deiner Zeit. Du bist kühn anzusehen, frei, schön und wohlgelungen und geboren mit tiefem Verdacht gegen alles Leiden und gegen die, die sind wie ich. Aber von uns beiden bin ich der Vollkommnere: ich habe den Willen zu mir selbst. Du möchtest sein, was du nicht bist. Hüte dich vor den Frauen, sie ziehen dich nackt aus!«

Plötzlich entdeckte Siebelind, daß Mortœil ihn musterte, mit gekrauster Nase, sehr von oben herab, und einen Argwohn in den kalten Augen. Siebelind erkannte ihn; er fuhr in die Höhe.

»Himmel, jetzt traut mir der schneidige Mensch ein Gelüste zu nach dem Knaben«, sagte er laut und vernehmlich zu Jakobus, der vorüberging. Der Maler blieb stehen. Siebelind faßte sich.

»Er hat früher ganz dasselbe bei dem alten San Bacco vorausgesetzt, müssen Sie wissen. Übrigens nehme ich es auf mich – auch das. Ich schwelge zur Zeit in Selbsterniedrigung, versichere ich Sie … Das wundert Sie wohl. Ich habe heute mehrmals erklärt, ich sei sehr eitel. Ja, mein Bester, das war nun die Eitelkeit eines, der vom Kultus seines verachteten Selbst ganz wund und ausgehöhlt, sich selber glauben machen möchte, er hafte an Weltlichkeiten. Sobald er echt fühlt, ist ihm die Meinung der unwissenden Glücklichen nicht einmal gleichgültig – es ist ihm sogar zuwider, wenn sie irrtümlicherweise etwas Gutes von ihm halten. Aber er lärmt sich in eine Sucht hinein nach Zutunlichkeit und warmen Händedrücken, und schminkt sich, um einmal die eigene elende Klarsichtigkeit loszuwerden, eine hysterische Eitelkeit an …«

Auf einmal brach er ab. Jakobus’ Atem ward immer kürzer »Der sieht ja aus, als wollte er über mich herfallen«, dachte Siebelind. Jakobus sagte aber sehr kalt:

»Fällt es Ihnen denn nicht auf, daß Sie von sich selber niemals loskommen? Als Sie im Glück waren, haben Sie darin herumgewühlt, bis es entzwei ging. Jetzt befinden Sie sich schlecht, und Sie rächen sich durch Entblößung aller Ihrer Widerwärtigkeiten. Sie sind tief, o ja, Sie bohren immer bis in übelriechende Tiefen hinunter, und zwar immer in Ihrem Ich. Da liegt nun Ihre Naivetät: an dem Interesse, das Ihr Ich erregen muß, kommt Ihnen nie ein Zweifel. Sehr mit Unrecht, denn Sie sind gar nicht interessant. Nun wundern Sie sich mal!«

Darauf drehte er ihm den Rücken zu – und Siebelind wunderte sich. Allmählich ward ihm ganz heiß, und er bekam Lust, umherzustampfen und zu zetern: »Ich soll nicht interessant sein? Ich soll nicht interessant sein?«

· · ·

Jakobus folgte einem Wink der Herzogin. Er beugte sich über ihren Sessel.

»Also weil sonst die Blätter abfallen …« sagte sie. Er verstand sofort.

»Sie müssen hinzufügen: auch Ihre eigenen Blätter könnten welk werden.«

»Wie unhöflich!«

»Es handelt sich nicht um Höflichkeit. Jetzt, in dieser Minute, sind Sie Venus, reif und glatt. Ihre Schönheit kann nicht mehr zunehmen und nimmt noch nicht ab. Es ist der Augenblick, der nicht wiederkehrt. Und auch mein Augenblick ist einzig; nur in ihm lebt das Werk, und es würde mit ihm sterben. An jedem Ziel unseres Lebens treffen wir ja zusammen. Es haben sicherlich nie zwei Menschen so, in diesem sonderbaren Sinne, zusammengehört, Herzogin, wie wir. Wie mächtig ich das fühle! Wir sind dazu geschaffen, uns gegenseitig zu erheben, uns seltener, herrlicher zu machen, uns die Leichtigkeit der Vollendung zu bescheren und endlich, auf der Höhe, wunschlos einander anzubeten.«

»O, all die feurigen Worte!«

»Es ist wahr, sie wären kaum von nöten. Sie werden ohnehin alles tun was ich will, meine Geliebte werden und mein Modell …«

»Im Ernst, ich höre das nicht mehr an.«

»Was würde es helfen. Sie haben es schon angehört: ein Sterbender lag zwischen uns, ein Zeuge, der von dem Gehörten nichts mehr herausgibt. Es ist unabänderlich.«

»Vorhin, als Sie die Geschichte zum besten gaben von der grausamen Madonna, wissen Sie, daß ich da im Begriffe war, mich Ihrer Bekanntschaft zu berauben? Ich tue es nicht, bemerken Sie das wohl. Denn ich fürchte mich nicht davor, von Ihnen kompromittiert zu werden. Und ich will nicht, daß Sie sich das einbilden. Ihre Begierden und die Gedanken der andern – es sind ja alles nur Spiele um mich her.«

»Ich weiß, Sie bleiben unerreichbar.«

»Darum die Ungeheuerlichkeit Ihrer Anmaßung?«

»O, Sie, Herzogin, muß man von einer wagehalsigen Höhe herab behandeln. Man muß Ihnen eine überstarke, ruchlose Männlichkeit vorspiegeln. Die einfache männliche Liebe mißverstehen Sie; sie dringt nicht bis zu Ihnen. Ihre natürliche Überzeugung ist, daß Sie einzig, dem Rest der Menschheit unzugänglich, und unfähig sich ihm zu nähern sind. Und Sie sind es! Sie können, ohne sich zu täuschen, niemandes Freund sein. Wie bemitleidenswert sind Sie! Auch in der Liebe – was für eine Liebe! – gibt es mit Ihnen nur Feindschaft – schlimmer noch: Fremdheit.«

Er sah, wie sie erschrak, und war plötzlich heiß von dem Drange, sie in die Arme zu schließen.

»Verzeihen Sie«, sagte er lautlos, »es waren nur böse Worte. Ich will Sie ja lieben, mitten in Ihrer Einsamkeit. Wenigstens den Schmerz von eben müssen Sie vergessen. Wir werden uns sehr lieben und uns gar nicht quälen.«

»Hoffentlich«, erwiderte sie.

»Wir haben schon vorher genug mit einander gekämpft.«

»Das wenigstens ist wahr. Ich sehne mich sehr nach Ruhe. Sie werden mich auf dem Lande ein wenig allein lassen. Ich nehme nur Nino mit.«

»Werden Sie mir schreiben, wenn ich kommen soll?«

»Ich weiß nicht … Frau Bettina!«

»Herzogin?«

»Ich schreibe Ihnen bald, um Sie um Ihren Besuch zu bitten. Werden Sie herauskommen?«

»Ja.«

Clelia rang still die Hände. »Sie ist gar zu einfältig!«

»Gina«, sagte die Herzogin, »Sie hatten Geschäfte zu ordnen, in Ihrer Heimat. Wann reisen Sie?«

»Ich würde sogleich aufbrechen, aber Nino weigert sich.«

»Du willst nicht?«

Er sah ihr in die Augen.

»Nein.«

»Dann komm’ mit mir aufs Land, so lange deine Mutter fort ist. Wir werden ganz allein mit uns sein und sehr glücklich.«

· · ·

Tags darauf reisten sie. Es war später Nachmittag, als sie den Berg hinanfuhren zur Villa. Nino war verstummt, er bedachte: »Ich sitze auf diesen seidenen Kissen neben meiner Yolla, ich entführe sie auf ein Zauberschloß. Es ist ganz eingesperrt in ein Dickicht. Niemand kann hinein zu uns. Ich hatte mir zugeschworen, daß es so sein sollte. Aber glaubte ich wirklich, es würde kommen?«

Die Weinhügel und die Felder mit Ölbäumen erhoben sich langsam. Der Weg begleitete sie in Windungen, zwischen grauen Mauern; darauf blühten schmale Reihen blaßroter Rosen. »So still und gerade und andächtig stehen sie da«, meinte der Knabe, »wie auf den alten Bildern die Rosen, wenn sie Wacht halten vor der Madonna.«

Einmal trat weit dahinten, in der Höhe aus lauter wogenden Kronen eine Treppe heraus – nur ein paar schmale Stufen; unter ihnen schlugen die Bäume wieder zusammen.

»Dort werden wir hinaufgehen«, sagte die Herzogin.

»Dort werden wir hinaufgehen«, wiederholte er, ohne es zu fassen, ohne fest daran zu glauben. Eine winkende Treppe, droben in der Luft, nur von rankendem Grün getragen und verschwindend, wer wußte wo, in Märchen wohl – die sollte er hinansteigen, mit Yolla … Es war nicht auszuhalten, all die Seligkeit. Er seufzte.

»Ich wollte, wir kämen niemals an«, sagte er leise.

Sie lachte:

»Meinetwegen. Wie frisch riecht all das Laub. Hier ist die Sonne gut und milde. Weißt du wohl, die Kanäle faulten sehr.«

Sie erinnerte sich, wie unfroh ihre Gondel im engen Schatten hingeschlichen war. Ein eherner Himmel lastete auf den schweigenden Palästen. »Ich will ausruhen«, dachte sie. Sie atmete voll, ihr Blick strich hinunter über den tiefen Irrgarten von Reben, über der Oliven weite Silberwellen, und hinaus in das friedlich besonnte Land. Auf jenen Hügel lagerte sich ein Wolkenschatten. Im Licht oder dämmernd lauschten am Abhang die Villen. Dahinter starrte eine blauschwarze Bergwand von Nadelholz. Überall tauchten aus Kränzen und Versenkungen schimmernden oder stumpfen Grüns steinerne Inseln auf. Türme mit Zacken, winklige Mauern, Pfeilerhallen, lange Schloßflügel wurden zerstückelt und in Schatten geworfen von dicken Baummassen oder stiegen blendend hinein in den Duft der Ferne.

»O, es ist weit bis – zu ihm. Hier bin ich in Sicherheit.«

Unsichtbaren Beeten zu ihren Füßen, jenseits der Wegeinfassung entschwebten Heliotropdüfte. Die Pferde schnoben; Schaumflocken flogen von ihren Gebissen, leicht und glitzernd. Auf einem Acker wehte ein Rosenschleier, eingestickt in das blasse Gewebe der Ölblätter.

»Nun sind wir wohl doch angekommen?« fragte Nino. Sie hielten vor einem Tor. Die Mauer war von Epheu dicht verhüllt. Steineichen überdachten sie glänzend und schwer. Ein alter Mann lief herbei, er schwenkte die Arme und kreischte Begrüßungen. Einige andere Leute zeigten sich.

»Bleibt alle hier«, befahl die Herzogin. »Wir benützen die Treppen.«

Sie verließen den Wagen; er fuhr auf der Straße, in großem Bogen, den Garten hinan. Die Herzogin sprach noch mit dem Alten; Nino suchte den Anstieg.

»Hierher, junger Herr«, sagte eine der Dirnen. Sie sah ihn an; ihre Zunge schlängelte heraus und legte sich mit der Spitze rot vor die oberen Borderzähne.

Die Herzogin kam; sie gingen geradeaus über eine schräge Wiese. Vor dem schwarzen Schatten, womit getürmte Wände von Lorbeer und Lentaggine ihren Hintergrund zudeckten, bäumte sich, leuchtend und flatternd, das Flügelroß. Neben dem Schatten glänzte das Gras sehr weich.

Dann stiegen sie mitten hinein in die Mauern aus Laub, über ein Gerüst doppelter Treppen, die sich trennten, in Winkeln wieder zusammentrafen und einander hinangeleiteten von einer Terrasse zur andern. Bald war’s eine flache breite Rampe, und droben, in seiner Nische aus blitzendem Lorbeer, auf seinem Sockel dem ein Quell entrann, ragte Apoll und erwartete, die Leier auf der Hüfte, herrisch die Nahenden. Bald war’s eine Stiege, eng und steil, und im Rascheln der Blätter vernahmen die Vorüberstreifenden das leise Lachen des Satyrs; er streckte die spitzen Ohren aus grünem Dunkel.

Auf einmal drückte Nino den Kopf in den Nacken.

»Yolla, da ist das Haus. Es ist ganz offen und voller Rosen. Werden wir wirklich dort wohnen?«

»Mitten unter Rosen – wenn du möchtest. Sie hängen um Säulen, siehst du. Die Säulen tragen eine Loggia; sie versinkt halb im Lorbeer und in Rosen. An ihr vorbei zieht die Balustrade, die diesen Stufenbau beherrscht und den Gartenhügel säumt. Auf ihr die weißen Büsten, die nenne ich dir alle mit Namen. Es sind alles Menschen, in deren Leben etwas sehr Schönes uns stolz macht.«

Sie traten hinaus auf die helle Fläche; ein Brunnen begrüßte sie mit Gemurmel – und sie erreichten das Haus. Seine Breite lag seitwärts. Es war niedrig, lang, und hatte hohe, blinkende Fenster, spitz gegiebelt. Es schob seine Freitreppe in gelassenem Schwunge zwischen Bosketts von Sabinen- und Lebensbäumen, mit hellila Früchten.

Sie speisten in einem kühlen Saal. Seine fünf Fenster standen offen. Draußen hing ein rosiger Duft. In der Ferne durchbrachen ihn der Zypressen schwarze Kegel. Sie ränderten sich silbern, eine nach der andern. Es war Abend.

In der Nacht wachte Nino auf. Er hörte Grillen zirpen und das Geplätscher des Brunnens. Er sah ins Dunkel und sann. Plötzlich senkte sich etwas auf seine Stirn, voll und weich.

»Ja, sie ist hier gewesen, gestern abend, und hat mich geküßt. Ich schlief schon, aber ich habe es doch gefühlt. Ich fühle es noch. Nun schläft sie wohl, und ich denke an sie, ich ganz allein. Denn in diesem weiten Hause ist niemand außer uns beiden. Ich will mir genau vorstellen, daß keiner den Brunnen hören kann als Yolla und ich. Nun knarrt ein Fenster, ist es ihres? Wie seltsam! Es führen gewiß lange, fremde Gänge bis zu ihr. Ich kenne nicht die Tür, durch die sie eingetreten ist. Welche Bäume in ihr Zimmer sehen, weiß ich nicht. Und doch, wenn ich jetzt ›Yolla‹ sagte, vielleicht hörte sie’s. So nah ist sie und so ungewiß; als ob wir Geister wären. Ein Geisterschloß ist dies. Die Diener von gestern stehen jetzt gewiß wieder in den Büschen als Marmorbilder mit Bocksfüßen …«

Am Morgen, mit noch geschlossenen Lidern, fiel es ihm zu süßem Schrecken ein, wo er sei. Er stand auf, immer noch blind, er tastete sich ans Fenster, beugte weit den Leib hinaus und öffnete auf einmal die Arme und die Lider. In der feuchten Frühe zwitscherte es, blinkte und blaute. Die Früchte spiegelten sich in den Wasserflächen, und in taunassen Gräsern die Blumen. Aus den Brunnen tranken die Vögel zusammen mit den Tritonen. Die Steinernen duckten sich unter die rinnenden Schalen. Sie hatten weiße Schultern: die Hand, die das Wasser schöpfte, und der fleischig gedrückte Schenkel, über den es rann, waren begrünt.

»Schau doch die schöne Frucht!« sagte Jemand, mit verstohlenem Kichern. Nino sah hinunter in das Gesicht des Mädchens, das er kannte. Sie hatte wieder die Zungenspitze vor die Zähne geschoben. Sie war breithüftig, ihr Haar war kraus, ihre Wangen rot. Sie betrachtete, eine Hand am Spalier, des Knaben bloße Füße’ und seine Beine; ihre Form zeichnete sich ab im Hemde. Er hing über der eisernen Brustwehr des Fensters; es stand offen bis auf den Boden.

Ihre Zunge bewegte sich; auf einmal warf sie den Pfirsich in die Höhe. Er klappte gegen Ninos schmale und ungeübte Hand und fiel ins Gras.

»Bist du ungeschickt, junger Herr!«

»Ich habe dich ja nicht um den Pfirsich gebeten.«

»Nimmst ihn aber doch!«

Sie zielte noch einmal; er fing. Dann zog er sich zurück. Er kleidete sich an und dachte:

»Yolla ist noch nicht aufgestanden, es ist sehr früh. Soll ich das Frühstückzimmer suchen? Ich will lieber noch gar nichts kennen hier; es soll noch das Geisterschloß bleiben … Wie der Pfirsich sich üppig anfühlt! Wie Yollas Haare fast. Er schwillt mir in der Hand, als sei er mit nichts als Saft gefüllt.«

Er aß ihn. Dann lugte er aus dem Fenster; das Mädchen war fort. Er stieg am Spalier hinab und lief davon, zwischen Magnolien, Granatbäumen und Erdbeersträuchern mit weichen, klebrigen Früchten, bis hinüber, wo Steineichen ihre gestutzten Kronen zu Lauben schlossen. Oben im Licht gleißten sie hart, tiefe Nacht hauste unter ihren Dächern, und vor ihren Toren schaukelten wilde Rosen. Hoch über ihnen, irgendwo in der Ferne, schwang sich schimmernd ein Gott. Sie durchkreuzten einander, vielfältig und unentwirrbar; Nino verlor sich in ihnen, hinter weiten Zielen, hundertmal verhängten und freigegebenen, einer Vase, einem Bilde oder, im smaragdenen Grase, einer Marmorschwelle, die lockten und verhießen: »Hier ist der weichste Rasen, die lieblichste Sonne, der laueste Schatten.«

Nino ließ sich nirgends festhalten, er meinte, es müsse immer noch schöner kommen. Er fand den Bergweg und folgte ihm, dem Garten entführt, bis zur Kuppe. Im Winde standen oben, kranzmäßig und gegen eine helle Wolke, sechs Zypressen, unbewegt und wie aus grünem Marmor. Nino setzte den Fuß in ihren Kreis, aber er verwickelte sich in Netze. Aus einer Holzhütte hinter den Bäumen stürzte der Alte von gestern, kreischend und die Arme schwenkend.

»Gehe nicht weiter, junger Herr, gleich hätte ich sie gehabt.«

»Wen.«

»Die Vögel. Siehst du nicht? So ziehe ich diese Netze zu. Ich kann hundert auf einmal fangen – was sage ich, tausend. Wie viel glaubst du, daß ich voriges Jahr gefangen habe? Dreißigtausend. Im ganzen Lande …«

Er wies hinunter.

»… essen sie meine Vögel.«

Der Knabe sagte heftig:

»Es sind nicht deine Vögel. Ich verbiete dir, sie zu töten.«

Der Alte sprang umher.

»Die Vögel? Und wozu sind denn die Vögel da! Man fängt sie eben, die Frau Herzogin hat es niemals verboten.«

»Sie weiß es natürlich garnicht. Darum verbiete ich’s dir, ich!«

Er stampfte auf. Wie war dieser Alte häßlich: hochschulterig, kahlschädelig mit langen, knorpligen Gelenken – und er wollte die schönen Vögel töten. Nino umkreiste stolzen Schrittes die Zypressen, verächtlich trat er in die Netze. Dann machte er sich an den Abstieg. Der Mann setzte ihm nach.

»Junger Herr, habe Mitleid mit einem armen Alten, sage es nicht der Frau Herzogin.«

»Ich kann nichts versprechen«, erwiderte Nino und eilte davon.

»Ich werde es wohl nicht sagen«, so überlegte er, »Ritter prahlen nicht viel. Das war ein wahrer Zaubergreis, ich werde auf ihn Acht geben: ich entreiße ihm noch all die hübschen Geschöpfe, die er töten möchte.«

Er pfiff, das Gesicht nach oben gewendet. Dort zogen Wolken: eine sah aus wie das leichte, flatternde Gewand um eine Frau. Daneben formte eine sich zum Ringe, und das Blau, das sie einfaßte, kam ihm tief vor wie ein Brunnen – ja, golden vor Tiefe, als berge der Brunnen eine Krone.

Bei einer Biegung eröffnete sich ihm der Garten. Er sah hinab auf die Steineichen. Lange Rosenketten schlangen sich über ihre glitzernden Gewölbe und bis in den Hintergrund, wo sie nur noch umherwehten als ein rosiger Rauch. Ein paar kalkweiße Flecken durchbrachen dort die Büsche.

»Da ist es. Da ist das Schloß«, sagte Nino ganz laut. Er setzte die hohle Hand, an den Mund und blies, wie in ein Horn. Dann wandte er sich, als wartete hinter ihm ein Gefolge.

»Nicht wahr, ihr Holzhauer, das ist das Schloß, wo Dornröschen schläft? Ich wußte es. Ihr, meine Jäger, ihr Knappen, bleibt alle zurück. Haltet die Rüden an der Leine. Folge mir keiner: die Hecken öffnen sich nur mir allein. Ich komme nach hundert Jahren.«

Er war unten, er schlenderte, eine Hand auf der Hüfte, bis an die Balustrade über den Terrassen. Er hüpfte zwei Treppen hinab, fuhr mit den Fingern über die dicken rostigen Saiten auf der Leier des Apoll – sie blieben stumm – und sah in die Höhe. Die Loggia weitete sich in der Sonne und voll Rosen. Er stieg wieder hinauf, bis unter ihre Bögen. Auf dem Geländer tänzelte er geradeswegs hinein in das Gebüsch aus Lorbeer und Rosen, woraus sie sich erhob. Er reckte sich, prüfte den Abstand. Sie war geschützt durch eine niedrige, durchbrochene Marmorwand. Ein geschmiedeter Fackelträger ragte quer heraus. Nino vermochte ihn zu fassen, er zog sich hinauf, er erreichte den Boden und stieg über die Wehr. Auf seiner Schulter war ein Rosenzweig hängen geblieben.

Er sah sich nicht um: er trat, die Hand auf der Hüfte, an die offene Saaltür. Drinnen lag die Herzogin in einem geflochtenen Stuhl. Sie stützte die Wange in die Rechte. Aus ihrer lässigen Linken glitt ein Buch langsam hinab an den Falten des weißen Gewandes.

»Liebe Yolla«, flüsterte er, und »liebe, liebe Yolla« – immer ein wenig lauter, bis sie es hörte.

»Aber woher kommst du denn?«

»Aus dem Garten.«

»Wie ist das möglich, die Mauer ist ja höher als du.«

»Du irrst dich, es ging. Übrigens wollte ich es.«

»Komm’ einmal heraus«, rief sie und sprang auf. »Sieh dort hinunter. Es ist steil, nicht wahr, und tief. Ich wußte gar nicht, daß du so gut turntest.«

»Ich tue es auch garnicht«, erklärte der Knabe und errötete. »Aber soeben habe ich Dornröschen gespielt. Ich war der Prinz.«

»Ah! Und ich …«

»O nein, du nicht«, versicherte er eilig und senkte den Kopf. Aber sogleich erhob er ihn wieder, erblaßt.

»Doch: du, Yolla.«

»Ich bin ja stolz darauf«, sagte sie, ohne zu lächeln. Sie löste die Dornen von seiner Schulter und heftete die Rosen sich selber vor die Brust.

»Was hast du sonst getan?« fragte sie.

»Ich habe einem gemeinen Menschen ein Unrecht verboten.«

»Er hat dir hoffentlich gehorcht.«

»Gewiß.«

»Nun, du würdest nicht dulden, daß er sich weigerte.«

Sie sah ihn an, ganz ernst. Ihres Vaters Worte fielen ihr ein: »Das Schlimmste wäre, wenn einer es an Ehrerbietung gegen dich fehlen ließe. Ich würde ihn schwer bestrafen. Nötigenfalls würde ich ihm den Kopf abschlagen lassen.«

Dann erkundigte sie sich:

»Kennst du schon die Allee des Schweigens?«

»Ich glaube nicht.«

»Auf der Schattenseite, drüben am Abhang. Heute nachmittag gehen wir hin, willst du?«

Er langweilte sich nach Tische, während sie ruhte, und war sehr neugierig auf die Allee des Schweigens. Aber er ging nicht hin. Er blieb mit seinem Dante am Steintisch sitzen, mitten in einer gedeckten Gallerie von Steineichen, an dem Punkte, wo sie durchschnitten ward von andern Lauben, und wo im leisen Zugwind so viele Blätter raschelten, daß er sich oftmals umwandte, nach ihren Schritten. Plötzlich aber, wie er gerade ganz in den Versen war, lag ihr Arm auf seinem Nacken. Er regte sich nicht und bebte heimlich – bis sie ihn mitkommen hieß.

Sie erreichten den jenseitigen Rand des Hügels; hohe Lebensbäume begleiteten seine Senkung, wild verrankt. Zwischen ihren dumpf duftenden Mauern schwoll droben ein Strom von Blau. Am Saum der stillen Straße zu ihren Füßen hatten Gäste aus Stein sich verspätet. Männer in Togen stützten das Kinn in die Hand; mächtige Damen betrachteten ihre kleinen Füße; Hermes trug mit Verwunderung auf seiner Faust ein winziges Kind – er, der so schön und schnell war.

Unten traten sie in ein weites Rund; Nadelbäume und Gestrüpp schlossen es finster. An ihnen entlang bogen sich alte Marmorbänke. Die Mitte des Platzes umkreiste, weit und übertürmt von Riffen, ein Brunnen. Seine Najaden verlockten nackte Reiter; sie warfen sich ins Wasser, sie schwangen die Schwerter. Neptun, auf dem höchsten Felsen, drohte ihnen mit erhobenem Dreizack. Die Meerweiber flüchteten, flatternden Haares, mit versteinertem Geschrei. Sie stürzten in die Kaskade. Tritonen begünstigten ihre Flucht, aber drunten harrten ihrer, ein Bein über dem Brunnenrand und lüstern grinsend, Satyrn und Faune.

Die Herzogin lehnte sich über das Gitter und sah dem Spiele zu.

»Es ist verschwenderisch mit Abenteuern«, sagte sie, »und arm an Wasser.«

Nino sagte:

»Das wußte ich, daß du heute an diesem Brunnen stehen würdest.«

»Du warst also doch schon hier?«

»Nein …«

Der Knabe blickte in das Becken; es war, unter dem reinen Himmel, ganz von Blau erfüllt – und auf seine Geliebte. Sie war in einem weichen, weißen Kleide; es fiel ohne Einsenkung von den Schultern bis auf die Füße. Sie bewegte sich, sie sprach ein Wort, und das leichte Gewebe schwankte, alle Umrisse formend, an ihren Gliedern hin. Er dachte an das Verwehen einer Wolke.

»Aber am Himmel habe ich es gesehen«, versetzte er.

Sie antwortete nicht; und beide lauschten sie, mit geneigten Stirnen, dem Erwachen der Brunnen. Der Park war voll von ihnen. Sie waren fern, sie lagen versenkt im Dickicht, und sie versiegten. Aber nun, in der tiefen Stille, begrüßten sie einander. Sie wisperten, sie seufzten und sangen kaum vernehmlich. Der Knabe meinte fast, es seien die Stimmen der schillernden Blumen auf dem Kleide seiner Geliebten, ihre Glieder entlang – wer weiß, vielleicht die eigenen Stimmen ihrer Glieder. Es hauchte ihn daraus eine Ermattung an, eine Verleitung zu Traum und Hingabe mit gefalteten Händen. Er dachte: »Yolla trägt jetzt weitere Gewänder. Früher ging sie in knappen Kleidern und rasch. Jetzt ruht sie gern, sie ist blaß und schließt die Augen.«

Da hörte er sie sagen:

»Du lebst ja auch mit dem Gefühl, Nino – du auch. Ich habe auf die Art schon so viel gelebt, habe mich verschenkt an Träume und an Bilder, und gefühlt – gefühlt. Es war wie eine Wanderung im heißen Sande, scheint es mir heute, durch die halbe Wüste, mit trockenem Munde und verbrannten Sohlen. Jetzt möchte ich eine Oase erreichen und mich abkühlen. Man soll mich fächeln, ich will an nichts denken. Man soll mich lieben.«

Sie hatte das Gesicht nicht erhoben. Er hörte ihre Worte einzeln fallen, als tropften sie ins Wasser. Sie entgingen ihm und machten ihn ängstlich.

»Du siehst«, sagte sie, »ich spreche mit dir als mit einem richtigen Freunde. Du und San Bacco, ihr seid meine Freunde.«

»Yolla …« murmelte Nino.

»Wie dankbar bin ich dir für diesen Namen. Wie konntest du ihn erfinden? In meinem ganzen Leben, mußt du wissen, hatte noch keiner mir einen Kosenamen gegeben … Man soll mich nur lieben«, wiederholte sie ganz schwach.

Nach einer Weile richtete sie sich auf und ging zur Bank. Sie setzte sich in eine Ecke, mit dem Rücken gegen einen leeren Sockel. Nino betrachtete sie, brennend und scheu. Das Kleid raffte sich über ihren gekreuzten Schenkeln in kleine scharfe Querfalten. Die längeren, vom Halse herabgestiegenen, verliefen, gewellt und üppig, um ihre Hüften. Ein Arm bog sich dem Haupte zu; es ruhte hell auf dem schwarzen Vorhang der Koniferen. Der andere streckte sich schlaff auf die alte, grün behaarte Marmorlehne. Er sah nackt aus bis über die Schulter, in der durchsichtigen Silbermuschel des gebauschten Ärmels. Sie verlangte:

»Nun sage mir, was du vorhin gelesen hast.«

Er sah in die Höhe. Auf zwei Zypressen hinter ihr, ganz oben im Wipfel, hockten zwei weiße Tauben und girrten. Er begann leise, und den Blick an der Spitze der Zypressen:

»Amor ch’a cor gentil ratio s’apprende,

Prese costui …«

Er sprach immer weiter, ohne nachzudenken. Die Worte kamen mit seinem Atem, er rief sie nicht. Er kannte kein anderes Liebesgedicht als das von Francesca. Sie sah von unten über sein Gesicht; das Licht glänzte darauf, es erhellte ein wonniges Leiden, eine begeisterte Sehnsucht, zu schmelzen inmitten dieser Verse – als ein süßes Wort von vielen – und mit der Luft, die es ihr zutrug, eine Sekunde lang um ihre Brust zu fließen.

Auf einmal wandte sein Blick sich hinunter, auf ihren Arm, auf ihren Hals. Nino stockte; er schüttelte langsam den Kopf. Sie las in seinen Augen: »Was helfen alle Verse, was aller betäubende Drang, fliegenden Herzens, hin zu dir! … Nichts dringt bis zu deiner Schönheit. Sie ist ganz unerbittlich. Warum prüfst du mich so müde und so innig, unter schweren Lidern hervor? Yolla, liebe Yolla, du bist grausam vor lauter Schönheit.«

Dann beendete er:

»Quel giorno più non vi leggemmo avante.«

Aufseufzend setzte er sich neben sie. Still sahen sie dem Weben des Abends zu. Er breitete wie gestern seine Rosenschleier durch die Luft. Die Spitzen der beiden Zypressen stachen hinein, und die zwei weißen Tauben verfingen sich darin. Sie flatterten sanft davon, mit Füßen gleich Blutstropfen.

Der runde Platz versank langsam in Grau. Die Herzogin nahm den Knaben bei der Hand; sie durchschritten wieder die Allee des Schweigens. In einem schrägen Sonnenstreif flimmerte der Kies violett. Jede der steinernen Gestalten ergab sich der Einsamkeit und dem Dunkel. Einmal leuchtete eine auf; wie Nino sich umwandte, war sie nur noch eine Schattenform. Der breite Himmelsfluß, droben zwischen den schwarz gezackten Lebensbäumen, zog träge und blaßsilbern. Und unter ihm bewahrten alle das Schweigen: ergebungsvolle Weise, geduldige Liebende, verschüchterte Götter.

Der Knabe schwieg an der Hand seiner Geliebten, deren Gewand schaukelte. Er sagte sich mit Bedacht:

»Ich werde wohl auch einmal sterben, so seltsam das ist. Dann will ich daran denken, daß ich diesen Tag erlebt habe. Was soll das Übrige?«

· · ·

»Ist es denn nicht möglich?« fragte er sich eine Woche lang, in den Irrwegen der Bosketts, auf dem Berge, bei den Brunnen und in seinem Zimmer – und »Was?« antwortete er sich selbst.

»Sie nennt mich ihren Freund. Niemals lächelt sie über mich, nicht einmal wenn ich mich verraten habe und mich schäme. Sie selber gesteht mir Geheimnisse – ich begreife sie nicht, doch erschrecken sie mich, und ich meine, es seien eher die Brunnen im Dickicht, die so sprächen … Nun also, könnte sie mich nicht lieben wie einen Mann? Es klingt verrückt, das weiß ich natürlich, aber nimm einmal einen Augenblick, nur im Spiel, die Möglichkeit an. Du bist ja kein Kind mehr, bist keinen Kopf kleiner als sie selbst, nicht wahr? Denke einmal an das Bild der Heiligen Katharina, in unserer Kirche beim Lyceum. Was für eine große, mächtige Frau – und wie bewegt und zärtlich bietet sie ihre üppige Hand ihrem Bräutigam: dem kleinen Jesuskind.

Sie ist schön! In weißem Damast und goldenem Mantel, ganz behangen mit Perlenschnüren und im Haar eine Krone voller Edelsteine. Die Engel singen; rote Fahnen schlagen hinter ihnen zusammen um weiße Säulen … Was für ein Fest! So sollte es sein, gerade so, mit Yolla und mir.«

Er beschwor sich, in der Angst, seinen Traum entflattern zu sehen.

»Überlege doch, wäre ich achtzehn, nein nur siebzehn und hätte zwei, drei Barthaare, dann würde niemand sich wundern. Heißt es nicht, daß Antonio Fabrizzi, aus der achten Klasse, der Geliebte der Frau eines Obersten ist? Drei Jahre fehlen mir, das ist alles – und was wäre das für eine Welt, in der das unermeßliche Glück – weiß ich denn, wie es überhaupt wäre? – nicht sein kann, bloß weil einer drei Jahre zu jung ist!«

Er riß sich an den Kleidern vor der Brust, und an den Handgelenken.

»Willst du denn nicht wachsen, nicht breiter werden! Ich würde mit dem Teufel ein Bündnis schließen! Er sollte mich zum Manne machen, für heute und ein Jahr, und mir Yollas Liebe geben. Mag er dann meine Seele nehmen … Ein Jahr? Nein, ein Tag. Für einen Tag täte ich’s! Leider will von mir der Teufel nichts wissen – wahrscheinlich, weil ich von ihm nichts weiß. Warum müssen wir auch ungläubig sein! Warte einmal …«

Und er überließ sich seinen Vermutungen über Wirklichkeit oder Fabel der göttlichen Dinge. Sie geleiteten ihn langsam in den Traum hinüber.

Am Morgen beschloß er pochenden Herzens:

»Ich frage sie, ob sie mich heiraten will. Es ist im Grunde vielleicht sehr einfach, nur meine Grübeleien verwickeln die Sache. Es soll immer so sein bei Liebenden … Sie sagt Ja, weil sie mich lieb hat. Wir warten bis ich zwanzig bin …«

Am Abend zog er die Decke bis übers Kinn, biß die Zähne zusammen und murmelte:

»Wie geht es zu, daß solch ein Wahnsinn in meinem Kopfe entsteht?«

Beim Aufwachen schlug er die Hände zusammen.

»Aber ich liebe sie so sehr!« Muß sie es nicht erwidern? Es kann niemand so viel Liebe umsonst empfangen, es wäre zu ungerecht: die Liebe ließe es nicht zu.

»Amor ch’a nullo amato amar perdona …«

»Yolla ist blaß, sie ist müde, sie trägt weite Kleider. Sie sagt: ›Man soll mich lieben‹ – gewiß, sie meint mich!«

Und nachts stöhnte er:

»Nicht mich – ich weiß es ja – sondern den andern!«

Er nahm seinen Kopf in beide Hände; er schmerzte ihn von all den Anstrengungen, womit er in seinem Hirn die Wahrheit unterdrückt hatte.

»Glaube doch nicht«, so rief er dem Nino zu, der am Selbstbetrug hing – »daß ich deine unmöglichen Einbildungen im Ernst anhöre. Ich weiß ja doch, wie es kommt!«

Er wußte nichts – und das war das Schrecklichste.

Eines Nachmittags sagte die Herzogin:

»Gehen wir hinab auf die Straße! Ich erwarte Gäste.«

Er tat keine Frage; er fühlte sein Blut stocken.

»Frau Bettina und ihren Mann«, erklärte sie.

Unterwegs redeten sie kaum. Die Tage waren schwül geworden. Einmal, bei einer Wendung, sah der Knabe droben aus den Massen Grüns die weißen Stufen treten.

»Nun verschwinden sie wohl für immer«, dachte er. »In das Märchen zurück führen sie sicher nicht mehr.«

Er zerbiß sich die Unterlippe; es gelang ihm, nicht zu weinen.

Die Herzogin sagte matt:

»Sie scheinen nicht mehr zu kommen. Kehren wir um.«

Nino ging in Hoffnung und Qual. Die Treppe zeigte sich nochmals. Plötzlich stellte er fest, kalt und beinahe befreit:

»Jetzt ist alles aus.«

Er hatte Wagenrollen gehört. Jakobus und seine Frau stiegen aus. Er begleitete die Herzogin, Nino mußte Frau Bettina voranführen. Seine taube Ruhe verließ ihn nicht; er ging mit ihr zu Bett, und schlief eine Stunde lang.

Dann öffnete er die Augen und war auf einmal schlaflos wie am lautesten Tage. Eine Angst durchzitterte ihn, bis in die Fingerspitzen. Bei jedem Knacken eines Holzes, bei jedem Blätterrascheln im Garten fuhr sein Fuß aus der Decke.

»Jetzt ist es Nacht, jetzt ist es Nacht. Was geschieht jetzt – Himmel, was geschieht jetzt. Sind sie beisammen? Wenn Zwei sich lieben … Sind sie in Yollas Schlafzimmer? Ich kenne immer noch nicht die Gänge die dorthin führen, und nicht die Tür durch die sie eintritt. Ich weiß gar nichts! Was tun sie? Wenn die andern in der Schule Geschichten von Weibern erzählten, habe ich mich gestellt, als verstände ich. Warum habe ich es mir nicht erklären lassen! Von dem kleinen Mignatti! Ich hätte ihm mit Prügeln drohen können, damit er’s nicht weitersagt … Sie küssen sich, gewiß, dann ziehen sie sich aus. Dann – legen sie sich ins Bett? Und dann, was dann?«

Er hielt sich den Mund zu und stöhnte.

»Nein! Jene haben gelogen! Alle Weiber könnten solche Dinge begehen. Aber um Yollas willen leugne ich sie. Ich leugne, daß es das gibt!«

Er kniete im Bett, er reckte flehend die Hände, tränenüberströmt, sinnlos.

»O, laß es nicht zu!«

Da schrak er zusammen; er fiel vornüber. Er hatte draußen ein Geräusch gehört. »Es sind Schritte.« Er war schon am Fenster. Es trat jemand aus den Steineichen heraus. Nur einer? Ja, nur einer. Seine Zigarre glomm: es war Jakobus. Er kam näher, er erkannte den Knaben.

»Nino, du schläfst nicht? Komm doch herunter.«

»Gleich!« rief Nino und sprang zurück. Er liebte diesen Mann!

»In den Lauben ist er umhergewandert, indes ich lag und Unsinn phantasierte. Es ist alles, alles nicht wahr!«

Er warf sich in die Kleider und lief. Inmitten seines Jubels ergriff ihn die Furcht, die Füße möchten ihm versagen. Aufatmend sagte er:

»Da bin ich.«

Sie gingen lange nebeneinander her. Jakobus dachte: »Ich halte es nicht aus, mit ihr unter einem Dache zu schlafen, und getrennt von ihr. Es ist eine Demütigung. Ich werde gar nicht zu Bett gehn. Wenigstens habe ich diesen Buben bei mir, der mir so sympathisch ist. Ich glaube manchmal, wenn er nicht wäre, würde sie mich gar nicht lieben. Es war mir eine Wohltat, ihn bei ihr zu wissen.«

Er tastete nach seinen Zigaretten.

»Magst du eine?«

Nino rauchte und freute sich seiner Ruhe und Sicherheit.

»Ich habe ihn neben mir – da, ich brauche bloß die Hand auszustrecken. Es kann nichts geschehen.«

Und inzwischen wanderten sie immer in die Runde, unter den flimmernden Sternen; wanderten den Berg hinab und wieder zur Höhe, zwischen den Lebensbäumen mit den mondgrellen Bildern und im Schatten der Bosketts, die Rosenhecken entlang, durch das Dickicht und um die Brunnen herum – aber niemals am Hause hin und unter seinen offenen Fenstern, aus deren einem die Nachtluft schlummernde Atemzüge heraustrug: den Atem ihrer Geliebten.

· · ·

»Ich habe fast die ganze Nacht gewacht – für Yolla«, so sagte sich Nino mit Stolz. Aber er war müde und lungerte umher. Nach dem Essen, als sogar die Vogelstimmen einschliefen und man nur noch die Hitze schweigen und brüten hörte, schlich er die Bilderallee hinunter, an dem großen Brunnen vorbei mit seiner Jagd von Reitern, Nymphen und Tritonen – und in die Büsche. Sie umstanden verwildert den runden Platz. Man mußte sich durchschlagen bis in ihre Tiefe, auf engen Pfaden, von Dornen überspannt. Distelblüten reckten ihre gelben Köpfe und dufteten seltsam. Ein Eichkätzchen raschelte. Ein großer scheuer Vogel hastete dicht beim Fuß des Tastenden, mit rauhem Schrei und flügelklatschend in die Höhe.

Endlich gelangte der Knabe auf ein geräumiges Dreieck, mit Gras bewachsen und seit langem erobert und formlos gemacht von wuchernden Hecken. Ein Vorhang hoher Platanen, die Epheu bekleidete, war vor ihnen herabgelassen. Den spitzesten Winkel des Platzes schnitt er ab. Nino drückte sich hindurch, in das Versteck. Da ruhte unter einem hängenden Felsblock, im hohen Rasen, etwas Begrüntes, Marmornes. Es war wohl einmal eine Brunnenschale gewesen; noch früher ein Sarkophag. Darüber, am Felsen, starrte eine große steinerne Maske; ehemals hatte sie gewiß Wasser gespien. Eine zweite, mit hohlen Augen und aufgerissenem Munde, gähnte in der Wand des antiken Troges; sie hatte einst das Überquellende entlassen.

Nino brach ein Loch in den Epheu, der die Ränder überrankte. Er kroch in die Höhlung und streckte sich auf die Kissen trockener Pflanzen. Eine Blindschleiche glitt ihm durch die Finger und verschwand. Dann war er ganz allein. Über ihm, an der luftigen Decke aus herzförmigen Blättern, humpelte, mit dem Rücken nach unten, ein dickbäuchiger Käfer. Es war still, kühl, es duftete nach welkem Laub. Er brauchte sich nur halb aufzurichten und konnte sein Gesicht in die Maske hineinlegen, die als Ausfluß gedient hatte. Aus ihren Augenhöhlen lugte er, zwischen den Platanen hindurch, auf das verwahrloste Dreieck mit dem unbetretenen Rasen. Ein paar Sonnenstrahlen fanden und verloren sich darin. Eine Blume glänzte auf. Eine Meise sang. Der Himmel war dunkelblau. Nino fiel zurück und schlief ein.

Im Aufwachen hörte er, irgendwo dahinten, Jakobus sprechen.

»Ich kann machen was ich will: der Akt bleibt flau in der Farbe. Die grüne Beleuchtung ist zu unglücklich … Und Sie wollen durchaus nicht droben vorm Hause?«

Die Herzogin sagte:

»Sie verlieren den Kopf. Ich werde mich ganz nackt vor eine Rosenhecke stellen.«

»Es wäre doch sehr schön«, meinte Jakobus. »Wären Ihre Leute Ihnen lästig? Man könnte alle fortschicken.«

»O, die würden mich wenig kümmern.«

»Meine Frau doch auch nicht; die schickt man mit fort … Aber?«

»Aber!«

»Ach! Gewiß der Kleine.«

»Malen Sie, bitte.«

Es ward wieder ganz still. Der Schrei »Yolla!« sprengte des Knaben Brust; aber niemand vernahm ihn. Er kniete, bebend und entrückt, in seinem Versteck, das Gesicht hinter der Maske – und er sah sie. Sie hielt sich reglos, halb im Profil, den Hals gewendet und mit zurückgelegtem Kopf; ihr Haarknoten glitt tiefschwarz über den matthellen Nacken. Sie stützte sich auf das rechte Bein, das linke stand leise gebogen; und ihre Arme streckten sich, mit nach außen geöffneten Handflächen, abseits von den Hüften, gespannt und leicht und in Bereitschaft, sich weit aufzuheben zu einer Umarmung ohnegleichen.

Sie deuchte dem Knaben weiß – weiß, wie er sich nie einen Frauenleib vorgestellt hatte; aber nicht einem Marmor gleich, nein, eher vom Schimmer einer Blüte. Ihre Knöchel lugten, feine, blasse Blumen, durch das Gitter des Grases. Und der Erde entstiegen war sie ganz. Sie war eine Schwester der Bäume ringsumher. Die Sträucher griffen nach ihr mit ausgeschossenen Zweigen, und glätteten, mit langsamer Liebkosung, die langen Rundungen ihrer Schenkel. Der Himmel umhüllte ihr Gesicht, er wollte es entführen. Sein Blau brach, als siegreicher Widerschein, aus der Nacht ihres Haares. Ihren Arm sprenkelte, klar umrissen, ein Blätterschatten, und darauf das Abbild eines hüpfenden Vögelchens. Ihren Brüsten, spitz schwellenden, seltenen Kelchen, hatte die reiche Erde das Fest ihrer Säfte geweiht, und die Sonne trug sie, rund und kostbar eingefaßt in goldene Reifen.

»Der Akt steht nicht«, murmelte Jakobus, murrend. Er pinselte, als ob er Hiebe verteilte. »Übrigens interessiert er mich nicht.«

»Sie sehen«, sagte die Herzogin, »ich bin nicht Ihre Venus.«

Er schwieg und dachte: »Am Sterbebett des Alten warst du’s doch. Ich fing an die Venus in dir zu sehen. Jetzt zieht sie sich zurück, in dich hinein, je näher ich dir komme. Werde ich sie fassen, wenn ich dich in den Armen halte? Wie habe ich es nötig, daran zu glauben! …«

Er sagte:

»Sie sind nicht Venus? Dies ist nicht die Art, es mir zu beweisen. Ich warte auf die andere Probe. Wie lange noch?«

Sie erwiderte nichts. Nino flüsterte:

»O Yolla, ich habe Angst. Was tust du mir. Solche Seeligkeit ist furchtbar. Du bist gar nicht mehr Yolla; ich ahnte nicht, daß es das gäbe. Du gehörst den Bäumen und der Sonne und den Eidechsen – ich weiß nicht. Mir ist schwindlich: es ist das Licht, in seinen Kreisen blühen deine Glieder auf. Sie breiten sich wie ein Gürtel von Licht um diesen Platz – nein, um alles was ich sehe … Nimm mich mit in die Welt, in die du hinüberfließt, Yolla! Reiß mich heraus aus dem Loch, ich kann mich nicht rühren!«

Er glaubte zu schreien, und bewegte kaum die Lippen. Er fühlte, wie all sein Leben sich in die Maske flüchtete, durch ihre leeren Augen hinaus, und zurück in die ganze Natur – mit der Geliebten. Seine schwachen Schultern preßten sich fest an den Rand des alten Sarges. Er kniete, er konnte nicht umfallen, der Raum war zu eng.

· · ·

Es ward Abend, das Gras wehte; da ging der Knabe heim. Er ließ sagen, daß er nicht essen wolle, und legte sich schlafen. Er hatte keinen Traum und erwachte mit dumpfem Kopf.

»Nun ist es vorüber«, dachte er, »nun habe ich alles genossen … Wenn ich bedenke, daß ich noch gestern Nacht vor Furcht ganz närrisch war, der andere könne bei ihr sein. Jetzt ist es mir riesig gleichgültig. Mag er sie doch malen: als ob sie ein gewöhnliches Weib wäre! Ach! Ich – ich weiß nun, was sie ist. Es liegt hinter mir; nie, nie werde ich’s wieder erleben … Und dieses Unsägliche, dieses Übergewaltige habe ich Yolla genannt. Ich habe es küssen gewollt, habe wohl gar noch mehr gewollt? Ich wollte sie heiraten! Wie ist das unglaublich lächerlich! Ich könnte ja auch … auch …«

Er suchte.

»Das Meer könnte ich heiraten! Oder Gott!«

Er schämte sich, er empfand Überdruß an sich und aller Welt. Er meinte nur noch in der Einsamkeit leben zu können. Tagsüber versteckte er sich draußen. Beim Essen saß er mit niedergeschlagenen Augen. Bettinas wässerige Blicke reizten ihn; sie forschten immerfort: »Du auch?«

Jakobus war nicht heiter. Die Herzogin fragte ihn:

»Und Ihre Venus?«

»Ich habe sie zerschnitten. Soll ich morgen wieder anfangen? Was meinst du, Nino?«

»Sie wollen wohl Yolla als Venus malen? Haha.«

»Ist das so lächerlich?«

»O, dumm ist es!«

Jakobus biß sich auf die Lippen. Die Herzogin sagte:

»Weißt du nicht, daß du uns beide kränkst: Herrn Jakobus und mich.«

»Dich nicht!« rief er mit Leidenschaft.

»Warum sind wir heute so trübe? Nino, du schmollst mit mir. Gestehe: warum?«

Die wütende Scham übermannte ihn wieder.

»Du sprichst ja, als sei ich in dich verliebt«, versetzte er, abweisend, und verstummte.

Nachher war er verschwunden. Die Herzogin stand am Geländer der Loggia, in der Kühle, unter den nächtlichen Rosen. Jakobus stützte einen Arm auf, und sprach ihr ins Gesicht; sie antwortete kaum. Mehrmals machte er eine Wendung, um nicht die Augen seiner Frau sehen zu müssen. Aber sie suchten unbeirrt die seinigen. Schließlich sagte er hart:

»Ich habe hier nur acht arme Tage. Hier ist alles schön, nur du nicht.«

Sie bekam eine einfältige Schmerzensgrimasse, sie flüsterte etwas Angstvolles, Unverständliches. Dann zog sie sich zurück. Die Herzogin sagte erregt:

»Ich spreche ein letztes, ernstes Wort mit Ihnen. Noch eine Mißhandlung dieser Frau, und ich lasse Sie fallen. Sie wissen Wohl nicht, wie unglücklich ich Sie machen kann.«

»Ich weiß es«, entgegnete er.

Sie erinnerte sich nochmals daran:

»Diese Frau ist beinahe heilig in ihrer Wehrlosigkeit. Ich will ihr Herz nicht noch mehr verstören. Morgen sage ich ihr, sie soll ihren Mann wieder mitnehmen.«

Aber es regnete in Strömen, und sie sagte nichts. Die Stimmung war gedrückt und unruhig. Nino, der sich absonderte, irrte durch das Haus. Am Ende eines gebogenen Ganges wo alte Kupferstiche hingen, fand er eine schlichte weiße Tür, die offen stand. Er kam sich entgegen, im Spiegel, drüben am Ende des Zimmers. Auch ein Amor spiegelte sich; er stand dem Bette gegenüber, aufrecht und nackt auf dem Kamin und stemmte seinen Bogen auf die Hüfte.

»Das ist nun ihr Schlafzimmer«, sagte der Knabe, achselzuckend und matt. Er sah stumm in die Runde und ging zurück.

Achtundvierzig Stunden später, mitten im Regen, erschien Lady Olympia.

»Überzeugen Sie sich, süße Herzogin, ob ich anhänglich bin!«

»Um wen wird denn hier getrauert?« fragte sie nach kurzer Anwesenheit. Sie erfuhr, daß aus der Venus noch nichts geworden sei, und lächelte mitleidig. Beim Abschied, allein mit der Herzogin, riet sie:

»Süße Herzogin, nehmen Sie das weniger ernst, was die Männer uns und sich selber vorfiebern. Sie leben alle in Dichtungen. Die Wirklichkeit ist einfach, und gehört uns. Viel Vergnügen! Übrigens machen Sie es wie ich und spielen von Ihren Dramen – o, Sie werden noch viele spielen! – immer nur die ersten anderthalb Akte, so lange der Himmel heiter ist. Wenn Wolken heraufziehen, reise ich ab. Leben Sie wohl!«

In der Nacht bemerkte die Herzogin, daß die Tür ihres Zimmers weit offen stand. Der Mond erhob sich eben über die Bäume. Sie sah im Spiegel eine Gestalt, die hinten im Gange um die Ecke bog, Sie wunderte sich gar nicht. War es nicht Nino? Gewiß: er kam näher, die Hand auf der Hüfte, tänzelnd, geräuschlos. Nun aber setzte der Amor auf dem Kamin sich in Bewegung. Er stieg herab, er reckte sich eben so hoch wie der andere, sie verwuchsen in einander, und ein einziger Knabe stand vor ihrem Bett, mit Ninos hohen leichten Brauen, seinen großen Locken, seiner kurzen roten Lippe, und mit Cupidos Bogen. Er hielt ihn lässig.

»Ich tue dir kein Leid, Yolla«, wisperte er, wie mit der Stimme des Mondes, der den Boden beglänzte.

»Wer bist du denn?« fragte sie.

Er strich mit den Fingern über das Mückennetz, das weit und weich um ihr Lager floß. Es troff plötzlich von Silber.

»Amor bin ich. Ich will, daß du neue Spiele aufsuchst und einen neuen Rausch genießest und sehr glücklich wirst …«

Ihr deuchte, daß sein Stimmchen noch weiter summe. Aber sie lag schläfrig, gebannt in Silberschleier. Das dünne Leinen enthüllte sie, wie nackt. Der Blick des Knaben wanderte, feurig und süß, zwischen ihren Schenkeln hinauf, durch die Senkung ihrer Brüste, und in ihre Haare hinein; schwarz und voll gleißender Fünkchen breiteten sie sich, um ihren ganzen Leib herum, über die schimmernden Kissen.

»Du bist doch Nino?« fragte sie, ohne Laut.

»Ja, ich bin Nino, und ich will dich um Verzeihung bitten. Ich konnte ja nicht schlafen.«

»Es ist gut, Nino, geh’ wieder in dein Bett.«

»Und will dir auch sagen, wie sehr ich dich …«

Er verblaßte plötzlich, mit dem Monde. Er stand steif und angstvoll.

»Nein, liebe, liebe Yolla, das kann ich dir nicht sagen. Du darfst nicht böse sein, ich kann nicht …«

Er tänzelte rückwärts. Der Mond versteckte sich hinter einer Gardine. Der Knabe war fort.

Sie lächelten beim Frühstück einander zu, wie nach einer Versöhnung. Der Himmel war heiter geworden, die Luft leicht und ohne Duft. Man unterschied, dort hinten in den Büschen, jede Rose. »Was für ein seltsamer Traum war das«, dachte die Herzogin. »Vielleicht war es keiner?« fragte sie sich einen Augenblick. »Ach, ich bin kindisch …«

Jakobus erschien spät. Sie begriff nicht, wie er noch niedergeschlagen sein konnte. Sie selber fühlte sich beglückt seit heute Nacht.

»Fangen wir von vorn an?« fragte sie ihn. »Da ist die Sonne. Ich bin bereit.«

»Es hat keinen Zweck«, erwiderte er, ohne aufzusehen. Er ließ sich bis zum Dunkelwerden nicht mehr blicken. Das Diner wartete.

»Wir werden uns nicht hinsetzen, bevor er zurück ist«, sagte die Herzogin, gütig und sorgenvoll. So kam die Nacht.

Die Herzogin saß allein mit Bettina, draußen in der Loggia. Der Mond war nicht aufgegangen; es brannte drinnen kein Licht. Bettina sagte leise:

»Wenn er noch lebt!«

»Was reden Sie?«

»O, wissen Sie denn, wie elend er ist? Sie können es nicht wissen, sonst … Und er hat Todesahnungen, er hat sie mir gestanden.«

»Wann?«

»Gestern. ›Mit fünfzig Jahren sterbe ich‹, so sagte er. ›Dann wird sie bereuen.‹«

»Was?«

»Das Werk. Daß Sie das Werk zu Grunde gehen ließen; so meinte er – glaube ich.«

»Ach was. Er stürmt so leicht und spannkräftig daher wie der große Paolo oder einer von den andern die ihm gleichen.«

»Um so mehr fürchtet er sich, ihnen zum Schlusse nicht zu gleichen, und zu sterben, auf einmal ausgebrannt und verbraucht, und bevor der letzte, entscheidende Sturm auf die Schönheit ihm gelungen ist.«

»Es wäre ein Unglück, was können wir dabei tun.«

»O – ich bin ohnmächtig … Er malt Sie als Venus, nicht wahr?«

»Und es gelingt ihm nicht.«

»Weil er gar nicht Sie malen will, Herzogin. Nach den zahllosen Damen der hysterischen Renaissance will er die Venus malen, die über allen Frauen ist – die der größte Meister der großen Zeit vergeblich gerufen hat: die Anadyomene der ganzen Natur! Die Göttin, die der Erde entsteigt als Blume, an deren gewölbten Gliedern die Zweige feilen die darüber hinstreifen, und die Tiere, die sich ihnen anschmeicheln. Ihr Gürtel liegt, als ein Reif von Licht, um Hellas und um die Welt. Der Himmel trägt ihr Gesicht und bricht blau aus ihrem Haar. Ihrem Leibe hat die reiche Erde das Fest ihrer Säfte geweiht, und die Sonne trägt ihn, wie in einer goldenen Schaukel.«

»Es wäre schön!«

»Nicht wahr? Er weiß das alles. Aber er sieht es nicht. Er sieht es nicht! Damit er die Göttin fassen kann, muß sie ihm gehören … So sagte er«, flüsterte Bettina, erschrocken.

Nach einer Weile flüsterte die Herzogin:

»Das alles hat er Ihnen gesagt, Ihnen?«

»Nicht wahr? Wie muß er elend sein, daß er den Kopf gegen meine Schulter lehnt!«

Sie schwieg wieder, kläglich. Die Herzogin hatte Lust, zu weinen mit der Armen. Bettina begann abermals:

»Er ist ja das Genie, das wir gebären, immer aufs neue gebären müssen, wir Frauen. Ach, nicht ich, nicht ich! … Jedes seiner Werke hat er aus Frauenseelen empfangen – wie Gian Bellin – und das größte, unvergleichliche, das, wovon alle Schöpfer träumen und das keiner schafft, das muß ihm die seltenste, stärkste Seele geben. Wäre es meine! Aber es ist Ihre, Herzogin, Ihre! Seien Sie gnädig!«

Die Herzogin war hingerissen, fieberhaft, von dem Geflüster im Dunkeln. Da fühlte sie Bettinas Wange an ihrer: auf einmal wußte sie wieder, wer zu ihr sprach. Sie riß sich los.

»Seien Sie gnädig!« murmelte die Gattin des Malers.

»Ich soll … Das sind Sie, Frau Bettina, Sie wollen das?«

»Liebte ich ihn denn, wenn ich es nicht wollte!«

Sie hörten beide zu, wie dieser Aufschrei verhallte. Jede suchte in der Finsternis die Züge der Andern, und fand nur einen weißlichen Fleck.

»Sagen Sie Ja«, bat Bettina, tonlos.

»Ja«, sagte die Herzogin.

Bettinas Stuhl rückte geräuschvoll. Eilig entfernte sie sich.

Draußen begegnete sie ihrem Manne; er kehrte bestaubt von seiner Tageswanderung. Später erschienen die Gatten gemeinsam bei Tisch. Alle freche Rastlosigkeit seiner letzten Zeiten hatte Jakobus draußen auf den heißen Straßen zurückgelassen; er war still, fast demütig. Beim Aufstehen küßte er die Hand der Herzogin.

»Ich danke Ihnen. Nun kommt es dennoch!«

»Aber nicht hier«, versetzte sie, und sah hinüber zu Nino.

· · ·

»Die Fremden sind fort«, sagte sich Nino in den folgenden Tagen. »Ich bin wieder allein mit Yolla. Aber es ist nicht wie es vorher war – natürlich, es ist meine Schuld. Ich habe inzwischen zu viel erlebt.«

Die Herzogin dachte:

»Ich liebe ihn – und habe es mir erlaubt. Wir werden vielleicht glücklich werden; aber es wird sicher ein schweres Glück. Das Werk wird vielleicht entstehen; aber verlohnt es sich? Ich wollte, ich wäre sechzehnjährig und könnte mit diesem Jungen davonlaufen: ich weiß nicht, wohin.«

Sie machte jetzt, in der herbstlichen Sonne, ihre Spaziergänge drunten auf der Straße. Sie verweilte gern an den Mauern wo Lazerten umherschnellten, unter hohen Bügeln wilden Weins, der sich rötete. Nino jagte über das Land, im Trab seines rauhen Pferdchens. Man sah den grauen Schweif überall davonflattern durch die Büsche.

Eines Mittags überraschte sie ihn, am Fuße des Parkhügels. Er war abgestiegen und ging, wild lachend, einem Mädchen zu Leibe, einer breithüftigen Dirn mit krausem Haar und roten Wangen. Die Hand des Knaben verschwand ganz in ihrem Mieder; sie kicherte, ihre Zunge schlängelte rot heraus. Plötzlich kreischte sie auf und flüchtete. Nino hatte die Herzogin noch nicht bemerkt. Er hastete auf sein Pferd und setzte der Magd nach. Sie sprang die Treppe hinauf, in die Mauern von Lorbeer. Er stolperte hinterdrein, das Stöckchen geschwungen, in der Haltung eines Helden, der im vollen Genuß der eigenen Tollkühnheit, einen feindlichen Turm hinangaloppiert. Die Eisen prallten schleifend von den Stufen, das Tier fiel zurück und blieb liegen. Nino rollte über einen Absatz hinunter.

Die Herzogin näherte sich. Es war plötzlich sehr still. Droben im Laub verlor sich das Rascheln eines Kleides. Sie hob den Kopf des Knaben auf; er blutete. Die Augen waren geschlossen. Sie läutete am Tor. Der Alte erschien, er trug jammernd den Verunglückten hinauf. Die Herzogin hielt immerfort sein Haupt in beiden Händen; sie drückte ihr Tuch auf die Wunde.

Sie verband ihn eigenhändig. Man fuhr nach dem Arzte. Inzwischen erwachte Nino und verlangte nach ihrer Hand; er kühlte daran die seinige.

»Heilige Katharina«, so lallte er. »Dem Antonio Fabrizzi gibt sie ihre Hand … Nicht mir, nicht mir … Er ist achtzehn, ich vierzehn. Aber ich verspreche dem Teufel, wenn er mich gleich zum Manne macht … Yolla, wenn es möglich wäre – liebe Yolla!«

Er warf sich umher.

»Aber es ist unmöglich. Denn ich hab’ dich ja als Venus gesehen, wie du in die Platanen und in die Meisen und in die Sonne eindrangst. Wie kann ich dich heiraten? Es ist alles aus … Und doch warst du meine – Ss t!« machte er, und sein Gemurmel ward unverständlich.

Eine Woche später kam Gina von der Reise. Die Herzogin hatte ihr nichts geschrieben; sie fand ihr Kind bleich.

»Es ist nicht nur von dem Unglücksfall«, sagte die Herzogin, als die Frauen allein saßen. »Er empfindet heftiger als er dürfte; er lebt tiefer, als wir es seinem Alter zutrauten. Man sollte ihn abhärten gegen seelische Temperaturwechsel. Venedigs Luft schadet ihm; sie schadet auch Ihnen, Frau Gina. Bringen Sie ihn ins Konvikt nach Sald. Er ist an Landleben gewöhnt, er wird dort gesunden, mit Ihnen, Frau Gina.«

Gina neigte das Haupt.

»Also schon jetzt … Aber wir wollen ihm noch nicht sagen, wohin er geht, und daß er Sie, Herzogin, nicht wiedersieht.«

Als dann am Morgen der Wagen bereit stand, rief die Herzogin den Knaben nochmals zu sich ins Zimmer. Sie sagte:

»Ich spreche mit dir wieder als mit einem richtigen Freunde. Daß du erst vierzehn bist, trennt uns nicht. Ich will nicht mit einer Unwahrheit von dir Abschied nehmen. Wir werden uns in Venedig nicht mehr begegnen. Du fährst mit deiner Mutter ins Konvikt nach Sald. Du hast doch Mut?«

Er stand ganz kalt, mit weißen Lippen. Sein Blick verharrte auf ihrem Gesicht, schwärmerisch hingegeben, noch durch dieses Leid hindurch.

»Was denkst du?«

Er hatte in dieser Minute nichts gedacht als: »Wie ist sie schön!«

»Ich habe es gewußt«, sagte er, fast ohne die Lippen zu bewegen, »Es ist meine Schuld. Es ging nicht so weiter.«

Und mit einem jähen, leidenschaftlichen Beben, das seine Stimme fremd und unerkennbar machte:

»Nun schickst du mich fort – für immer?«

Sie zog ihn an sich, fest und voll Zärtlichkeit.

»Nur für ein paar Jahre; bis du gesund geworden bist und ein Mann.«

»Ich werde es niemals werden«, klagte er, wieder ganz sanft. »Ich kann es mir nicht vorstellen.«

»Doch. Ich weiß es bestimmt. Als Mann sehe ich dich wieder. Was bin ich dann selber? Das lasse ich zum voraus alles gelten … Geh, Nino, härte dich ab, werde stark, warmblütig und glücklich.«

»Ich will es, Yolla. Aber du vergißt mich nicht?«

»Ich … dich!«

Der Knabe horchte, angstvoll.

»Das klingt, als – liebte sie mich«, meinte er leise. Und gleich darauf:

»Wie kannst du nur solch ein Narr sein – auch jetzt noch!«

»Leb’ wohl, Yolla.«

Er ging. An der Tür riß es ihn herum, er zitterte wieder.

»Es ist doch recht schwer. So viel gefühlt, so viel – und kein Wort … Yolla!« rief er, verzweifelnd.

»Nino?«

Er küßte ihre Hand, sie war auf einmal ganz naß von seinen Tränen.

»Nichts. Es ist gut, daß du mir’s rechtzeitig gesagt hast. Nun kann ich auch von meinem großen Freunde Abschied nehmen.«

»Von San Bacco, ja, und sag’ ihm, er solle an mich denken. Morgen fährt er nach Rom.«

Sie lehnte im Bogen der Loggia, als der Wagen den Hang hinabschleifte. Nino sah sie erst bis zur Hüfte, dann, zwischen den Rosen, ihr Haupt – und endlich nur noch die Hand, die, höher als die Stirn, zwischen zwei Ranken hing. Er schaute unermüdlich rückwärts, die Brust geschwellt von Schluchzen.

»Es kommt nun nichts mehr; ich habe weiter nichts zu erwarten.«

Aber unversehens teilten sich in der Höhe die Laubwellen; die geheimnisvollen Stufen traten heraus, schimmernd im Licht einer Krone, die sich senkte auf des Knaben Liebe.

»Yolla!«

Dort stand sie, hoch, still, im hellen Kleide und mit schwarzem Haar, auf der weißen Treppe, der winkenden und nur vom rauschenden Grün in die Luft gehaltenen – und sie sollte dort stehen bleiben, er versprach es sich, sein Leben lang, als das Märchen, zu schön um ertragen zu werden, aber unverlierbar.

· · ·

Gina schrieb, sie seien angekommen; Nino hatte seinen Namen hinzugesetzt. Darauf kehrte die Herzogin nach Venedig zurück. Es war Nacht, als sie zu Hause ankam, sie schickte sofort nach ihrem Geliebten. Ihr Ruf folgte ihm überall hin, wo er im Laufe des Abends vorübergekommen war: ins Restaurant, an den Spieltisch des Klubs, in die Loge einer Tänzerin, in das Rauchzimmer eines Freundes. Er drehte das Papier zwischen den Fingern, bleich, den gesammelten, tief beschäftigten Blick auf einer Kerzenflamme. Man fragte:

»Hat Ihr Bankier die Flucht ergriffen?«

Er ging, und sagte sich, feierlich klopfenden Herzens:

»Ich soll die Herzogin von Assy besitzen; das ist etwas Neues! Diese Frau, nach deren Sinn und Schicksal ich mein Leben eingerichtet habe seit sieben Jahren – die mich geformt, mich zum Mann gemacht hat und zum Könner – die ich immer begehrt und nie mit Festigkeit erhofft habe …«

Auf der Wanderung durch ihre schwach erhellten Säle blieb er, mitten im Triumph, eine Sekunde lang stehen, mit gesenkter Stirn.

»Wäre es nötig?« fragte er sich, für ihn selbst fast unhörbar.

Aber der Zweifel entwich weit zurück in die Nacht, als er die Tür öffnete zum glänzenden Saal der Venus. Von Decke und von Wänden, aus den schweren Bildern eines keuchenden Glücks, brach es, verfleischt und mit Getaumel, über ihn herein. Ruhend mitten darunter erblickte er die Herzogin: die Göttin selbst – und ihre Arme waren ihm offen.

In wenigen Augenblicken vergaß sie die Keuschheit ihres ganzen Lebens.

Hinterher betrachtete er sie freier, mit gelassener Männlichkeit, und aus dem spöttischen Hintergrunde des Siegers und des Angelangten.

»Gleichviel: ich bin recht hoch geklommen. Lona Sbrigati, all die andern, Clelia – und die Herzogin von Assy. Wozu die Aufregung; sie ist auch nur eine Frau.«

»Ich bin nur eine Frau«, sagte sie plötzlich selber. »Halte das für kein Opfer. Du hast gar nicht mit mir gerungen, willst du es glauben? Frei und unerwartet bin ich zu dir gekommen! Ich werde dich sehr groß machen, weil ich dich liebe.«

Und er stürzte ihr in jäher Dankbarkeit vor die Füße. Sein Herz quoll, mitten im Rausche der Befriedigung, über von sanften Werbungen.

»Ich kann es nicht glauben!«

Und dann stürmte er, in ungläubiger Gier und mit den Jubellauten eines Knaben, auf ihre Glieder ein und auf ihre Küsse.

Auf einmal schrak sie auf, aus einer Tiefe von Lust. Sie war plötzlich ganz durchdrungen von dem Gefühl der Unfruchtbarkeit, seiner und ihrer. Sie wand sich los und entfernte sich von ihm. Er sah ihr nach, im Kissen aufgerichtet.

»Was ist dir?«

»Er ist nur mein Geliebter«, dachte sie, schwach vor Müdigkeit. »Er wird nie die Venus malen. Ich sehe alles voraus. In fruchtlosen Umarmungen verzehren wir uns, und verlassen uns schließlich mit Überdruß, vielleicht als Feinde.«

Sie stützte den Arm ans Fensterkreuz. Draußen in der braunen Nacht, weinte der Südwind. Im Schein eines Lämpchens streckte sich hinter dem Gitter des künstlichen Gartens, schwarz und geschnäbelt, eine Gondel. Vor dem Felze saß etwas Dunkles, es bewegte sich in Stößen. Die Herzogin starrte lange hin; sie wußte schon, daß es ein auf die Knie schwer niedergebeugter Nacken war, der zuckte. Sie wußte schon, daß dort jemand schluchzte: eine Frau. Sie wußte schon, welche. Und sie fragte immer noch, ganz versteint:

»Wer?«

Auf einmal erhob sich in ihr, lautlos und mit einem Schauer des Entsetzens, die Antwort:

»Bettina!«

Heinrich Mann - Gesammelte Werke

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