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Tag 1 (18.07.2018): Von Raitschin zur Juchhöh

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km: 19 – 55

Nachts schlafe ich schlecht. Um drei Uhr wache ich auf. Schmerzen im linken Fuß. Zwei Stunden lang geht mir vieles durch den Kopf: Schaffe ich die 1.400 Kilometer entlang des Grünen Bandes bergauf und bergab? Was tue ich mir hier eigentlich an? Wie soll das die nächsten Wochen weitergehen, wenn ich schon nach 20 Kilometern körperliche Probleme bekomme? Was hat mich eigentlich dazu getrieben, diese Reise in die eigene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu unternehmen? Nach zwei Stunden ausgefüllt mit Schmerzen und Fragen schlafe ich wieder ein.

Gutes Frühstück im Gasthaus Raitschin: Ei, frisches Obst, Cappuccino etc. Gegen halb neun voll bepackt losgekommen.

Wir fahren nach Schwesendorf. Nach weiteren, wenigen Kilometern gelangen wir zum Dreiländereck (tschechisch: Trijmezi) mit einer Staatsgrenze -Tafel, tschechischen Hoheitsschildern und Wappen ( Ceska Republika ), deutschem Fähnlein, das jemand in der Mitte kreisrund ausgeschnitten und an einen Baum geklemmt hat. Grenzsteine von 1844, mit einem nachgemalten „D“ darauf. Geschichtsfälschung? Die tschechische Seite ist dagegen sehr gut mit Informationstafeln und Ähnlichem ausgestattet.


Start: Dreiländereck Tschechien- Bayern – Sachsen

Hier beginnt also der deutsche Teil des so genannten Eisernen Vorhangs, der sich von Nord nach Südost durch ganz Europa zog. Deutsche Teilung auf 1.400 km. Ein Ergebnis des Überfalls Nazi-Deutschlands auf Polen im September 1939, des 2. Weltkrieges mit ca. 50 Millionen Toten und der Beschlüsse der Alliierten Siegermächte, dokumentiert im Potsdamer Abkommen Anfang August 1945. Die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen, der Kalte Krieg in den ersten Nachkriegsjahren, der in die Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 und der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober desselben Jahres mündete. Eine Grenze, die in den 50er Jahren immer undurchlässiger wurde, bis dann am 13. August 1961 mit dem Bau der Mauer in Berlin die deutsche Teilung im wahrsten Sinne des Wortes für die nächsten knapp vier Jahrzehnte zementiert oder besser gesagt einbetoniert wurde.

Doch zurück zur Gegenwart. Wir entscheiden uns für die harte Tour und folgen dem direkten Grenzverlauf: auf einem kleinen Steg über den Grenzbach und die Fahrräder über zwei Haine hinweg- bzw. durchgeschoben. Dort stoßen wir zum ersten Mal auf die DDR-KFZ-Sperre mit Betonteilen, die gerade noch zu erkennen ist.


Die ersten 25 km nach Mödlareuth

Dann unsere erste Fahrt auf dem ehemaligen Kolonnenweg, ausgelegt mit löchrigen Betonplatten, alles sehr holprig. Es macht sich bezahlt, dass wir Trekkingräder mit breiten Reifen haben. Dazu habe ich auch noch eine gute Federgabel vorn und unter dem Sattel ein Federparallelogramm.

Nach ca. einer Stunde Ende Gelände: das Gras ist so hoch, dass es sich in der Kettenschaltung meines Fahrrads festsetzt und an ein Weiterfahren nicht mehr zu denken ist.

Es fängt ja gut an!


Über Stoppelfelder nach Posseck

Mit vereinten Kräften befreien wir die Zahnritzel von den Gräsern. Dann geht die Fahrt weiter über das gerade abgeerntete Feld kilometerweit, holpernd weiter Richtung Posseck, einem ehemaligen Grenzort auf DDR-Seite.

An einer Gasstation, wenige Meter von dem früheren Grenzverlauf entfernt, treffen wir auf zwei Monteure, die sich in der Mittagspause ein bisschen sonnen. Sie berichten von ihren Erfahrungen vom November 1989. Sie fuhren mit dem Trabbi nach Hof, wo alle Straßen verstopft waren. Sie hätten sich an den vollen Schaufenstern die Nasen plattgedrückt. Nein, heute gebe es keine großen Unterschiede mehr zwischen Bayern und Sachsen, Fachkräfte würden überall gesucht. Im Vogtland gibt es anscheinend nur 6 Prozent Arbeitslosigkeit. Hat sich in den letzten drei Jahrzehnten seit dem Fall der Mauer in der ehemaligen DDR doch alles normalisiert und verbessert?


Mödlareuth – „Little Berlin“

Nach den vorherigen Erfahrungen mit dem Kolonnenweg folgen wir ab Posseck meist den Landstraßen der Grenztour 3. Es geht durch kleine Orte, wir treffen auf freundliche Leute, die Antwort geben, wenn man nach dem Weg fragt. Aber so langsam wird es anstrengend. Kurze, wohltuende Pause auf einer Bank am Waldrand mit Blick auf eine schöne Kirche (St. Clara, Heinersgrün) Danach wird es richtig schön proppenheiß, aber der Akku bringt den E-Motor in Schwung und wir kommen die Hügel gut hoch.

Über Münchenreuth geht es nach Mödlareuth – die Amerikaner nannten es „Little Berlin“ -, dem ehemals zweigeteilten Ort, der Vorbild für die ZDF-Serie „Tannbach“ war.

Gespräch mit einem ehemaligen Grenzsoldaten, der 1964 ein paar Monate Dienst bei den DDR-Grenztruppen abgeleistet hat. Alles sei relativ easy gewesen. Ja, es habe sogar Kontakte zwischen West und Ost gegeben. Eine West-Frau aus Mödlareuth, die Bierflaschen trug, wurde von DDR-Grenzern angesprochen, sie solle doch mal ein paar Bier rüberbringen. Die Flaschen seien doch leer, antwortete sie. „ Dann bring uns nachher auf dem Rückweg doch ein paar volle mit.“ Gesagt, getan. Kein Problem. – Kleiner (inoffizieller) innerdeutscher Grenzverkehr.

Später ergibt sich eine Diskussion mit einer Frau auf dem Museumsgelände. Die Entwicklung und die Ereignisse nach der Wende beschämen sie. Zuerst fand sie Arbeit im schwäbischen Backnang, weil die eigene Lederfabrik in Hirschberg stillgelegt worden war. Nach zwei Jahren im Westen war allerdings auch in Backnang Schluss. Viele Leute wussten zu DDR-Zeiten, wie es im Westen aussah, aber sie hätten sich blenden lassen. Damals hätten sie geschimpft und heute wieder. „ Andererseits: Die Politiker hören ja nicht auf uns!“ Sie hat große Zweifel, wenn sie betrachtet, wie der NSU-Prozess in München verläuft.

In der Gaststätte „Grenzgänger“ auf der thüringischen Seite genießen wir leckeren Kuchen und Radler. Dors ist froh, dass er seinen, sorry, den Akku seines Fahrrades aufladen kann.

Beim Besuch des Museums auf der bayrischen Seite sehen wir eine Filmdoku und viele alte Fahrzeuge, die beiderseits der Grenze zum Einsatz kamen. Eine Freianlage mit Beton-Mauer und Grenztürmen sowie dem Sperrzaun haben wir vorher auf der DDR-Seite besichtigt.


Grenzmuseum Mödlareuth

Gegen Ende des Nachmittags geht es weiter zum Gasthaus „Juchhöh“. Dort werden wir durch die Wirtsleute freundlich empfangen. Beim Unterstellen der Fahrräder gibt es einen ersten Austausch mit dem Wirt: Er habe kein Mitleid mit den Leuten, die an der Grenze umgekommen sind. Alle zweihundert Meter hätten ja entsprechende Warnschilder gestanden! Ich bin sprachlos angesichts der mehreren hundert Toten, die bei Fluchtversuchen aus der DDR in den Westen an der Grenze umgekommen sind.

Wir erhalten zwei einfache Zimmer und zum Abendbrot einen gut schmeckende Strammen Max, obwohl die Küche eigentlich geschlossen ist.

Unser Gasthaus war faktisch das Freizeitzentrum für die Reservisten der Nationalen Volksarmee (NVA), die in der Nachbarschaft in einer öden Kaserne untergebracht waren. Der Wirt war auch eine Zeit lang im Einsatz dort und konnte offenbar den nachfolgenden Jahrgängen in seiner Kneipe in den dienstfreien Stunden attraktive Zerstreuung bieten. Die holprig gereimten Gruß-Devotionalien ganzer Kompanien an den Wänden aus den Siebziger und Achtziger Jahren bezeugen dies.

Im Zimmer, einfach, aber sauber, erstmal Wäsche gewaschen. Schwertransporter und große Laster donnern im Affentempo am Haus und meinem Fenster vorbei. Starke Geräuschbelästigung. Schlimmer als auf einem Autobahnparkplatz. Egal, um kurz vor zehn geht es ins Bett. Total kaputt und geschafft.

Grenzgänger

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