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Griechisch-römische Antike

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Wenn wir über Atheismus und verwandte Denkströmungen in der griechischen Antike sprechen, haben wir heutigen Menschen ein gewisses Problem, denn wir verstehen unter Religion und religiösem Verhalten, unter Glauben eine Haltung, die immer die Idee der Transparenz einschließt, also die Vorstellung, dass es etwas Wichtiges und unser Leben Bestimmendes gibt, das über die irdische Welt hinausgreift. Das ist bei den alten Griechen anders, ihnen widerstrebt diese Vorstellung einer Transzendenz. Für sie ist die letzte Realität die Natur, und nicht nur der Mensch ist ein Teil von ihr, sondern auch die Götter sind es, sie befinden sich in der Welt. Sie sind ewig, immerhin, besitzen aber eine körperliche Gestalt, sie greifen aktiv in das menschliche Leben ein, sie reden zu den Menschen, wenn auch in Orakeln, und lassen sich durch gewisse Praktiken, meist magischer Art, erreichen und auch erweichen. Man kann zusammenfassend sagen, dass die traditionelle griechische Religion einem naturalistischen Pantheismus nahe kommt, der in großem Umfang auf Mythen gegründet ist. Auf Mythen, deren Trivialität zu der Frage herausfordert, ob die Menschen im alltäglichen Leben an diese Geschichten wirklich glaubten. Man pflegte wohl eine Kultur, in der nicht nach den Begriffen von wahr und falsch gedacht wurde. Jedenfalls nicht auf religiösem Gebiet.

Anzeichen von Atheismus und auch Materialismus sind schon früh zu erkennen, beispielsweise bei dem Philosophen Anaximandros (ca. 610 – ca. 547 v. u. Z.) aus Milet im 7. Jahrhundert v. u.Z., der Ursache und Entstehung der Welt ganz und gar aus der Materie erklärt, dem aperion. Empedokles aus Agrigent (ca. 495 – ca. 435 v. u. Z.) stellt sich eine Welt vor, in der nichts verloren geht, nichts erschaffen wird und doch auch alles sich verändert. Zeus, Hera, Nestis, Aidoneus sind für ihn lediglich mythische Personifizierungen der vier Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde. Anaximenes (ca. 585 – ca. 526 v. u. Z.) hält sich dagegen nur an ein Urelement, die Luft, während Anaxagoras den Ursprung von allem im Chaos sieht. Man stellt fest, diese Vorstellungen sind als krass materialistisch einzuschätzen. Auch Xenophanes aus Kolon (ca. 570 – ca. 470 v. u. Z.) setzt Gott und die Welt gleich, es handelt sich also um einen immanenten Gott, der sich in nichts von der Materie unterscheidet. Die volkstümliche Gläubigkeit verachtet er eher und verurteilt alle Spekulationen, wenn er sagt:

Und das Genaue erblickt kein Mensch in Bezug auf die Götter.

Karl R. Popper, auf den wir im 20. Jahrhundert zurückkommen werden, sieht in ihm einen Vorläufer des kritischen Rationalismus, weil Xenophanes lehrte, dass menschliches Wissen nur aus Vermutung bestehen könne, man könne sich der Wahrheit allenfalls nähern, sie aber niemals als solche erkennen. Auf einem Berg fand er Fossilien und schloss daraus, dass die Erde einst ganz von Wasser bedeckt sein musste und dass alles aus Erde und Wasser, also aus Schlamm entstanden sein müsse.

Eine Lehre, die noch materialistischer daher kommt, noch mehr verfeinert, wird von Leukipp und seinem Schüler Demokrit vorgelegt, der eine um 500 v. Chr. geboren, der andere um 460. Wir befinden uns also in der sogenannten Achsenzeit. Die beiden sehen die letzte Realität im Atom, einem äußerst kleinen, materiellen, festen und unzerlegbaren Teilchen, das sie sich in steter Bewegung denken. Diese Atome sind von unterschiedlicher Größe und Form und bringen durch Verbindungen untereinander alle Formen des Weltalls hervor, belebte wie unbelebte, auch die Seelen und auch die Götter! Demokrit sieht in den Göttern nicht die Erscheinungen, die ihnen die Religion gibt, er hält sie für Trugbilder, die von Naturerscheinungen im Menschen erzeugt werden! Damit haben wir hier erstmals eine psychologische Erklärung für das Phänomen des Götter- bzw. Gottglaubens, dem er damit jeden Wert abspricht.

Demokrits Materialismus findet bei den griechischen Intellektuellen eine günstige Aufnahme, schreibt Minois in seiner Geschichte des Atheismus, und wird durch eine Denkströmung weitergetragen bis hin zu Epikur im 3. Jahrhundert v. u. Z. Dabei ist bemerkenswert, dass bis zum 5. Jahrhundert zwischen den drei Hauptströmungen, nämlich der von Magie gefärbten Volksmythologie, dem offiziellen Kult in den Händen der Tempelpriester und der stark pantheistischen, um nicht zu sagen atheistischen Philosophie offenbar ein sehr entspanntes Verhältnis herrschte. Dabei sollte es jedoch nicht bleiben.

Mit einem Schlag verändert sich die geistige Situation, mit einem Dekret des Diopeithes im Jahre 432 v. u. Z. beginnen die Prozesse wegen Atheismus und Gottlosigkeit in Athen. Exemplarisch dafür steht die Affäre des Protagoras (ca. 490 – ca. 411 v. u. Z.), um 415 v. Chr. verfasst er eine Abhandlung über die Götter, von der nur der erste Satz überliefert ist:

Von den Göttern weiß ich nicht, weder dass sie sind noch dass sie nicht sind; denn vieles hemmt uns in dieser Erkenntnis, sowohl die Dunkelheit der Sache wie die Kürze des Lebens.

Obwohl er hiernach eigentlich nur als Agnostiker zu bezeichnen ist, wird er wegen Atheismus verurteilt, zur Verbannung, vielleicht auch zum Tode, darüber liegen unterschiedliche Überlieferungen vor. Man machte also kurzen Prozess und stritt nicht lange über Agnostizismus und Atheismus.

Was hat sich so plötzlich und so radikal verändert? Diese Affäre spielt mitten im peloponnesischen Krieg. Der Ankläger war Pythodoros, ein reicher Aristokrat, Protagoras dagegen Demokrat. Der Stadtstaat Athen geriet in Gefahr, Politik und Religion begannen sich auf gefährliche Weise zu vermischen. Atheisten, die die offiziellen religiösen Riten verabscheuen, galten zunehmend als Verräter. Zu Zeiten der Gefahr, ja der Demütigung und Niederlage, sucht man Trost und Kraft in Gemeinsamkeit. Aber es ging auch um einen Berufsstand, der sich durch die zunehmende Zahl der Skeptiker, Agnostiker und Atheisten bedroht sah. Diopeithes, auf dessen Antrag das vorerwähnte Dekret beschlossen wurde und das am Anfang der beginnenden Hexenjagd in Athen steht, war ein Seher, ein Priester, dem es nicht gleichgültig sein konnte, wenn zunehmend von den intellektuellen Köpfen natürliche Erklärungen geliefert wurden für Phänomene, die bisher dem Wirken der Götter zugeschrieben wurden. So etwas musste das Vertrauen in die Praktiken der Priesterschaft untergraben. Das erste Opfer dieses Dekrets war Anaxagoras aus Klazomenai (499 – 428 v.u.Z.), ein Lehrer des Perikles und Naturphilosoph, der hatte für allerlei Naturerscheinungen neuartige Erklärungen abgegeben, wie beispielsweise folgende, die durch Diogenes Laertes überliefert sind:

Er erklärte die Sonne für eine glühendheiße feurige Eisenmasse, größer als der Peloponnes . . . Die Winde entstünden durch Verdünnung der Luft infolge der Sonnenwärme. Donner sei ein Zusammenstoß von Wolken, der Blitz eine Reibung der Wolken, das Erdbeben ein Eindringen der Luft in das Erdinnere. . . 5

Anaxagoras wurde wegen Gottlosigkeit angeklagt, weil er die göttlichen Geheimnisse zu ergründen versuchte. Er wurde verurteilt zum Tode oder zur Verbannung, anderen zufolge zu Gefängnis, aus dem ihn Perikles, der sein Schüler war, befreit haben soll. Man warf ihm vor, sich über den Glauben zu erheben, weil er lehrte:

Es ist das entsetzte Staunen über die Himmelserscheinungen, welches den Aberglauben bei all denen hervorruft, die über die Ursachen dieser Dinge im Dunkeln tappen und in ihrer Unwissenheit vor dem Göttlichen zittern und beben. Einzig die Naturwissenschaft kann uns davon frei machen. 6

So schreibt Plutarch (ca. 45 – ca. 125) in seiner Periklesbiografie. Dieser Gegensatz von religiöser Erklärung gegen naturwissenschaftliche sollte bald klassisch werden und ist heute noch allerorten gang und gäbe.

Der berühmteste Fall eines Todesurteils wegen Gottlosigkeit in jener Zeit ist der des großen Philosophen und Agnostikers Sokrates (469 – 399 v. u. Z.). Der Text der Anklage aus dem Jahre 399 liegt uns wörtlich vor und lautet:

Diese Anklage verfasste und reichte ein unter Eid Meletos, des Meletos Sohn aus dem Demos Pitthos, gegen Sokrates, des Sophroniskos Sohn aus dem Demos Alopeke: Sokrates versündigt sich durch Ableugnung der vom Staate anerkannten Götter sowie durch Einführung neuer göttlicher Wesen; auch vergeht er sich an der Jugend, indem er sie verführt. Der Antrag geht auf Todesstrafe.

Mit den neuen göttlichen Wesen ist wohl sein Daimon gemeint, über den er viel geredet hat. In Platons Schriften, aus denen wir am meisten über Sokrates erfahren, erscheint Sokrates als Agnostiker, der nicht weiß, was die Hölle ist und was nach dem Tode kommt, der nichts über die Götter zu wissen behauptet und daher empfiehlt, den offiziellen religiösen Regeln zu folgen. Für Aristophanes (ca. 447 – ca. 380 v. u. Z.), den Dramatiker, ist er ein vollkommener Atheist. Er lässt ihn in seinem Stück Die Wolken auftreten und sagen:

Was faselst du von Zeus? Es gibt keinen Zeus.

und des Weiteren:

Bei welchen Göttern schwörst du denn? Die Götter sind hier abgeschätzte Münze.

Bei Xenophon (ca. 428 – nach 355 v. u. Z.) hingegen erscheint er als ein religiöser Mensch, fromm und zu den Göttern betend. Wie jeder weiß, wurde Sokrates zum Tode verurteilt, er verwarf den sonst üblichen Weg der Flucht und trank den Becher mit dem tödlichen Gift. Ein früher Triumph der institutionellen Religion, aber die Bitternis des Schierlings durchzieht seitdem die Geschichte der Gottesanbeter und Gottesverteidiger.

Vielleicht doch noch einige Worte zu diesem erstaunlichen Sokrates. Die weit bekannte, oft missverstandene Aussage und aus aus unserer Zeit heraus vielleicht bemerkenswerteste Aussage von ihm lautet:

Ich weiß, dass ich nichts weiß.

Es ist klar, dass der Mann eine ganze Menge wusste. Und wir heute glauben noch sehr viel mehr zu wissen. Und doch kann man auch heute noch sich diesem Satz anschließen. Ich berufe mich hierbei auf den österreichisch-englischen Philosophen Sir Karl R. Popper, einen maßgeblichen Vertreter des kritischen Realismus, der sich mit den Erkenntnismöglichkeiten des Menschen beschäftigt hat und zu dem Schluss kam, dass wir niemals wissen können, ob wir im Besitz der Wahrheit sind(und somit nichts wissen in Bezug auf die Wahrheit). Unser Wissen ist immer nur vorläufig. Man sollte mithin sehr vorsichtig umgehen mit dem Begriff „Wahrheit“, das sei gerade auch den Theologen ans Herz gelegt, die damit so gern und großzügig umgehen.

Es gäbe noch mehr berichtenswerte Prozesse aus jener Zeit im alten Griechenland zu melden. Die Zahl der Atheisten in allen Gesellschaftsschichten ist beträchtlich, man macht sich darüber Sorgen. Auch Platon (428/427 – 348/347 v. u. Z.), der bis in unsere Zeit stark wirksame Philosoph. Er war ein entschiedener Gegner der Atheisten, er wird von Georges Minois der Vater der Intoleranz und der Unterdrückung des Atheismus genannt. Dieser für groß angesehene Philosoph, was er in Teilen seiner Philosophie auch wirklich ist, versetzt dem Atheismus einen bösen Schlag, der den Atheisten über die Jahrtausende hin einen Makel verleihen sollte, wenn auch ganz und gar zu Unrecht. Platon schwingt, zu allen Zeiten seither allseits recht beliebt, die Keule der Moral, indem er behauptet, Atheismus und Unmoral seien gleichzusetzen. Platons bekanntester Beitrag zur Philosophie des Abendlands ist wohl seine Ideenlehre. Mit ihr setzte er einen bis in unsere Zeit wirksamen Spaltpilz frei. Denn er verleiht seinen Ideen den Status einer realen Existenz in einer eigenen Welt, der jenseitigen Welt der Götter. Die bis dahin so sehr menschlichen griechischen Götter, die in der gleichen Welt angesiedelt waren wie die Menschen selbst, werden also in eine eigene Welt entrückt und gleichzeitig idealisiert. Die Götter sind vollkommen und gut, so Platons Lehre. Es gibt nun also eine ideale Welt der Götter und Ideen und eine im Unterschied dazu höchst unvollkommene Welt der Menschen. Die Gottlosen, lehrt der große Philosoph, sind nicht nur unmoralisch, sondern verbrecherisch und als Staatsfeinde anzusehen. Ja gar alle Menschen, die nicht der Linie der offiziellen Staatsreligion folgen, müssen nach seiner Ansicht bekämpft werden. Für die Atheisten, die er im Wesentlichen in zwei Lager einteilt, sieht er drakonische Strafen vor: diejenigen, die zwar einen untadeligen Lebenswandel führen, aber aus intellektuellen Gründen die Existenz der Götter leugnen, sind zu 5 Jahren Gefängnis zu verurteilen inklusive intensiver Belehrung in offenbar nächtlichen Sitzungen. Es ist also eine ordentliche Gehirnwäsche der Einsitzenden vorgesehen. Wer danach eventuell rückfällig wird, ist zum Tode zu verurteilen! Jene Ungläubigen, die über ihren Unglauben hinaus auch noch ein lasterhaftes Leben führen, sind in Lager inmitten des Landes zu verbannen. Wer im Zustand des Atheismus stirbt, dessen Leichnam soll unbestattet über die Grenzen des Landes geworfen werden! Das erinnert verblüffend an spätere Praktiken im Christentum! All dies kann man nachlesen in Platons Nomoi, den Gesetzen, im Buch X. Platon erweist sich hier als Erfinder der religiösen Intoleranz, der Inquisition und der Konzentrationslager!

In seinem Kampf gegen den zu seiner Zeit so verbreiteten Atheismus, durch den er Staat und Gesellschaft bedroht sieht, steht Platon vor einem unlösbaren Problem: die von ihm so gehassten Physiker forderten einen Gottesbeweis. Der Verweis auf die angebliche Unmöglichkeit einer Welterklärung aus Natur und Zufall, wie die Wissenschaftler seiner Zeit sie lehren, allen voran Demokrit mit seinem Atomismus, war da wenig hilfreich. Auch der Hinweis auf den Götterglauben aller Völker zu allen Zeiten hat natürlich keinerlei Beweiskraft. So wird seit Platons Zeiten der Tiger des Gottesbeweises erfolglos geritten. In tausenden von Jahren zeigt sich keinerlei Evidenz eines Gottes oder ähnlichen Wesens. Ein zweifelhaftes, durch die Jahrtausende wirkendes Verdienst Platons besteht darin, dass er dem Atheismus den Makel des Unmoralischen, Niedrigen und Verachtenswerten angeheftet hat. Sich hiervon entschieden zu distanzieren, ist es allerhöchste Zeit!

Platons Warnungen vor den Skeptikern und Atheisten konnten in den kommenden Krisenzeiten den Niedergang der traditionellen Religion nicht aufhalten. Die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen förderten den allgemein sich ausbreitenden Skeptizismus. Dichter wie Euripides (ca. 484 – 406 v. u. Z.) und Aristophanes mokierten sich über die Götter mit Sätzen wie

die Götter, was immer die Götter sein mögen oder Zeus, wer immer Zeus sein mag.

Die Sophisten gehen noch viel weiter und negieren den göttlichen Ursprung der Götter. So sagen einige, die Idee der Götter könnte im menschlichen Geist entstanden sein. So sieht es z. B. Prodikos aus Keos (ca.465 – nach 399 v. u. Z.). Kritias (ca. 460 – 403 v. u. Z.) lässt Sysiphos sagen, die Götter seien von einem sehr geschickten Mann erfunden worden, um die Menschen durch die Furcht vor Strafe zur Tugend anzuhalten. Andere sagen, die Götter seien vergöttlichte Menschen von einst, die ersten Wohltäter der Menschen. Der Sophist Euhemeros (ca. 340 – ca. 260v. u. Z.) ist für diese Ansicht ein gutes Beispiel, wie Georges Minois schreibt: Für Euhemeros seien die Götter bedeutende Menschen vergangener Zeiten gewesen, die nach ihrem Tod vergöttlicht wurden. Zeus sei einst ein weiser und wohltätiger Herrscher gewesen.

Diodoros, ein Vertreter dieses sogenannten Euhemerismus, fasst die Theorie wie folgt zusammen:

Die Götter haben auf der Erde gelebt, und wegen der Wohltaten, die sie den Menschen erwiesen haben, wurde ihnen die Ehre der Unsterblichkeit zuteil. Herakles, Dionysos, Aristaios sind Beispiele dafür. 7

Ende des 4. Jahrhunderts verschwinden die Prozesse wegen Gottlosigkeit und Atheismus. Die Stadtstaaten gehen zunächst im hellenistischen Reich auf, diesem folgt die Herrschaft des römischen Reiches. Aus der Vielfalt der damaligen Strömungen von Glauben, Aberglauben, Agnostizismus und Atheismus wollen wir zwei besonders hervorheben: den stoizistischen Materialismus zum einen und den moralischen Atheismus in Form des Epikureismus zum anderen.

Der Stoizismus knüpft insofern an die traditionelle griechische Religion an, als er den althergebrachten Monismus wiederherstellt und damit den platonischen Dualismus überwindet. Es wird eine Welt postuliert. Dabei handelt es sich um einen materialistischen Pantheismus ohne Götter. Die große Gottheit ist die weise und gütige Natur, von der der Mensch ein Teil ist. Außer dem erkennbaren Weltall besteht nichts. Es gibt keine Transzendenz. Man könnte den Stoizismus als Religiosität ohne Gott bezeichnen oder auch umgekehrt als religiösen Atheismus. So sieht es die französische Autorin Maria Daraki. Das gute Leben wird erreicht durch eine weitgehende Anpassung an die Natur. Selbstbeherrschung und Gelassenheit führen zur Weisheit. Daher die Redensart von der „stoischen Ruhe“. Der stoische Weise sieht sein Heil ganz und gar in der Hingabe an die Natur, wodurch er sich geradezu in einem göttlichen Zustand fühlt. Diese Einstellung entspricht überhaupt nicht mehr der traditionellen Anschauung von den Göttern. Bei den Christen wird der Stoizismus strikt abgelehnt werden, die Sakralisierung der Natur und damit quasi auch der Menschen ist ihnen ein Gräuel. Die Stoa wurde begründet von Zenon von Kition (333 – 264 v. u. Z.). Sie hat viele Denker und Politiker fasziniert, wie z. B. den römischen Philosophen und zeitweisen Erzieher von Kaiser Nero, Seneca (1 – 65 n. u. Z.). Auch der römische Kaiser Marc Aurel (121 – 180 n. u. Z.) sei noch als Vertreter der Stoa erwähnt.

Ist es beim Stoizismus noch eine Frage, inwieweit er dem Atheismus zuzurechnen ist – vom traditionellen Götterglauben ist er jedenfalls denkbar weit entfernt – so ist der Epikureismus eine entschieden atheistische Strömung, wenn auch Epikur (ca. 341 – ca. 271 v. u. Z.) selbst noch an den Göttern festhält. Sie führen aber nur noch eine formale Existenz, denn diese Götter haben weder die Welt erschaffen noch greifen sie in das Leben der Menschen ein. Mit dem Tod der Menschen endet auch deren Seele, lehrt Epikur, von einer Bestrafung oder Belohnung in einem irgendwie beschaffenen Jenseits kann somit keine Rede sein. Der Ursprung des Epikureismus kann in einer Reaktion auf die Angst vor den Göttern gesehen werden, in Göttern, die das Leben der Menschen geradezu vergiften! Der Glaube an die Götter ist durchaus mit Ängsten verbunden, lassen sich die göttlichen Reaktionen doch nicht vorhersehen. Die Götter sind mit ihren willkürlichen Eingriffen in das Leben der Menschen, ja ihrer Rachsucht unberechenbar und keineswegs gerecht.

Somit wäre die Ablehnung der Götter eine Art Auflehnung, eine Revolte gegen sie, die dem Menschen die eigene Gestaltung ihres Lebens verbieten und sie in Angst und Sklaverei halten. Diese Einstellung wird bei dem großen Nachfolger Epikurs, dem römischen Dichter Lukrez (99/94 – ca. 54 v. u. Z.), sehr deutlich. Die Religion mache den Menschen unglücklich, sagt er, da sie ihm einrede, Elend, Leid und Katastrophen würden von den Göttern wissentlich herbeigeführt. Für Lukrez hat Epikur die Menschen vor der Religion gerettet, er hat die Götter gestürzt und dem Menschen seine Würde wiedergegeben. Lukrez verfasste ein großes Lehrgedicht, das wunderbarerweise das christliche Mittelalter überlebte. (Siehe Abschnitt Renaissance.)

Der Epikureismus, so schreibt Georges Minois, ist tatsächlich der erste große Versuch einer atheistischen Moral, einer Moral, die auf dem einzig möglichen authentischen Wert einer menschlichen Welt ohne Gott beruht: dem Streben nach individuellem irdischem Glück. Das klingt in unseren Ohren recht modern! Dieses Glück besteht in der Abwesenheit von körperlichem Leiden und seelischer Unruhe, in der Ataraxie, d. h. dem Zustand ausgeglichener Weisheit. Das Streben nach Lust – wohlgemerkt nicht nach Wollust – soll den Weisen motivieren. Ein Leben der Leichtfertigkeit und Ausschweifung ist dabei ausgeschlossen, da ein solches mehr Übel als Vergnügen hervorbringt. Und man kann der Meinung sein wie z. B. Minois, die Lust, wie Epikur sie versteht, gleiche mehr der Askese als der Ergötzung. Diese epikureische Lust ist das Ergebnis einer klugen und feinen Dosierung, die, von allen praktiziert, zu einer vollkommenen, gerechten und ausgeglichenen Gesellschaft führe. So schreibt Epikur an einen gewissen Menoikeus u. a.:

Und eben weil die Lust das erste und angeborene Gut ist, entscheiden wir uns nicht schlechtweg für jede Lust, sondern es gibt Fälle, wo wir auf viele Annehmlichkeiten verzichten, sofern sich aus ihnen ein Übermaß von Unannehmlichkeiten ergibt, und andererseits geben wir vielen Schmerzen vor Annehmlichkeiten den Vorzug, wenn uns aus dem längeren Ertragen von Schmerzen so viel größere Lust erwächst. (…) Denn eine bescheidene Mahlzeit bietet den gleichen Genuss wie eine prunkvolle Tafel, wenn nur erst das schmerzhafte Hungergefühl beseitigt ist. (…) Wenn wir also die Lust als das Endziel hinstellen, so meinen wir damit nicht die Lüste der Schlemmer und solche, die in nichts als dem Genusse selbst bestehen, wie manche Unkundige und manche Gegner oder auch manche absichtlich Missverstehende meinen, sondern das Freisein von körperlichem Schmerz und von Störung der Seelenruhe. 8

Damit widerlegt Epikur klar Platons Formel: Gottlosigkeit gleich Unmoral! Aber: So anziehend Epikurs Lehre auch ist, so wird sie durch die Jahrhunderte paradoxerweise in völliger Verkennung ihrer positiven moralischen Einstellung als Gallionsfigur der Unmoral verschrien und beschimpft werden. Schon die Stoiker verleumden die konkurrierende Lehre, obwohl sie manches gemeinsam haben wie das Streben nach Übereinstimmung mit der Natur. Krass dagegen ist die Ablehnung der Christen, obschon die epikureische Lebensweise dem christlichen Asketentum gar nicht so fern steht. Das Christentum kann dem Epikureismus wohl nicht verzeihen, dass die Unsterblichkeit der Seele mit allen daraus sich ergebenden Folgerungen negiert wird. Die Abneigung geht schließlich soweit, dass von epikureischen Schweinen die Rede sein wird, wenn man eine nur etwas abweichende Strömung diffamieren will.

In den beiden letzten Jahrhunderten vor der Zeitenwende entwickelt sich eine Situation, die der heutigen, so meint Minois, in mancherlei ähnelt. Es kommt zu einer Zersplitterung der geistigen und religiösen Strömungen. Das römische Reich mit seinen vielen verschiedenen Völkern und Kulturen bringt es mit sich, dass die verschiedensten Glaubensrichtungen auf den Markt des Glaubens einströmen. Es gibt hunderte von Sekten, Religionen, spiritualistische und materialistische Denkschulen, neben dem wachsenden Atheismus der Intellektuellen wächst der Aberglaube des Volkes. Mitra, Isis, Osiris, Serapis, Kybele, Jupiter und viele weitere Gottheiten teilen sich mit astrologischen und magischen Vorstellungen den Markt ebenso wie mit dem jüdischen Monotheismus, den epikureischen, stoischen, platonischen wie neuplatonischen, kynischen und weiteren skeptischen Strömungen. In dieser Kakophonie, schreibt Minois, ist die offizielle griechisch-römische Religion nur noch ein formaler staatsbürgerlicher Rahmen, dessen Tempel und Zeremonien weiterhin die Landschaft prägen, jedoch eher als Dekor denn als anerkannte Wahrheit. Zwar spielen Priester, Auguren, Vestalinnen noch eine gewisse Rolle, aber sie ist stark verweltlicht.

Religionen ändern sich, kommen und gehen schon in der Antike, wie wir sehen, und wie sich Religion ändert, ändert sich auch der Atheismus. Es gibt eine unwandelbare und universelle Religion ebenso wenig wie einen universellen und unwandelbaren Atheismus. Der antike Atheismus lebt in den kosmologischen und philosophischen Vorstellungen des Altertums, er kann noch keine plausible Gesamterklärung der Welt ohne Gott geben. Der antike Atheismus wird eher als eine negierende, negative Variante von Religion empfunden und behält damit über die Jahrhunderte, ja bis heute den Anschein einer eher unwerten Lebenshaltung.

Ehe wir an dieser Stelle die griechisch-römische Antike verlassen, wollen wir doch noch einen kurzen Blick auf Indien werfen, wo vermutlich zwischen 320 und 180 v. u. Z. eine atheistisch-materialistische philosophische Schule mit hedonistischen Zügen entstand, die im 7. Jahrhundert u. Z. sich unter dem Namen Charvaka hervortat. Der Philosoph Dharmakirti nannte in einer seiner Schriften 5 irrationale Handlungsweisen:

Glaube an die Heiligkeit der Veden (heilige Schriften des Hinduismus)

Glaube an einen Schöpfergott

Baden in heiligen Gewässern als Verdienst

Kastenstolz

Buße für Sünden

Diese philosophische Schule legte Wert auf die Freiheit des Denkens, auf Wahrheit und Logik. Ein Leben nach dem Tod wird abgelehnt. Der Name dieser Schule ist untergegangen, aber auch heute gibt es in Indien noch viele Atheisten.



Eine kurze Geschichte des Atheismus

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