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König Ludwig II. hatte einen Vogel …
… aber verrückt, geistesgestört, paranoid und regierungsunfähig war er nicht: »Es ist schade, dass er Schrullen hat, es steckt viel in ihm«, sagte der Preuße Otto von Bismarck über den bayerischen König, und 125 Jahre mussten vergehen, bis einer der renommiertesten Psychiater Deutschlands, Prof. Dr. Heinz Häfner, das groteske Gutachten über den Geisteszustand Ludwigs II. nach allen Regeln der ärztlichen Kunst zerpflückt und in Luft aufgelöst hat. Weder nach den damaligen Erkenntnissen der noch jungen Psychiatrie und schon gar nicht nach dem heutigen Stand der Wissenschaften hätte Ludwig II. auch bei strengster Kritik seiner Schrullen und seines originellen Lebensstils für regierungsunfähig erklärt werden können. Und dann stelle man sich einmal vor, Ludwig hätte sich über den »schwärzesten Punkt« seines Lebens, über das »was verschwiegen werden muss, obwohl es von Mund zu Mund geht«, wie eine Zeitung 1886 schrieb, so geäußert wie es heute möglich ist: Er hätte sich auf die Treppe vor Schloss Neuschwanstein gestellt und wie der Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, in Kameras gesagt: »Ich bin schwul und das ist gut so!« Bis heute winden sich Ludwig-II-Biographen um die Homosexualität des Königs, als würde schon allein bei der Erwähnung des »heiklen Themas« das Königreich Bayern in einen Abgrund von Unmoral versinken! Jetzt erst, 125 Jahre nach seinem Tod, beginnt man zaghaft Leben, Werk und Wirken des populärsten Bayernkönigs neu zu bewerten. Wie ist es möglich, dass ein »weltfremder«, »menschenscheuer«, »einsamer«, »todessehnsüchtiger«, »verträumter«, zwischen »Mythos und Genialität« Schwebender und zutiefst in den Traumwelten von Lohengrin und Götterdämmerung Verstrickter, ein wirklichkeitsferner Phantast in der Lage war, wie ein knallharter Bauunternehmer einen Prachtbau nach dem anderen in die Landschaft zu stellen? Wie soll ein in »fortgeschrittenem Maße Seelengestörter« mit »Halluzinationen und Wahnvorstellungen«, mit einer »krankhaften Phantasie« Schlösser wie Linderhof, Neuschwanstein und Herrenchiemsee vom kleinsten Detail bis zur großartigsten Kulisse minutiös durchgeplant und ausgeführt haben? Nicht zu vergessen auch die Heerscharen von Künstlern und Handwerker, die von diesem »Verrückten« präziseste Anweisungen für ihre Arbeit bekamen. Kann ein Paranoider und vom Verfolgungswahn Gezeichneter jahrelang die Oberaufsicht über all diese »Kunstwerke von Weltrang« führen, die heute sogar auf die Liste der Weltkulturerbe gesetzt werden sollen? Reichskanzler Otto von Bismarck war da ein weitblickender Staatsmann gegenüber den engstirnigen bayerischen Politikern, die in ihren Entscheidungen nur an die nächste Wahl dachten: »Die Welt wird ihr Urteil über König Ludwig bedeutend ändern, wenn man nicht nur seine Kunstschöpfungen bewundert, sondern auch in seine staatsmännische Korrespondenz Einsicht nehmen kann.« Jetzt erst wird man sich bewusst, welch großartiges Geschenk von Ludwig II. und Richard Wagner es an die Stadt München gewesen wäre, wenn das Festspielhaus auf dem Isarhochufer neben dem Maximilianeum gebaut worden wäre, und wenn man Richard Wagner nicht nach Bayreuth vergrault hätte. Aber die kleinkarierten Entscheidungsträger von damals waren eben ahnungslose Kulturbaunausen: »Dies zeigen mir aufs neue die Vorschläge des Kultusministers. Ist ein größerer Unsinn je in eines Menschen Gehirn ausgebrütet worden?«, schrieb Ludwig 1865 an Wagner und wie in prophetischer Weitsicht: »Und wenn wir beide längst nicht mehr sind, wird doch unser Werk noch der späteren Nachwelt als leuchtendes Vorbild dienen, das die Jahrhunderte entzücken soll, und in Begeisterung werden die Herzen erglühen!« Und wie Ludwigs Werk uns heute entzücken würde, wenn man seinen phantastisch-märchenhaften Wintergarten auf dem Dach der Münchner Residenz nicht als blödsinniges Überbleibsel dieses »g’spinnerten Königs« einfach abgerissen hätte! Die Himalajalandschaft über dem Odeonsplatz, zu Ludwigs Zeiten ein »Europäisches Wunderwerk, wie es nichts ähnliches in der Welt gab«, wäre heute eine Touristenattraktion höchster Güte, um die München in aller Welt beneidet werden würde. Unter Bananenpalmen würden wie damals Schwäne ihre Dach-Teich-Runden drehen und grellbunte Papageien würden in goldenen Reifen schaukeln, genauso wie die spanische Prinzessin Maria de la Paz es 1883 beschrieb: »Ich war verblüfft, denn ich sah einen riesigen, auf venetianische Art beleuchteten Garten mit Palmen, einem See, Brücken, Hütten und schloßartigen Bauwerken. ›Geh‹, sagte der König und ich folgte ihm fasziniert in sein Paradies. Ein Papagei schaukelte sich in einem goldenen Reif und schrie mir ›Guten Abend‹ entgegen, während ein Pfau gravitätisch vorüber stolzierte.« Ja, König Ludwig II. hatte wirklich einen Vogel, dem er sogar das Sprechen beigebracht hatte: »Guten Abend!«
Vom Wintergarten auf dem Dach der Residenz ist heute nichts mehr zu sehen: Nach dem Tod Ludwigs II. wurde er abgerissen.