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Aus dem Exil zurück nach Herschmettlen

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Als am 26.Juni 1931 der jüngste Sohn von Hermine und Emil Zollinger-Hauser in Riedikon-Uster seinen ersten Schrei ausstösst, stehen fünf ältere Geschwister an seiner Wiege. Martha ist elfjährig, Otto ist neun, Hans sieben. Fritz ist fünf und Emil, genannt Migg, dreijährig. Das neu geborene Kind bekommt wie zahlreiche seiner Ahnen den Vornamen Jakob, wird in der Familie und unter Freunden aber ein Leben lang Kobi – oder Köbi – genannt.

Die Familie wohnt in der Ustermer Aussenwacht Riedikon, nicht in Herschmettlen. Wegen eines familiären Zerwürfnisses, dessen Ursprung auf den Herbst 1920 datiert ist, lebt sie sechs Jahre lang im Exil. Im besagten Jahr hat sich im Leben des jungen Vaters Emil Entscheidendes zugetragen. Zwei Kolporteurinnen der Vereinigung der ernsten Bibelforscher gehen in Herschmettlen von Haus zu Haus. Sie bieten das Buch Der göttliche Plan der Zeitalter an. Emil Zollinger kauft es. Dazu erhält er einen Handzettel mit der Einladung zur öffentlichen Vorführung des Photodramas der Schöpfung an vier Abenden im Gossauer Gasthaus Löwen. Emil geht hin und ist begeistert. «Was ich da hörte, war wirklich Neuland, war aufrüttelnd, packend, ein weites Tor biblischer Erkenntnis öffnete sich gleichsam», schreibt er in seinem Lebenslauf, den er 1966 mit 74 Jahren verfassen wird. Es folgen Nachvorträge mit Bibelauslegungen in Wetzikon. Emil schafft sich alle sieben Bände der Schriftstudien an und sammelt die Zeitschriften. Er schliesst sich der Oberländer Gruppe der Bewegung an. Und er vollzieht 1923 an der Hauptversammlung der Schweizer Bibelforschervereinigung, wie die Zeugen Jehovas damals noch heissen, in der Zürcher Stadthalle die Wassertaufe als öffentliches Bekenntnis zur Gemeinschaft. Seine Ämter in der Gemeinde, so das Präsidium des Musikvereins Gossau, gibt Emil Zollinger ab. Jetzt fühlt er sich frei für seine missionarische Arbeit. Seine Gattin Hermine duldet das Engagement widerspruchslos. Nach und nach macht sie selbst mit und lässt sich später auch taufen. Die Kinder Martha und Fritz schliessen sich zusammen mit ihren späteren Familien und Nachkommen ebenfalls den Zeugen Jehovas an. Hans und Migg stehen rasch abseits, und Otto und Kobi lavieren lange. Erst mit der Gründung seiner Familie distanziert sich Kobi endgültig. Obwohl Emil und Hermine tief überzeugt sind von ihrer Sache und weitherum im Oberland neue Glaubensgefährten anzuwerben trachten, akzeptieren sie, dass sich einzelne Kinder abwenden. Das bestätigen zwei spätere Schwiegertöchter: «Mein Schwiegervater ermunterte mich einmal, ebenfalls zu den Versammlungen nach Wetzikon zu kommen, mein Nein akzeptierte er aber klaglos. Und er hat mich nie wieder zu bekehren versucht», sagt Jakob Zollingers spätere Frau Elisabeth Zollinger-Anliker heute. Und ihre Schwägerin Carolina Zollinger-Acquistapace, die Ehefrau von Migg, machte exakt die gleiche Erfahrung.

Der Wandel seines Sohnes Emil zum religiösen Eiferer passt Vater Jakob ganz und gar nicht. Er hat gehofft, sein einziger Sohn würde eine politische Karriere machen. Immer heftiger lässt er Emil seine Abneigung gegenüber dessen Engagement spüren. Und dies, obwohl der Sohn alles unternimmt, um seine Pflichten auf dem Hof und innerhalb der Familie nicht zu vernachlässigen. 1924 eskaliert der Zwist. Jakob droht, Emils Familie vom Hof zu jagen. Auch mehrere Aussprachen mit dem Vater bringen für Emil keine Versöhnung. Mutter Anna-Julia steht unglücklich zwischen den Fronten und versucht nach Kräften, zu vermitteln und zu schlichten. Doch im Herbst 1925 sieht sie ein, dass es besser ist, wenn die junge Familie auszieht. Zwar ist ihr bang, mit ihrem griesgrämigen Gatten allein zurückzubleiben, doch sie denkt an das Wohlergehen ihrer drei Enkel und trennt sich schweren Herzens von ihnen.


Die Familie Zollinger 1924. Links Hermine und Emil Zollinger-Hauser, vorne das Grosselternpaar Anna und Jakob Zollinger-Bai. Dazwischen die kleine Martha und eine Schwester von Anna im Hintergrund.

Erste Station im Exil ist Ettenhausen-Wetzikon, wo die junge, mittlerweile fünfköpfige Familie eine preiswerte Wohnung findet. Doch ein halbes Jahr später zieht sie auf den Gossauer Berg weiter, weil Emil in der Schreinerei Trüeb in der Unterottiker Chindismüli eine Stelle gefunden hat. Nach der Geburt der Söhne Fritz und Migg zieht die Familie 1928 nach Nänikon. Emil arbeitet jetzt in einer Ustermer Holzbaufirma. Weil die Wohnung Mängel aufweist, ziehen sie aber bald nach Riedikon um, wo im Sommer 1931 ihr jüngster Sohn Kobi geboren wird.

Wenige Monate später erleidet Jakob Zollinger in Herschmettlen einen Schlaganfall, dem er Tage später erliegt. Jetzt stellt sich für Emil und seine Familie die Frage: Bleiben, wo sie sind, oder nach Herschmettlen zurückkehren? Emil würde gern bleiben, denn er hat in Uster eine ihm zusagende und gut bezahlte Stelle, der Patron will ihn auch nicht ziehen lassen. Doch Anna-Julia Zollinger möchte ihr Herschmettler Heim nicht verlassen. Und die Gossauer Behörden setzen sich dafür ein, dass Emil die Strassenwärterstelle seines Vaters bekommt, denn allein mit dem bescheidenen Hof lässt sich die neunköpfige Familie nicht durchbringen. So kehrt Emil mit Hermine und den sechs Kindern Anfang 1932 nach Herschmettlen zurück. Er ist verantwortlich für den Unterhalt der damals noch ungeteerten Staatsstrassen Herschmettlen–Birch, Fuchsrüti–Hanfgarten und Hanfgarten–Grund–Herschmettlen, zusammen rund sechs Kilometer. Damit wegen dieser ausserhäuslichen Arbeit Vieh, Äcker, Obstbäume, Wiesen, Weiden und Riedland nicht vernachlässigt werden, muss die Jungmannschaft tüchtig mithelfen. Kinderarbeit also zuhauf, damals so selbstverständlich wie nötig.

Die junge Familie wohnt nun also wieder in Herschmettlen, dieser etwas besonderen Siedlung weitab der grossen Oberländer Zentren. Ob es ein Dorf oder doch nur ein Weiler ist, ist umstritten. Anfang der 1930er-Jahre gibt es immerhin noch zwei Dorfwirtschaften, den «Sonnenhof» im Unterdorf und die Weinschenke gleich gegenüber dem zollingerschen Doppelhaus im Mitteldorf. Auch hat es einen Dorfladen für den täglichen Bedarf und eine Sennhütte zuunterst im Töbeli. Sie wird dann 1937 zusammen mit der Käserei in der Fuchsrüti stillgelegt, als die Herschmettler und die Fuchsrütler Bauern gemeinsam eine neue Käserei an der Hauptstrasse im Ermisriet bauen. An der Strassengabelung im Mitteldorf steht das stolze Schulhaus. Zum Schulkreis Herschmettlen gehören auch das Ermisriet im Westen und die Fuchsrüti im Süden sowie der Weiler Hellberg im Nordosten, hinter dem Sennwald. So hat Lehrer Emil Trachsler nicht selten um die fünfzig Schülerinnen und Schüler in seiner Schulstube zu belehren, zu bändigen und wenn nötig zu züchtigen.

Die Herschmettler Familien bilden zwei Gruppen: die Bauern und die Fabrikarbeiter. Selbstständige Handwerker gibt es kaum, dafür fehlt die Kundschaft. Wer keinen eigenen Hof hat, arbeitet auswärts in einer Fabrik, hauptsächlich in der Schraubenfabrik Frey in Wändhüsle-Bubikon oder in der «Hösli», der Papierhülsenfabrik Robert Hotz und Söhne beim Bahnhof Bubikon. Nicht wenige der Fabrikarbeiter haben zu Hause noch ein Stück Land hinter dem Haus und halten ein Schwein, ein Rind oder ein paar Ziegen. Die Bauern gehen einer körperlich anspruchsvollen Arbeit nach: Kuh- und Ochsengespanne dominieren, Maschinen, welche die Arbeit erleichtern würden, gibt es noch nicht. Es kommt zu Rivalitäten und kleinen Reibereien zwischen den Bauern und den Fabrikarbeitern. Die Bauern beneiden die «Fabrikler» um ihre geregelten Arbeitszeiten und ihren bescheidenen Ferienanspruch. Die Arbeiter missgönnen den Bauern wiederum ihre Freiheiten und die reichhaltiger ausfallende Selbstversorgung. Doch die kleinen Sticheleien hindern die Frauen und Männer nicht daran, wöchentlich die Proben des Frauen- und Töchterchors beziehungsweise des Männerchors in Ottikon zu besuchen, anschliessend kehren sie jeweils gemeinsam ein.

Die Herschmettler gelten seit jeher als eigenwilligste Dorfgemeinschaft in Gossau mit einem starken Zusammenhalt. Das gilt bis heute. Zusammen mit Bertschikon, Grüt und Ottikon gehört Herschmettlen zu den Gossauer Aussenwachten. Der Bezug zum Gemeindezentrum ist lose. Gossau ist weit weg. Man geht dort in die Sekundarschule, man besucht sonntags allenfalls den Gottesdienst in der Kirche oder bemüht sich, an einer Gemeindeversammlung teilzunehmen. Die Bauern holen im Lager der Landwirtschaftlichen Genossenschaft auf dem Gossauer Berg ihren Dünger und ihr Saatgetreide. Sonst aber arbeiten die Herschmettler, wenn auswärts, dann in Bubikon. Für Einkäufe sind Wetzikon, Rüti und selbst das Städtchen Grüningen attraktiver. Und das Tor zur weiten Welt sind in dieser noch fast autolosen Zeit der Bahnhof Bubikon oder das Bahnhöfli der Wetzikon-Meilen-Bahn in Unterottikon.

So orientieren sich die Herschmettler, wenn auch in kleinräumigen Verhältnissen zu Hause, doch nach allen Himmelsrichtungen. Topografisches Symbol für diesen Blick hinaus in die Welt ist der Gerbel, ein runder, etwas quer in der durch Eis und Schnee gestalteten Landschaft liegender Moränenhügel. Er liegt auf der Wasserscheide von Glatt und Jona und exakt auf der Gemeindegrenze zwischen Gossau und Bubikon. Es ist ein Ort, von dem aus der Blick über mehr als ein Dutzend Kirchtürme im Oberland, am Greifensee, am Pfannenstiel und am Südufer des Zürichsees schweift. Hier auf diesem Hügel hütet Kobi Zollinger zusammen mit seinem Bruder Migg schon als kleiner Bub Kühe. Es mag sein, dass er deswegen zeitlebens den Gerbel als Zentrum seines Fühlens, Denkens und Handelns beschreibt. Sinnigerweise steht dort oben heute eine Ruhebank zu seinen Ehren, und sein wunderbar gezeichnetes Panorama lädt Wanderer dazu ein, die Gipfel der Glarner- und Innerschweizer Alpen benennen zu lernen. Schon als kleiner Junge setzt sich Kobi in den Kopf, all die Gipfel, die er vom Gerbel aus sehen kann, einmal in seinem Leben zu besteigen. Ein Vorhaben, das der begeisterte Berggänger dann auch umsetzt.

Jakob Zollinger

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